Lerngröße Eins
Warum der Lerner im Mittelpunkt stehen muss, es heute aber nicht tut
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Wenn Digitalisierung für etwas steht, dann ist es die „Individualisierung“. Amazon, Netflix oder Spotify sind deshalb so erfolgreich, weil sie uns besser kennen als wir selbst und uns genau das anbieten, was wir gerade brauchen. Wir erleben eine Art Schlaraffenland des Konsums, in dem sich unsere Vorstellungen quasi von allein – aber natürlich kostenpflichtig – erfüllen. Nächste Station: „wunschlos glücklich“ – macht nur € 9,95 pro Monat. Vom Müsli bis zum Turnschuh wird zunehmend alles auf uns maßgeschneidert, das individuelle Angebot ist das entscheidende Alleinstellungsmerkmal.
Stellen Sie sich vor, Sie bestellen einen Neu- wagen für fünfzigtausend Euro, und der Verkäufer erklärt Ihnen, dass es nur das Standardmodell gebe und Sie lediglich entscheiden können, welche Farbe der Wagen haben soll. Schwarz, silber und grau sind die Optionen. Schwer vorstellbar, nicht wahr? Dann beginnen Sie einmal ein Hochschulstudium! Vom Wert her ist ein solches im internationalen Vergleich ungefähr mit dem Wert eines Neuwagens gleichzusetzen. Sie werden genau die beschriebene Situation vorfinden. Von der Schule oder der Berufsausbildung ganz zu schweigen.
Dabei ist es doch gerade die Qualifikation – insbesondere in Digitalthemen –, die den wesentlichen Wettbewerbsvorteil bietet. Schon heute siedeln sich zunehmend Unternehmen dort an, wo sie (noch) gut ausgebildete Mitarbeiter zu (noch) angemessenen Konditionen einstellen können. Die Verfügbarkeit von qualifizierten Arbeitskräften mit Digitalkompetenz wird zum entscheidenden Standortfaktor.
Auch heutzutage steht immer noch nicht der Lernende im Mittelpunkt – sondern der Lehrende. Dreißig Schüler sitzen vor einem Lehrer, hundert Studenten hören einem Profes- sor zu. Ich empfinde das als eine verkehrte Welt. Eigentlich müssten zehn Lehrer einen Schüler betreuen, zehn Professoren einen Studenten. Der Lernende gehört ins Zentrum: Zum einen ist er faktisch der Kunde – wenn auch nicht stets der Bezahlende. Zum anderen stellt er das Ergebnis der Dienstleistung dar. Der Kfz-Mechaniker wird ja auch daran gemessen, ob das Auto am Ende repariert ist und wieder fährt oder nicht.
Dieser aus meiner Sicht überfällige Shift von einer angebots- zu einer nachfrageorientierten Bildung ist weder ein kleiner Schritt, noch ein leichter. Aber es ist die konsequente Fortsetzung der Digitalisierung: Digitales Lernen ist eben nicht nur das Aufsetzen von Videokonferenzen und das Streamen von YouTube-Videos. Vielmehr geht es um die ganzheitliche Ausrichtung von Formaten, Zeitplänen, Inhalten, Methoden und, last but not least digitale Technologieunterstützung des einzelnen Lerners und seiner individuellen Bedürfnisse.
Denn – und ich glaube auch, dass das eine Folge der Digitalisierung ist – am Ende geht es darum, die knappe Ressource „Digitalarbeiter“ quantitativ und qualitativ maximiert auszubilden. Und dies bedeutet eben insbesondere, jeden Menschen gemäß seiner individuellen Leistungsfähigkeit optimal zu qualifizieren. Es ist zwar schön, wenn ich mit digitalen Fabriken meine Produkte in Losgröße Eins herstellen kann, aber das ist gar nichts, verglichen mit der Ambition, in digitalen Bildungswelten einen Menschen nach seiner individuellen „Lerngröße Eins“ zu qualifizieren. Lassen Sie uns alle genau daran arbeiten.