Von Tankstellen zu Knotenpunkten – Kilowatt statt Kilometer
Sandra Ehlen, Chefredakteurin IM+io

Stellen wir uns eine Welt vor, in der Tankstellen überflüssig sind. Wunschdenken? Droh-szenario? Nein! Konsequente nachhaltige Digitalisierung unserer Mobilität. Wir werden weiterhin Autos fahren, das steht außer Frage, aber Autos werden Teil unseres Energiesystems. Nicht heute, jedoch mit Sicherheit. Klingt utopisch? Wir werden sehen!
Die Automobilbranche steckt mitten im größten Umbruch ihrer Geschichte: Digitalisierung, Klimaziele und alternative Mobilitätskonzepte, kombiniert mit immer kürzeren Entwicklungszyklen, zwingen Unternehmen, sich neu zu erfinden und von alten Geschäftsmodellen zu lösen. Die Zuliefernden stehen teilweise vor der Insolvenz und Energieunternehmen vor der Herausforderung, Infrastruktur neu zu definieren. Fahrzeugherstellende werden zu Softwareunternehmen, Stromanbietende zu Mobilitätsdienstleistenden, und was früher nur ein Fortbewegungsmittel war, wird jetzt ein rollendes Datenzentrum mit eigener Energieversorgung und gleichzeitig Energiespeicher und Versorgungseinheit für unsere Haushalte.
Die Energiewende, angetrieben durch den Ausbau erneuerbarer Energien, erfordert Offenheit und verändert die Art und Weise, wie wir Energie erzeugen, speichern, verteilen und vielleicht auch denken. Doch mit dieser Veränderung wachsen auch die Herausforderungen. Erneuerbare Energiequellen sind grün und nachhaltig, jedoch volatil. Im Dezember 2024 haben wir erlebt, dass Dunkelflauten zu Herausforderungen im Stromnetz führen. Es braucht somit flexible, intelligente Netze, die den steigenden Bedarf mit schwankendem Angebot in Einklang bringen. Die Mobilitäts- und Energiewende sind daher zwei untrennbare Entwicklungen, die gemeinsam gedacht werden müssen. Es reicht nicht, nur Fahrzeuge zu elektrifizieren – die gesamte Infrastruktur muss sich anpassen, um Mobilität und Energieversorgung zukunftsfähig zu machen.
Doch der Wandel ist nicht trivial. Früher baute man Autos, und die entscheidende Frage lautete „Benzin oder Diesel?“. In der Zukunft ist die Antriebsform allerdings nicht mehr das zentrale Thema. Die wahre Revolution passiert unter der Oberfläche – in Software-, Daten- und Energiearchitekturen. Dabei handelt es sich nicht um Science Fiction, sondern um reale technologische Entwicklungen.
Vehicle-to-Grid (V2G) ist das perfekte Beispiel: Autos, die nicht nur Strom verbrauchen, sondern ihn auch ins Netz einspeisen. Klingt smart? Ist es auch. Doch dafür müssen Automobilkonzerne, Energieversorger und digitale Plattformen zusammenarbeiten – ein ungewohntes Spielfeld für Branchen, die bisher kaum Berührungspunkte hatten.
Die große Herausforderung besteht aus meiner Sicht darin, dass Unternehmen nicht nur neue Technologien entwickeln, sondern sich und ganze Wertschöpfungsketten transformieren müssen. Denn während viele noch an Reichweitenangst und Ladesäulenförderung festhalten, sind die eigentlichen Innovationen längst da. Beispielsweise hat Großbritannien der ersten Automobilmarke eine Netz-Zertifizierung zugesprochen, um bidirektionales Laden zu ermöglichen. Einen Schritt weiter geht das Gemeinschaftsunternehmen ChargeScape, das eine Softwareplattform entwickelt hat, die eine drahtlose Kommunikation zwischen Elektrofahrzeugen und Versorgungsunternehmen ermöglicht. Diese Plattform verwaltet das Laden zu Hause und ermöglicht die Rückspeisung von Energie in das Netz während Zeiten hoher Nachfrage.
Die Vision einer digitalen, grünen und mobilen Zukunft ist greifbar – sie erfordert jedoch einen radikalen Perspektivwechsel. Der Erfolg wird darin bestehen, Mobilität und Energie gemeinsam zu betrachten. Das bedeutet Schluss mit Insellösungen, und her mit echten Ökosystemen. Warum nicht Autos als rollende Datenzentren betrachten und mit passender Plattformstrategie denken? Wer erfolgreich sein will, muss den Mut haben, alte Strukturen infrage zu stellen und neue Wege zu gehen. Auf diese Weise kann man gestärkt aus der Energiewende hervorgehen. Mut zum Perspektivwechsel.