Ich bin viele und wenn ja, wer?
MehrWerth: die Kolumne von Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Dirk Werth ist seit 2016 Chefredakteur der IM+io. In der Kolumne „MehrWerth“ schreibt er in pointierter Form Meinungsbeiträge zum Schwerpunktthema des Heftes und stellt diese zur Diskussion.
Zugegeben, auch wenn dieser Titel eher eine gespaltene Persönlichkeit vermuten lässt, so geht es doch tatsächlich um die Digitalisierung. Jene Digitalisierung nämlich, die zu einer Vervielfältigung unseres Ichs führt. Durch uns bewusst oder unbewusst gesteuert, führen digitale Technologien nämlich unbestritten zum digitalen Alter Ego – aber zu wie vielen eigentlich?
Jedes Amazon, Google oder Zalando dieser Welt führt uns alle als digitales Abbild, das unsere Präferenzen vielleicht sogar bereits besser kennt als wir selbst. Wer im Internet unterwegs ist und sich dabei schon einmal selbst gegoogelt hat, findet heraus, dass es mittlerweile auch dort mehrere Rollen zu geben scheint: die Spuren, die ich beruflich hinterlasse, in Netzwerken wie Xing und LinkedIn; die Spuren, die ich privat hinterlasse, zum Beispiel auf Amazon oder auf Twitter. Zusammen betrachtet sagen sie etwas über mich und mein Leben aus, bilden es ab. Es ist mein digitaler Zwilling, der datenbasierte Spiegel meines analogen Seins. Aber wie viele bin ich eigentlich?
Es gibt Gerüchte über Menschen, die haben keinen Facebook Account, kein Konto bei Google und auch nicht bei Amazon. Vielleicht ist es wahr, aber lassen Sie uns einmal überlegen, was das bedeutet: Ein Leben ohne digitalen Zwilling. Was genau geschieht, wenn die digitale Existenz unbekannt ist? Stellen Sie sich vor, Sie erhalten eine Bewerbung auf eine freie Stelle in Ihrem Unternehmen. Googlen Sie diesen potenziellen Mitarbeiter mit dem hervorragenden CV und den vielen Top-Positionen zuerst, um mehr über ihn zu erfahren, noch bevor Sie ihn kontaktieren? Was aber geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie nichts finden? Nichts! Wenn es keine digitalen Spuren gibt, keine Google-Einträge, keinen LinkedIn Account? Denken Sie, dass dieser Mensch überhaupt existiert oder ist es vielleicht ein Fake? Ein Leben ohne digitalen Zwilling wird immer unwahrscheinlicher, bedeutet er doch die Eintrittskarte in die digitale Welt. Anmeldung ohne Facebook Account? Nicht möglich! Bezahlung nur via Amazon Checkout oder gar nicht.
Digitale Spuren werden zur Referenz der realen Welt, für Bewerber gilt dies gleichermaßen wie für Fabriken, in der Produktion, der Entwicklung, entlang der gesamten digitalisierbaren Wertschöpfungskette.
Im ersten Schritt geht es nur um das digitale Abbild. Aber was, wenn diese digitale Repräsentation mein reales Leben zunehmend zu beeinflussen sucht? Wenn mir mein Einkaufsportal nur noch jene Produkte anzeigt, die zu meinem Profil passen und mein Smart-TV für mich jene Sendungen auswählt, die meinem digitalen Zwilling gefallen würden. Wer ist dann überhaupt noch das eigentliche, steuernde Original und wer die gesteuerte Kopie?
Es besteht kaum Zweifel: Weit weg sind wir von diesem Szenario, von dieser Fragestellung nicht mehr. Der digitale Zwilling vervollständigt uns nicht, er bestimmt zunehmend unsere Existenz. Wollen wir das wirklich? Mein digitaler Zwilling sagt JA!