Digitaler Durchblick
Mit der VR-Brille zur virtuellen Inspektion von industriellen Anlagen
Tomas Cerniauskas, Dirk Werth, August-Wilhelm Scheer Institut
Kurz und Bündig
In einem gemeinsamen Innovationprojekt haben der Entsorgungsverband Saar und das August-Wilhelm Scheer Institut eine digitale Lösung für die virtuelle Inspektion von Abwasseranlagen entwickelt. Grundsätzlich müssen Abwasseranlagen regelmäßig befahren werden, um sicherzugehen, dass die Betriebssicherheit dieser kritischen Infrastruktur sichergestellt ist. Mit einer Virtual Reality Brille und der Technologie des digitalen Zwillings wird eine ortsunabhängige Inspektion möglich, die Fahrtwege und Zeit einspart sowie den CO2-Ausstoß vermindert. Damit stellt der Entsorgungsverband Saar die Betriebssicherheit der Abwasseranlagen sicher und reduziert gleichzeitig den Betriebsaufwand.
Kläranlagen, Pumpwerke und Abwasserkanäle haben eine wichtige Funktion in unserer Gesellschaft und sind daher der kritischen Infrastruktur zuzuordnen. Entsprechend müssen die Abwasseranlagen optisch regelmäßig inspiziert und auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft werden. Ein Aufgabenbereich, der Abwasserorganisationen mit einem großen Versorgungsgebiet und einer hohen Anzahl an Anlagen einen enormen Betriebsaufwand verursacht. Zusammen mit dem Entsorgungsverband Saar (EVS) setzt man eine digitale Lösung zur ortsunabhängigen Inspektion von Abwasseranlagen um. Ein Lösungsansatz, der die Betriebssicherheit sicherstellt und gleichzeitig den Betriebsaufwand reduziert.
Der Entsorgungsverband Saar verantwortet ca. 140 Kläranlagen, 293 Pumpwerke und ein Kanalnetz von rund 1.100 Kilometern. Je Anlage werden durchschnittlich ein bis zwei Inspektionen pro Woche durchgeführt, was auf ein Jahr hochgerechnet 52 bis 104 Routineinspektionen bedeutet. Während die Zentralkläranlagen mit Personal besetzt sind, müssen abgelegene Trabantenkläranlagen für eine Begutachtung befahren werden. Diese Prozedur hat im Wesentlichen eine optische Inspektion zum Inhalt, die die Betriebssicherheit eines Pumpwerks oder einer Kläranlage gewährleistet. Für die Kläranlage Böckweiler, die dreimal im Monat befahren wird, fallen 936 Kilometer Fahrtweg und rund 120 Stunden an Arbeitszeit im Jahr an. Ein Prozess, der das Betriebspersonal der Hauptkläranlagen erheblich beansprucht und das Bewältigen von zu priorisierenden Aufgaben erschwert.
Mit einer Virtual Reality-Brille und einem digitalen Zwilling zur virtuellen Inspektion
Um dieser Herausforderung zu begegnen, arbeiten das August-Wilhelm Scheer Institut und der Entsorgungsverband Saar gemeinsam an einer digitalen Lösung zur virtuellen Inspektion der Abwasseranlagen. Dies wird mit Technologien der Virtual Reality und einem digitalen Zwilling, einem digitalen Abbild einer realen Anlage (z.B. CAD-Modell), realisiert.
Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Das Betriebspersonal der Hauptkläranlage muss eine Routineinspektion für eine abgelegene Kläranlage durchführen. Für gewöhnlich fahren die Mitarbeitenden dafür vor Ort und sehen sich die Anlage mit eigenen Augen an, überprüfen die Gegebenheiten und den Zustand der Anlage. Anstatt sich jedoch in das Auto zu setzen und den Reiseweg auf sich zu nehmen, kann nun mit Einsatz der oben genannten Technologien die Anlage ortsunabhängig inspiziert werden. Dafür muss sich das Personal nur eine Virtual Reality Brille aufsetzen, über die eine rundum Ansicht der Anlage möglich wird.
Sensoren und eine 360°-Kamera ermöglichen dann die zeitgleiche und sofortige Ansicht der zu inspizierenden Anlage. Der Blick durch die Virtual Reality-Brille vermittelt dem Personal so das Gefühl, tatsächlich vor der Kläranlage zu stehen. Es wird also der Vorteil der Immersion ausgespielt, die eine Virtual Reality Technologie in sich birgt. Man meint damit das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung, die als real empfunden wird. Exakterweise würde man in diesem Projekt sogar von Augmented Reality sprechen, da man nicht in eine virtuelle Umgebung eintaucht, wie es bei einem Computer-Spiel der Fall ist, sondern in die tatsächliche Realität, die um digitale Elemente ergänzt ist.Der EVS zeigt sich vom Einsatz der Virtual Reality-Brille überzeugt. Was das im Detail bedeutet, wird im folgendem an einem gemeinsamen Pilotprojekt verdeutlicht:
Um den Betriebszustand der Anlage zu erfassen, wurde im gemeinsamen Pilotprojekt ein digitaler Zwilling einer Klärschlammanlage in Homburg konstruiert, mit dem in Interaktion getreten werden kann. Über die VR-Brille und den dazugehörigen VR-Controllern klickt der Anwender auf einzelne Bauteile, zu denen die Betriebsdaten in Echtzeit angezeigt werden. Die Einsicht in die Betriebsdaten der Anlage werden von visuellen Dashboards unterstützt, die das Monitoring vereinfachen. Sowohl die Echtzeit- als auch die historischen Daten (Betriebsdaten der letzten sieben oder der letzten 30 Tage) sind verfügbar und fördern damit die Vergleichbarkeit und die Bestimmung von Zusammenhängen.
Die Bild-, Video- und Betriebsdaten werden über eine zentrale Datenbank (Cloud) abgerufen, die als Schnittstelle für alle oben beschriebenen Funktionen erforderlich ist.
Am Beispiel der Klärschlammanlage werden alle zehn Sekunden aktuelle Daten von 71 Sensoren hochgeladen, die am Ende des Tages 630.720 Daten ergeben. Damit diese Datenmengen das Betriebspersonal nicht überfordern, werden die historischen Daten aggregiert. So bekommt ein Betriebsleiter, der die Temperatur einer Brennkammer der vergangenen 30 Tage kontrollieren möchte, für jeden Tag den Mittelwert angezeigt. Somit wird dem Betriebsleiter die Übersicht erleichtert und die zu speichernde Datenmenge reduziert. In Abbildung 1 wird das beschriebene Konstrukt dieser Lösung schematisch dargestellt.
Betriebssicherheit und Reduzierung des Betriebsaufwands als Kundennutzen
Der EVS hat im Pilotprojekt für sich einen Mehrwert erkannt und überträgt diesen Lösungsansatz auf eine Kläranlage und ein Pumpwerk. Im Wesentlichen profitiert der EVS von der Sicherstellung der Betriebssicherheit seiner Abwasseranlagen bei einer gleichzeitigen Reduzierung des Betriebsaufwands. Im Kontext von Abwasseranlagen soll die Betriebssicherheit die Gefährdung der Umwelt ausschließen. Fällt beispielsweise eine Drosseleinrichtung für die Weiterleitung des Abwassers aus, sind umweltschädliche Belastungen in Gewässern die Folge. Während man also zuvor ein- bis zweimal die Woche vor Ort diesen Gefahrenquellen nachgegangen ist, kann das nun jederzeit und ortsunabhängig über eine VR-Brille bewerkstelligt werden. Insbesondere die Häufigkeit des „Draufschauens“ ist hier von Vorteil, da bei der hohen Anzahl an Anlagen eine regelmäßige Inspektion auch mal zu kurz kommen kann und bei gravierenden Unwetterereignissen sich ein schneller Blick durch die Brille lohnt. Nichtsdestotrotz werden Fahrten zu den Abwasseranlagen nicht komplett ausbleiben, so beispielsweise bei Wartungsarbeiten oder bei der Probeentnahme des Abwassers für die Laboranalyse.
Gleichzeitig wird mit der ortsunabhängigen Vorgehensweise der Betriebsaufwand reduziert. Zwar sind die Einsparungen in der Zeit und den Fahrtkosten für die zwei Anlagen geringfügig, dennoch resultieren sie als Vorteile aus der ortsunabhängigen Inspektion. Aus ersten Ergebnissen einer Wirtschaftlichkeitsanalyse geht hervor, dass für die betreffende Kläranlage (13 km einfache Fahrt) und das Pumpwerk (8 km einfache Fahrt) bereits 56 Stunden Reisezeit im Jahr eingespart werden können. Bei einer Pauschale von 30 Cent pro Kilometer sind die eingesparten Fahrtkosten mit 425 € zu beziffern. Deutlich attraktiver wird die Einsparung der Fahrtkosten, wenn sie auf weitere Abwasseranlagen skaliert wird. Rechnet man mit den 92 Trabantenkläranlagen beim EVS, die bei durchschnittlich zehn Kilometern (einfache Fahrt) viermal im Monat inspiziert werden müssen, steigen die Fahrtkosten in einen moderaten fünfstelligen Betrag. In Zusammenhang mit den Fahrtkosten wurde auch die CO2-Emission einbezogen. Unter Zuhilfenahme eines Berechnungsmodells für den CO2-Ausstoß, das vom Institut für Energie- und Umweltforschung im Auftrag des Bundesumweltamtes erstellt wurde, können für die beiden Anlagenbauten (Pumpwerk und Kläranlage) jährlich 300 kg CO2-Ausstoß eingespart werden. Die Einsparung von knapp 50 kg CO2-Emission entspricht ca. einer Strecke von München nach Stuttgart.
Im weiteren Verlauf der Wirtschaftlichkeitsbetrachtung werden Daten zu qualitativen Kriterien erhoben. Hierbei wird die Bedeutung der digitalen Lösung für das Unternehmen und für die Mitarbeiter untersucht. Unter anderem erfragt man die Akzeptanz und Benutzerfreundlichkeit der digitalen Lösung bei den Mitarbeitern.
Vision und Ausblick
Zusammen mit dem Entsorgungsverband Saar wird an der Weiterentwicklung der virtuellen Inspektionslösung gearbeitet. Während beim Pilotprojekt eine manuelle Analyse des Betriebszustands der Klärschlammanlage erfolgte, wird zunehmend auf eine automatisierte Überwachung und Analyse hingearbeitet. Hierzu wird die Cloud-Architektur, die bereits die integrierten Betriebsdaten enthält, um regelbasierte Algorithmen bzw. Verfahren der künstlichen Intelligenz angereichert. Im aktuellen Projekt wird für die virtuelle Inspektion eines Pumpwerks eine KI-Analyse für die Pumpenlaufgeräusche entwickelt. Erkennt die künstliche Intelligenz Anomalien in den Pumpenlaufgeräuschen, werden die jeweiligen Sequenzen dem Inspizierenden zur Verfügung gestellt, der anhand der „Hörprobe“ den Zustand der Pumpe interpretieren kann. Das hat den Hintergrund, dass erfahrene Mitarbeitende bereits mit ihrem Hörsinn erkennen können, ob eine Abwasseranlage funktionstüchtig ist. Gemeinsam mit unseren Praxispartnern sollen weitere nutzenstiftende KI-Datenservices in der Anlagenüberwachung entwickelt werden.
Erfahrenes Betriebspersonal vertraut bei der Inspektion der Abwasseranlagen also nicht nur auf die visuelle Wahrnehmung, sondern auch auf den Gehör- und den Geruchsinn. Unter dem Schlagwort „Virtual Senses“ wird darauf hingearbeitet, diese Sinne in die virtuelle Inspektion zu überführen. Während mit der Virtual Reality-Brille der optische Sinn bereits adäquat abgedeckt ist, wird mit der KI-Analyse der Pumpenlaufgeräusche ein erster Ansatz für die Integration der auditiven Wahrnehmung verfolgt.
Im aktuellen Lösungsansatz erblickt der Betriebsleiter die Abwasseranlage aus der Perspektive einer 360° -Kamera. Falls keine weiteren Kameras angebracht sind, ist die Wahrnehmungsmöglichkeit auf eine Perspektive beschränkt. Wenn also das Bild auf die Vorderseite einer Klärschlammanlage ausgerichtet ist, dann bleibt die Rückseite für eine optische Inspektion unberücksichtigt. Für die virtuelle Inspektion der Zukunft wird eine dreidimensionale Wahrnehmung der Anlage verfolgt, sodass man sich im virtuellen Raum frei bewegen und die Anlage aus weiteren Perspektiven begutachten kann.
Dieser Ansatz eröffnet in der Remote Inspektion und Wartungsarbeit neue Möglichkeiten des hybriden Arbeitens. Bei den aktuellen Lösungen auf dem Markt werden für die Remote Inspektion digitale Medien wie Augmented Reality (AR) Brillen, Tablets oder Smartphones eingesetzt, um beispielsweise einen Wartungsarbeiter vor Ort mit einem Mitarbeiter aus dem Innendienst zu verbinden. Über die AR-Brille sieht der Kollege im Backoffice durch die Augen des Wartungsarbeiters vor Ort und kann ihm Anweisungen und Markierungen auf die Brille übermitteln und ihn somit bei der Wartungsarbeit unterstützen. Der neue Hybrid-Ansatz geht einen Schritt weiter: Durch die dreidimensionale Begehungsmöglichkeit über die VR-Brille kann ein Mitarbeiter aus der Ferne als Hologramm auf der AR-Brille des Wartungsarbeiters vor Ort erscheinen. Obwohl beide räumlich getrennt sind, arbeiten sie gemeinsam an der Anlage, als würden sie physisch unmittelbar nebeneinander stehen.
(Bildquelle: AdobeStock | 382960876 | Monopoly919)