Industry goes Metaverse
Die Verschmelzung realer und virtueller Industriewelten am Beispiel der Abwasserwirtschaft
Tomas Cerniauskas, Dirk Werth, August-Wilhelm Scheer Institut
(Titelbild: Adobe Stock | 164572599| Werner)
Kurz & Bündig
Das Metaverse hat eine neue Dynamik rund um die Technologien Virtual und Augmented Reality ausgelöst. Während private Anwender und die Kreativbranche die Potenziale von Virtual Reality bereits zu nutzen wissen, agiert die Industrie aktuell noch recht verhalten und sieht den Mehrwert vor allem in Augmented Reality. Ein gemeinsames Innovationsprojekt des Entsorgungsverband Saar und des August-Wilhelm Scheer Instituts verdeutlicht das Potenzial von Augmented Reality und VR-Brillen für die virtuelle Inspektion von Abwasseranlagen.
Die Freunde zum Einkaufen treffen, ein Konzert besuchen und sich zur gemeinsamen Sporteinheit verabreden – das alles und einiges mehr wird virtuell im Metaverse möglich. Bislang macht sich vor allem die Kreativbranche das Potenzial der virtuellen Welten zu Nutze. Doch das Metaverse kennt keine Grenzen, und die neu entstandene Dynamik wirft die Frage auf, inwieweit auch die Industrie von den Potenzialen virtueller Welten profitieren kann. Bisher ist es die erweiterte Realität, Augmented Reality (AR), die in der Industrie als nutzenstiftend erkannt wird. Die Kombination aus Virtual Reality (VR) und Augmented Reality (AR) entfaltet neue Möglichkeiten für Industriebetriebe. So zum Beispiel durch die virtuelle Inspektion unbemannter Anlagen. Ein Projekt welches, der Entsorgungsverband Saar (EVS) gemeinsam mit dem August-Wilhelm Scheer Institut in die Praxis umgesetzt hat.
Mit Meta hat der Facebookgründer Mark Zuckerberg die Vision einer gemeinsamen virtuellen Welt offenbart, in der man seine Freunde treffen, an Events teilnehmen, Sport treiben und sogar einkaufen kann. Ein Konzept, das bereits 1992 in einem Science-Fiction-Roman zum Ausdruck kam und von Experten heute als die nächste Entwicklungsstufe des Internet bezeichnet wird [1]. Gemeint ist die 3D-Interaktion im Internet. Mit seiner Ankündigung hat Meta den Technologien rund um die „Extended Reality“ (Oberbegriff für VR/AR/Mixed Reality (MR)) eine neue Dynamik verliehen. Ein strategischer Schachzug, der auch darauf abzielt, das Tochterunternehmen Oculus als Geschäftsfeld ertragreich auszubauen. So lag die Downloadzahl der Oculus-App zum Jahreswechsel 2021/22 bei 1,8 bis 2 Millionen. Ein Indikator, welcher auch auf hohe Verkaufszahlen von VR-Brillen hinweist [2]. Auch in Deutschland hat die Verwendung von VR-Brillen zugenommen, wie aus einer Umfrage des Branchenverbands Bitkom hervorgeht. Neben den 17 Prozent der Befragten, die bereits eine VR-Brille nutzen, können sich weitere 23 Prozent vorstellen, künftig damit die virtuelle Realität zu erkunden. Ganze 18 Prozent der Befragten sind sich sicher, in Zukunft mit einer VR-Brille zu arbeiten [3].
Obwohl die Potenziale des Metaverse sehr visionär wirken, gibt es schon heute eine große Zahl von Anwendungen in der virtuellen Realität. Zwar liegt der mehrheitliche Nutzen in Computer- und Videospielen (77 Prozent), virtuelle Anwendungen kommen jedoch auch heute bereits in den Bereichen Entertainment (Bereisen von Orten, Filme, Musikkonzerte), Sport (37 Prozent) und Bildung (16 Prozent) zum Einsatz. Die genannten Anwendungsszenarien machen deutlich, dass derzeit vor allem die privaten Anwender sowie die Kreativbranche von der virtuellen Realität und ihren Möglichkeiten profitieren. Der Gebrauch im beruflichen Kontext beziehungsweise in der Industrie fällt mit sieben Prozent hingegen noch gering aus. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass die Anwendungsmöglichkeiten für Kollaboration, Konstruktion und Schulung hier nicht einbezogen wurden. Vielmehr erweist sich die Technologie rund um Augmented Reality, das heißt die Wahrnehmung der Realität, ergänzt um digitale Elemente, als nutzbringend für die Industrie. Ein Einsatz dieser Technologie bietet sich beispielsweise bei der Fernunterstützung von Wartungsarbeiten oder in der Kommissionierung und bei der Montage an. Obwohl eine geschlossene Brille (VR-Brille) überwiegend im Rahmen künstlich geschaffener Welten, zum Beispiel in Videospielen, Anwendung findet, kann sie auch für reale Tätigkeiten genutzt werden. Dies nutzt der Entsorgungsverband Saar, der gemeinsam mit dem August-Wilhelm Scheer Institut eine Lösung für die virtuelle Inspektion von dezentralen Abwasseranlagen entwickelt hat.
Herausforderungen beim Entsorgungsverband Saar (EVS)
Der Entsorgungsverband Saar ist für circa 140 Kläranlagen, 293 Pumpwerke und 625 Regenüberlaufbecken verantwortlich. Je Anlage werden ein bis zwei Inspektionen pro Woche durchgeführt, die sich im Jahresverlauf auf bis zu 104 Routineinspektionen vor Ort summieren. Während die Zentralkläranlagen mit Personal besetzt sind, müssen abgelegene Trabantenkläranlagen für eine Begutachtung befahren werden. Die Prozedur hat im Wesentlichen eine optische Inspektion zum Inhalt, welche die Betriebssicherheit von Pumpwerken und Kläranlagen sicherstellen soll. Dieser Prozess beansprucht die Zeit des Betriebspersonals erheblich und bündelt die Ressource Arbeitskraft in Routineinspektionen.
Eine VR-Brille als Lösungsansatz
Um dieser Herausforderung zu begegnen und den Inspektionsprozess effizienter zu gestalten, wurde eine Lösung für die virtuelle Inspektion umgesetzt. Der entwickelte Lösungsansatz setzt sich aus einer VR-Brille, Sensoren und einer 360° Kamera sowie einer Datenschnittstelle zusammen. Das folgende Szenario beschreibt das Zusammenwirken und die Funktion dieser Komponenten: Das Betriebspersonal der Haupt-kläranlage muss eine Routineinspektion für eine abgelegene Kläranlage durchführen. Für gewöhnlich fahren die Mitarbeitenden dafür vor Ort und betrachten die Anlage mit eigenen Augen, überprüfen die Gegebenheiten und den Zustand der Anlage. Anstatt sich jedoch in das Auto zu setzen und den Fahrtweg auf sich zu nehmen, kann nun, mit Hilfe der oben beschriebenen Lösung, eine ortsunabhängige Inspektion vorgenommen werden. Dafür bedient sich das Personal einer VR-Brille und verbindet sich mit einer am Inspektionsort angebrachten 360° Kamera. Diese ermöglicht die Ansicht der zu inspizierenden Anlage in Echtzeit. Der Blick durch die VR-Brille vermittelt dem Personal das Gefühl, tatsächlich vor der Kläranlage zu stehen. Es wird also der Vorteil der Immersion, des Eintauchens in die (virtuelle) Umgebung, genutzt, den eine VR-Brille möglich macht.
Um den Betriebszustand einer Anlage vollständig beurteilen zu können, bedarf es zugleich der Einsicht in die Betriebsdaten. Die Konstruktion eines digitalen Abbilds (in der Fachsprache auch digitaler Zwilling genannt), erlaubt die Interaktion mit der Anlage in der VR-Applikation. Klickt der Anwender mit den zugehörigen VR-Controllern auf eine Komponente der Anlage, werden die Betriebsdaten in Echtzeit angezeigt. Die Analyse der Daten wird um visuelle Dashboards ergänzt, die das Monitoring vereinfachen. Die Bild-, Video- und Betriebsdaten werden über eine zentrale Datenbank (Cloud) abgerufen. Abbildung 1 veranschaulicht die Einsicht in die Betriebsdaten einer Klärschlammanlage, wie sie in einem ersten Pilotprojekt umgesetzt wurde.

Betriebssicherheit und Reduzierung des Betriebsaufwands als Kundennutzen
Der Entsorgungsverband Saar hat im Pilotprojekt einen Mehrwert erkannt und überträgt den entwickelten Lösungsansatz auf eine Kläranlage und ein Pumpwerk. Im Wesentlichen profitiert er von der Sicherstellung der Betriebssicherheit seiner Abwasseranlagen bei einer gleichzeitigen Reduzierung des Betriebsaufwands. Im Kontext von Abwasseranlagen soll die Betriebssicherheit die Gefährdung der Umwelt ausschließen. Fällt beispielsweise eine Drosseleinrichtung für die Weiterleitung des Abwassers aus, sind umweltschädliche Entlastungen in umliegende Gewässer die Folge. Während man zuvor jede Woche einmal hinausgefahren ist, um diesen Gefahrenquellen nachzugehen, kann dies nun regelmäßig und ortsunabhängig über eine VR-Brille erfolgen. Die Häufigkeit der Inspektionen ist hier von Vorteil, denn insbesondere im Falle von Unwetterereignissen lohnt sich ein schneller Blick durch die Brille. Nichtsdestotrotz werden Fahrten zu den Abwasseranlagen erforderlich bleiben. So beispielsweise bei Wartungsarbeiten oder zur Entnahme von Proben für die Laboranalyse. Dennoch wird mit der ortsunabhängigen Vorgehensweise bei Inspektionen der Betriebsaufwand reduziert. So wurde unter der Heranziehung von Parametern wie der Entfernung und der monatlichen Frequenz an Inspektionen der Betriebsaufwand für 100 Anlagen errechnet. Im Ergebnis lagen 86.400 km Fahrtweg, 1.760 h Fahrtzeit und 18.352 kg CO2 vor. Jede Fahrt, die eingespart wird, reduziert gleichzeitig den Zeitaufwand sowie die CO2-Emissionen, die durch die Inspektion anfallen.
Neue Potenziale des kollaborativen und hybriden Arbeitens
Wenngleich die virtuelle Inspektion von unbemannten Anlagen zunächst im Mittelpunkt des Projekts steht, führen Herausforderungen wie beispielsweise der Fachkräftemangel dazu, dass kollaboratives Arbeiten und die Ausschöpfung von zentralisiertem Wissen als Lösungsansätze zunehmend in den Vordergrund rücken. Was das bedeuten kann, zeigen Anwendungsfälle von AR-Brillen, die für die remote Assistenz eingesetzt werden. Befindet sich beispielsweise ein Wartungsarbeiter oder eine Wartungsarbeiterin mit einer Datenbrille auf einer Anlage, die repariert werden muss, und benötigt dabei Unterstützung durch einen Arbeitskollegen oder eine Arbeitskollegin in der Ferne, also beispielsweise in der Betriebszentrale, können diese ihm oder ihr mit ihrem Wissen weiterhelfen. Über einen Bildschirm kann alles optisch wahrgenommen werden, worauf die Datenbrille ausgerichtet wird. Gleichzeitig können Anweisungen über das Mikrofon sowie über visuelle Reize, zum Beispiel Pfeile auf der Datenbrille, gegeben werden. Das Metaverse eröffnet mit seiner dreidimensionalen Interaktion neue Möglichkeiten des kollaborativen beziehungsweise hybriden Arbeitens. Zieht man das eben beschriebene Szenario der Fernunterstützung noch einmal heran und stattet die unterstützende Person in der Zentrale zusätzlich mit einer VR-Brille aus, dann ist folgendes Szenario denkbar: Während der Wartungsarbeiter vor Ort weiterhin mit einer AR-Brille im Einsatz ist, kann sich der Experte aus der Ferne mit einer VR-Brille auf die Anlage zuschalten und sie dreidimensional begehen. Unter dieser Gegebenheit ist es möglich, dass die Person vor Ort den Backoffice-Kollegen oder die Backoffice-Kollegin als Hologramm über die Datenbrille wahrnimmt. Obwohl sie physisch voneinander getrennt sind, arbeiten sie dennoch gemeinsam an der Anlage. Eine Vision, die sicherlich nach Science-Fiction klingt, im Kontext von Metaverse jedoch durchaus denkbar ist.