Mein Zwilling geht für mich zum Arzt
Die Potentiale und Hürden des Digital Twins in der Medizin
im Gespräch mit Tobias Heimann, Siemens Healthineers
(Titelbild © AdobeStock | 397746856 | Svitlana)
Kurz & Bündig
Siemens Healthineers ist eines der größten Unternehmen im Bereich Medizintechnik und arbeitet stets an neuen Innovationen, wie dem digitalen Patientenzwilling. Die Umsetzung dieser Technologie ist höchst komplex und erfordert daher eine große Menge an Daten und Informationen. Zukünftig könnte diese Technologie die Medizinbranche revolutionieren und sowohl in der Prävention als auch in der Therapie eingesetzt werden. Bereits heute kann der digitale Zwilling dabei helfen, Behandlungen zu beschleunigen und präziser zu machen. Zwilling Menschenleben.
Der Digital Twin ist schon längst nicht mehr nur in der Industrie ein heißes Thema. Auch die Gesundheitsbranche beschäftigt sich intensiv mit dem Nutzen und den Potentialen des digitalen Zwillings. Dabei reichen die Vorteile von einer effektiveren Behandlung des Individuums bis hin zur Prävention von Krankheiten. Bei Siemens Healthineers nutzt man modernste Technologien und künstliche Intelligenz, um eine Version des digitalen Zwillings zu realisieren. Wie genau das funktioniert und ob wir bald alle eine digitale Kopie unseres Körpers haben werden, erfahren Sie im Gespräch mit Dr. Tobias Heimann.
Herr Heimann, Siemens Healthineers ist eines der führenden Unternehmen in der Gesundheitsbranche und Vorreiter, wenn es um die Digitalisierung der Medizin geht. Könnten Sie kurz erläutern, an welchen Produkten und Innovationen Siemens Healthineers im Moment arbeitet?
TH: Das lässt sich pauschal gar nicht so einfach beantworten. Unsere 66.000 Mitarbeiter weltweit beschäftigen sich mit unterschiedlichen Themen. Das fängt beim klassischen Imaging-Segment an, also Geräten, die medizinische Bilder aufnehmen, wie zum Beispiel Magnetresonanztomographen, Computertomographen, Ultraschallgeräte oder Röntgengeräte. Wir haben auch eine Labordiagnostiksparte, um Blutproben analysieren zu können. Außerdem haben wir uns seit einem knappen Jahr mit dem US-Unternehmen Varian zusammengeschlossen, welches eine feste Größe auf dem Gebiet der Strahlentherapie darstellt. Dies wird uns gerade im Kampf gegen den Krebs mehr Schlagkraft verleihen. Zudem haben wir eine Advanced Therapies Einheit, die sich mit bildgestützten Interventionen bei Tumoren oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen beschäftigt. Bei dieser Einheit spielt auch das Thema Robotik eine wichtige Rolle.
Ein weiterer zentraler Bereich, der in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen hat, ist die Softwareentwicklung. Heutzutage funktioniert keine Hardware ohne die passende Software. Die dafür notwendigen Technologien, an denen wir arbeiten, um Ärztinnen und Ärzte bei der Interpretation der Daten zu unterstützen, veröffentlichen wir heute auch als rein digitale Lösung, als Software. Sie sehen, unser Portfolio umfasst ein sehr breites Spektrum, das von der Früherkennung über die Diagnostik bis hin zur Therapie reicht.
Eine besonders spannende Innovation, an der Sie auch beteiligt sind, ist der medizinische Digital Twin. Vielen Menschen ist der Begriff digitaler Zwilling hauptsächlich aus der Industrie bekannt, doch nun gewinnt das Konzept auch in der Medizin an Popularität. Welche Ziele verfolgen Sie mit der Entwicklung eines solchen digitalen Zwillings?
TH: Der digitale Zwilling, Sie haben es bereits angesprochen, kommt aus der Industrie und wird dort hauptsächlich verwendet, um beispielsweise die Produktion von bestimmten Anlagen zu optimieren und bereits vor dem Bau der eigentlichen Fabrik basierend auf einem Computermodell potentielle Probleme und Engpässe zu erkennen. Gleichzeitig können Produktionsprozesse in Echtzeit überwacht werden. Wenn es Schwierigkeiten geben sollte, wird am digitalen Zwilling nach einer Lösung gesucht und diese letztlich auf die echte Anlage angewendet.
In der Medizin verfolgen wir im Prinzip dasselbe Ziel, nur dass wir hier nicht über Industrieanlagen sprechen, sondern über Patientinnen und Patienten. Das Stichwort lautet dabei „personalisierte Medizin“. An eine Untersuchung angeschlossen ist immer die Überlegung, welche die beste Möglichkeit zur Behandlung eines Patienten oder einer Patientin ist.
Der digitale Zwilling zielt genau hierauf ab: Patientinnen und Patienten zu einer maßgeschneiderten Therapie zu verhelfen. Wir wollen weg von der Massentherapie und hin zu einer möglichst individuellen Behandlung.
Idealerweise könnte man den Zwilling nicht nur zur Behandlung von Krankheiten einsetzen, sondern eben auch dafür, Krankheiten zu verhindern. Wenn man im digitalen Modell erkennen würde, dass eine gesundheitliche Gefahr für die Patientin oder den Patienten droht, wäre es möglich, Präventivmaßnahmen einzuleiten. Das würde viele Vorteile mit sich bringen: Menschen blieben länger gesund und gleichzeitig würden Krankenhäuser entlastet werden.
Das ist allerdings höchst komplex. Denn wenn eine Fabrik oder Industrieanlage schon komplex ist, dann ist es der menschliche Körper erst recht. Vor allem, da viele Funktionen des Körpers im Detail noch gar nicht genau von der Wissenschaft verstanden werden. Dies sind natürlich die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, wenn wir einen digitalen Patientenzwilling bauen möchten.
Trotz dieser Herausforderungen arbeitet Siemens Healthineers bereits an der Umsetzung eines digitalen Zwillings, welche Prozessschritte müssen durchlaufen werden?
TH: Insgesamt lässt sich der Prozess in drei Schritte aufteilen: Der erste Schritt ist das Sammeln von Daten und Informationen über den Patienten oder die Patientin. Wir möchten ja eine Entscheidung für eine individuelle Person treffen. Damit das funktioniert, muss man erst einmal so viel wie möglich über diese Person wissen. Dabei helfen uns beispielsweise die Scanner, die Bilder vom Patienten beziehungsweise der Patientin aufnehmen, und zum anderen die Befunde aus der Labordiagnostik, beispielsweise nach einer Blutabnahme. All diese Informationen sind die unterschiedlichen Puzzleteile, die zusammengeführt ein Gesamtbild des Patienten oder der Patientin entstehen lassen. Diese Informationen werden dann integriert und zusammengefasst. Schlussendlich lassen wir Algorithmen über die Daten laufen, um noch mehr Informationen aus ihnen herauszuholen. Das ist die erste Komplexitätsstufe.
In der zweiten Stufe versucht man, anhand dieser Daten vorherzusagen, wie sich eine Krankheit bei einem Patienten oder einer Patientin entwickeln wird.
Die dritte und komplexeste Stufe zielt darauf ab, zu prognostizieren, wie der oder die Betroffene auf eine bestimmte Therapie ansprechen wird. Mit diesem Wissen kann letztlich die optimale personalisierte Therapie ausgewählt werden.
Herr Heimann, nun, da wir wissen, wie das Ganze in der Theorie funktioniert, kommen wir zur Praxis. Haben Sie vielleicht ein konkretes Beispiel für uns, wie jemandem mit Hilfe Ihres digitalen Zwillings geholfen werden konnte?
TH: Wir arbeiten stetig an Prototypen zu verschiedenen Anwendungen und führen Studien mit unseren klinischen Partnern durch.
Wenn es um die erste Stufe geht, also Daten aufzunehmen, zu integrieren und zu interpretieren, haben wir bereits Produkte auf den Markt gebracht, von denen Patientinnen und Patienten heute schon profitieren können.
Um ein Beispiel zu nennen: Wir haben seit ein paar Jahren bei unseren CT-Scannern zusätzlich eine kleine Kamera unter der Decke eingebaut, die sozusagen auf den Scanner „draufschaut“. Wenn sich nun ein Patient oder eine Patientin auf den Tisch legt, dann wird sie oder er von der Kamera erkannt und vermessen. Es wird untersucht, wie groß und wie schwer die Person ist und in welcher Position sie auf dem Tisch liegt. Diese ganzen Informationen werden dann dazu genutzt, den Scan zu optimieren. Bei der Computertomographie ist es zum Beispiel sehr wichtig, dass die Person möglichst im Zentrum der Röhre liegt. Dadurch, dass bestimmte Parameter des Patienten oder der Patientin bereits mithilfe der Kamera erfasst wurden, kann sich die Maschine automatisch auf die zu untersuchende Person einstellen, was dazu führt, dass die Bilder besser werden und gleichzeitig eine geringere Strahlendosis benötigt wird.
Noch ein weiteres Beispiel: Im Bereich der Softwarelösungen haben wir eine Linie von Produkten, die unter dem Label AI Rad Companion laufen. Diese Softwarelösung unterstützt Radiologinnen und Radiologen, indem sie automatisch im Hintergrund die Aufnahmen untersucht und auf Auffälligkeiten überprüft. Wenn etwas gefunden wird, werden diese Daten automatisiert dokumentiert. Der Arzt, beziehungsweise die Ärztin, erhält also einen Zugewinn an Informationen.
Kundinnen und Kunden haben uns schon berichtet, dass bei der Untersuchung von Personen ein Tumor durch die Software entdeckt worden ist, der vorher nicht bekannt war und auch nicht vom Radiologen gefunden wurde. In solchen Fällen kann man natürlich sagen, dass der digitale Zwilling auch Patientenleben retten kann.
Sehr spannend, der digitale Zwilling scheint eine Unmenge an Potential zu haben! Jedoch sprachen Sie davon, dass noch Vieles in der Entwicklung steckt. Wie ausgereift ist die Technologie Stand heute?
TH: Die Technologie für bestimmte Anwendungen ist ausgereift, aber viele Dinge können und müssen noch verbessert werden. Bei Siemens Healthineers schauen wir immer, was wir denn mit den aktuellen Technologien jetzt schon umsetzen können, und versuchen, unsere Lösungen so schnell es geht auf den Markt bringen, damit Ärzte und Ärztinnen und Patienten und Patientinnen davon profitieren können.
Die Vision von einem ganz umfassenden Patientenmodell, welches auf Interventionen durch OPs oder Medikamente et cetera reagieren kann, ist Stand heute noch nicht umsetzbar. Teilweise fehlt einfach noch das Verständnis dafür, wie unser Körper funktioniert. Allerdings muss man aber auch festhalten, dass auf diesem Gebiet unheimlich viel geforscht wird. Und wir erhalten stetig neue Erkenntnisse. Insgesamt ist jedoch noch eine ganze Menge Luft nach oben, bis man einen kompletten digitalen Zwilling des Menschen anfertigen kann.
Würden sie dann überhaupt der Aussage zustimmen, dass in Zukunft jeder von uns einen digitalen Zwilling haben wird, der uns ein Leben lang begleitet, oder wäre das eine Utopie?
TH: Zurzeit ist dies noch eine Utopie, aber ich glaube, irgendwann in Zukunft wird es so kommen. Daher ist die Frage nicht ob, sondern wann? Technologie entwickelt sich nicht linear, sondern es gibt immer wieder Sprünge. Plötzlich ist man viel weiter als eigentlich gedacht, aber genauso kann es Blockaden geben: Das Ziel ist fast erreicht und dann kommt man trotzdem nicht weiter. Deswegen ist es schwer zu prognostizieren, wann genau ein solcher Zeitpunkt erreicht werden könnte. Wir arbeiten immer mit dem, was gerade jetzt möglich ist und versuchen, Schritt für Schritt voranzugehen und die Anzahl der Applikationen stetig auszubauen – zum Wohle der Patientinnen und Patienten