„Wir wollen Gepäck mit mehr Intelligenz versehen!“
Im Gespräch mit Uwe Clausen, Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML)
Kurz und bündig:
Das Fraunhofer IML engagiert sich insbesondere in den Bereichen Verkehr und Logistik. 2017 hat das Institut das für den Flugverkehr wichtige Forschungsvorhaben „Smart Baggage Services 4.0“ vorgestellt. Dabei werden Mobilität und Logistik gemeinsam betrachtet. Eine Zielsetzung des Projektes ist eine passagierunabhängige Haus-zu- Haus-Transportkette, bei der die Dienstleister des Luftverkehrs und der Logistik zusammenarbeiten. Der digitale Zwilling eines Koffers bietet in diesem Kontext einen deutlichen Mehrwert.
Das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik, IML, verfügt in den Bereichen Verkehr und Logistik über ein breites, aktuelles und dynamisches Forschungsfeld. Im Gespräch mit dem Institutsleiter, Prof. Dr. Uwe Clausen, haben wir mehr über praxisnahe Forschungsprojekte erfahren – zum Beispiel auch darüber, warum der digitale Zwilling eines Koffers neue Marktchancen eröffnen kann.
IM+io: Herr Prof. Clausen, Sie engagieren sich im IML insbesondere in den Schwerpunktthemen Verkehr und Logistik. Können Sie uns Beispiele für Projekte aus diesen Bereichen geben?
UC: Ich greife gerne zwei Themen heraus, die wir aktuell verfolgen. Im Bereich der Mobilität engagieren wir uns in dem Verbundprojekt RadAR+. Bei diesem Reiseassistenzsystem geht es um die Fragen, wie sich Reisende orientieren und wie sich die Themen Technologie und Verhalten entlang einer Reisekette besser verstehen lassen. Es sollen Lösungen entwickelt werden, mit denen man auf der einen Seite individuelle Personen, die z. B. verschiedene Verkehrsmittel entlang eines Weges benutzen, mit Hilfe eines Mobilitätsagenten mit Hinweisen versorgen kann. Wir glauben, dass dies ein Themenfeld ist, bei dem man komplizierte, dynamische Umgebungen besser erlebbar macht. Andererseits gilt es auch dazuzulernen, wenn es um die Gestaltung von Bahnhöfen, Flughäfen und anderen Verkehrsknoten geht. Dort sollen Leistungsfähigkeit, Sicherheit und die Effizienz verbessert werden. Was aber verstehen wir unter einem Mobilitätsagenten? Wir kennen alle Reise-Apps, mit denen man sich von Tür zu Tür bewegt und unterwegs nachschaut, wann man den nächsten Anschluss hat. Die Frage ist nun aber, inwieweit man einen Teil dieser Suche personenbezogen vorwegnehmen kann. Inwieweit kann man also eine Reise begleiten, und dann, wenn ein Anschluss nicht erreicht wird, oder ein Zug Verspätung hat, schon Vorschläge unterbreiten, die auch die persönliche Präferenz mitberücksichtigen. So wie ein guter Freund und Mitreisender, der bestens informiert ist, einem Hinweise gibt, so können das möglicherweise zukünftig auch Assistenzsysteme. Dabei geht es um Herausforderungen aus IT und Logik und auch darum, die passenden Anzeigemöglichkeiten zu finden, um die individuelle Aufnahmefähigkeit nicht zu überfordern, etwa mit einer Datenbrille. Mit RadAR+ sind wir in einem ganz grundsätzlichen Forschungsfeld unterwegs und arbeiten mit mehreren Partnern in Hessen zusammen, um das Wissen aus den verschiedenen Disziplinen zu kombinieren und gemeinsam zu nutzen. Das Projekt wird eine ganze Branche beleben, in der sich neue Mobilitätsformen bedarfsabhängig kombinieren lassen. In einem anderen Projekt geht es um ein sehr aktuelles Problem im Straßengüterverkehr, nämlich die Verfügbarkeit und das Auffinden von gemeinhin knapp bemessenen LKW Parkplätzen. In dem Projekt Intelligent Truck Parking kümmern wir uns mit mehreren Partnern aus IT, Spedition und Wissenschaft darum, Parkraumdaten übergreifend besser verfügbar zu machen. Es gibt bereits Verkehrsmanagementzentralen und auch digitale Daten über den fließenden Verkehr. Aber im Bereich des ruhenden Verkehrs, also der verfügbaren Parkplätze, ist das noch wenig integriert und überregional verfügbar. Jetzt, am Anfang des Projektes, befassen wir uns zunächst mit den Daten, später geht es um die Services, die man daraus erstellen kann.
IM+io: Ein deutlicher Schwerpunkt Ihrer Forschung liegt im Bereich des Flugverkehrs. Da geht es unter anderem um die Steigerung der Ressourceneffizienz in der Luftfrachtabfertigung. Wo liegen hier die konkreten Herausforderungen?
UC: Es gibt an den Flughäfen dieser Welt mehrere Abfertiger für Luftfracht. Wettbewerb ist einerseits etwas Gutes, andererseits haben wir auch festgestellt, dass man bei der Nutzung von Ressourcen noch Verbesserungspotenziale im Sinne der Effizienz hat. Die lassen sich heben, wenn man bei der Verteilung von Luftfracht auf die Flächen und auf die Bearbeiter neue kooperative Wege geht, bis hin zu der Zentralisierung gewisser Ressourcen, wenn man etwa Luftfrachtcontainer zentral bereitstellt. Tatsächlich treffen wir dabei aber auch auf Hürden, es sind rechtliche Fragen zu klären und auch solche mit Blick auf den Wettbewerb. Aber es zeichnet sich deutlich ab, dass gerade in der Logistik Kooperation ein Weg sein kann, um Ressourcen noch effizienter zu nutzen. Um Ressourceneffizienz geht es auch bei einem Konsortialprojekt für den Frachtflughafen in Doha, Katar, wo wir als wissenschaftliche Berater gefragt sind. Es handelt sich um die Erweiterung des vor drei Jahren in Betrieb gegangenen Terminals. Unser Wissen über Prozesse in der Luftfracht ist dabei ebenso gefragt wie unsere kreativen Ideen bei der Kombination von bereits vorhandener Infrastruktur mit neu konzipierter und zu bauender Infrastruktur. Wir haben in Doha ein perfektes Testfeld für Ressourceneffizienz, denn beide Terminals werden eng aufeinander abgestimmt.
IM+io: Im April 2017 hat das Fraunhofer IML das ebenfalls für den Flugverkehr wichtige Forschungsvorhaben „Smart Baggage Services 4.0“ vorgestellt. Was verbirgt sich dahinter?
UC: Smart Baggage 4.0 ist ein ganz spannendes Feld, bei dem Mobilität und Logistik gemeinsam betrachtet werden. Die aktuelle Situation ist die, dass das Gepäck gemeinhin mit dem Passagier reist, von ihm aufgegeben und wieder abgeholt wird. Die interessante Frage ist jetzt, welche Vorteile es hätte, wenn wir Gepäck mit mehr Intelligenz versehen und damit Menschen Alternativen zu dem Selbstbringen und Selbstabholen ermöglichen. Wir wissen aus Befragungen, wie attraktiv es für Passagiere wäre, wenn der Koffer schon zu Hause oder im Hotel aufgegeben werden könnte und man am Ende einer Reisekette seinen Koffer nicht selbst abholen müsste, sondern dafür Logistik-Services zur Verfügung stünden. Der Ausgangspunkt für uns ist also gewesen, die Möglichkeiten zu erforschen, wie ein Passagier seinen Koffer auf seinem Hotelzimmer oder in der Kreuzfahrtschiffkabine finden kann – auch nach einer Anreise mit dem Flugzeug – ohne dass er selbst das Gepäckstück bewegt hat. Eine Haus-zu-Haus- Transportkette, bei der die Dienstleister des Luftverkehrs und der Logistik zusammenarbeiten, das ist eine Zielsetzung des Projektes. Die andere ist, Fehler im Gepäckhandling zu minimieren, die aufgrund der Komplexität des Prozesses immer wieder vorkommen. In dem Moment, wo der Zielpunkt und die Identität eines Gepäckstücks besser erkannt werden, kann die Abwicklungsqualität deutlich erhöht werden. Über den Gedankengang, dass sich ein Gepäckstück selbst identifiziert, seinen Zielort selbst kennt und entsprechend kommuniziert, ist die Idee des digitalen Zwillings gereift. Bei dem digitalen Zwilling eines Gepäckstücks handelt es sich dann um sein vollständiges Abbild, in dem auch die Geometrie, der Zeitpunkt der Produktion, der Aufenthalt, die Optik und andere Eigenschaften digital vorhanden sind. Man kann damit den Lebenszyklus eines solchen Koffers verfolgen und entlang dieses Lebensweges auch das Thema Sicherheit betrachten oder auch die Frage, wann er wo beschädigt wurde, nachverfolgen. Das Ganze ist verknüpft mit einer Permanentidentität. Solange der Koffer im Besitz einer Person ist, ist diese auch dem Eigentümer zugeordnet. Dann kann man neben der Tür-zu- Tür-Logistik auch darüber nachdenken, welche zusätzlichen Services möglich sind. So könnte man z. B. aufgrund der Bewegungs- und damit Verschleißdaten Vorschläge zum Austausch des Koffers unterbreiten. Ein solches Angebot kann dann die Beziehung von Hersteller und Kunden neu definieren, bis hin zu einem Leasingmodell. Der konkrete Nutzen des digitalen Zwillings erstreckt sich also über viele Bereiche. Die eine Idee ist die Logistik entlang der persönlichen Reisekette unabhängig von der Reisekette des Koffers zu betrachten. Dabei geht es darum, dessen Ortung, dessen Scan, dessen Verfolgung zur Destination zu unterstützen und damit Fehlerquellen zu minimieren. Es gibt aber weitere nützliche Einsatzszenarien. Wer etwa mit seinem Koffer und damit limitiertem Gepäckvolumen und -gewicht unterwegs ist, kann mit dem digitalen Zwilling über einen Algorithmus prüfen, welches Gewicht oder Volumen noch aufgenommen werden kann, oder auch nicht. Voraussetzung dafür ist, dass auch der Reisende selbst über den digitalen Zwilling verfügt, im Idealfall per App. Das sind Punkte, die noch diskutiert werden müssen. Gleiches gilt für die Möglichkeit, sich bei Beschädigung des Koffers ein Angebot über einen wirklich gleichwertigen, möglicherweise sogar identischen physischen Koffer machen zu lassen. Hier geht es neben dem Nutzen für den Reisenden auch um Marktchancen für Kofferanbieter. Dies alles sollen Angebote sein, die dem Reisenden unterbreitet werden können. Natürlich muss es auch möglich sein, seinen Koffer konventionell, sozusagen am Mann, zu befördern. Wir wollen aber aufzeigen, welchen Mehrwert ein digitaler Zwilling des Koffers bieten kann.
IM+io: Das Fraunhofer IML betreibt eine sehr anwendungsnahe Forschung, das heißt, man braucht auch Industriepartner für die Umsetzung. Sind Sie mit Ihren Projekten eher Treiber von Entwicklungen oder arbeiten Sie im Takt mit den verschiedenen Branchen und ihren Bedürfnissen?
UC: Es gibt für beides Beispiele. So besteht eine enge Zusammenarbeit mit dem Verband der Automobilindustrie (VDA) im Bereich des autonomen Fahrens, etwa im Werksverkehr und in der Hoflogistik. Unsere Themen sind dabei Sicherheit und Effizienz. In diesem Fall laufen wir im Takt mit der Industrie. Das gilt auch für Unternehmen, die selbst auch weit vorne an der Forschungsfront arbeiten. Dort, wo wir als Fraunhofer etwas weiter, aber eng verzahnt mit der Industrie sind, ergänzen wir uns gut. Natürlich gibt es auch andere Bereiche in der Logistikwirtschaft, wo es eine Aufgabe des Instituts ist, ein paar Jahre im Voraus zu denken und ganz neue Lösungen zu konzipieren. Das gilt für Bereiche, wo die Praxis noch nicht so weit ist, das ist häufig im Mittelstand der Fall. Da muss sich erst einmal zeigen, welche Formen der Digitalisierung sich durchsetzen und integrierbar sind. Da sind wir sicher Treiber und ein Stück voraus und wissen zugleich, dass dabei nicht jede Innovation für jede Branche und jedes Unternehmen die richtige Lösung darstellt.