Von Profit zu Purpose
Sinn-Orientierung als Führungsphilosophie
Anette Fintz, ISOB
(Titelbild: © AdobeStock | 569696045 | Christian)
Kurz und Bündig
Früher galt das Unternehmenswachstum als Basis jeder Führungsphilosophie. Dies hat sich seit der Weltwirtschaftskrise 2008 geändert, und der Sinn tritt in den Vordergrund. Sinn-Orientierung in Unternehmen kann insbesondere im Kontext von Stakeholder-Ansprüchen eine große Bedeutung für die Führungsphilosophie übernehmen. Dabei sollte der Sinn nicht nur als Add-on verstanden werden, sondern als wichtiger Schlüssel, um die Herausforderungen unserer Zeit zu meistern. Das Beispiel eines mittelständischen Logistikunternehmens zeigt, dass durch die Identifizierung eines klaren Sinn-Kerns das Unternehmen erfolgreich transformiert wurde.
Sinn ist als Purpose aus den meisten Veröffentlichungen der freien Wirtschaft mittlerweile nicht mehr wegzudenken. Dabei fehlt Klarheit darüber, wo der Unterschied zu Vision, Nutzen oder Werbeslogans liegt. Ist Sinn nicht eines von vielen Soft Skills, für die angesichts der drängenden Fragen unserer Zeit keine Kapazitäten mehr da sind? Im Gegenteil: Wo Führen mit Sinn aus einer vermeintlichen Wohlfühlecke ins Zentrum geholt wird, werden Unternehmen resilient. Gerade in Zeiten der Transformation.
Der Sinn vom Sinn
Globalisierung und stetig wachsende Märkte hatten jahrzehntelang die Orientierung am Unternehmenswachstum als Basis jeder Führungsphilosophie zur Grundregel werden lassen. Fast schon bemitleidend antwortete mir ein Bankvorstand während des Essens auf einem Unternehmerforum auf die Frage nach dem Sinn seiner Bank: „Geld erwirtschaften, damit wir wachsen können.“ – „Und dann?“ – „… erwirtschaften wir noch mehr Geld und wachsen weiter.“ Auf die Frage, wann er seine Bank als erfolgreiches Unternehmen bezeichnen würde: „Je größer die schwarze Zahl unterm Strich, desto erfolgreicher.“
Das war 2005. Sinn galt als Rosenzüchterei im wilden Garten der globalisierten Wirtschaft. Wer es sich leisten wollte, sie zu pflegen, konnte das tun. Hauptsache, die „schwarzen Zahlen unterm Strich“ waren möglichst groß.
Zwar hatten einige wenige Ökonomen längst die wirtschaftliche Relevanz von Sinn herausgearbeitet, allen voran Walter Böckmann 1984, zur Jahrtausendwende auch Peter Ulrich, Fredmund Malik und andere. Die spezifischen Texte wurden aber in die Ecke der Wirtschaftsethik, sozusagen zu den Rosenstöcken, verbannt. Entsprechend war Sinn, der heute aus diversen Gründen gerne als Purpose bezeichnet wird, zuweilen ein Thema für Festreden, ansonsten charitativen Vereinen und Nicht-Regierungs-Organisationen vorbehalten.
2008 wurde diese Logik des Um-Sich-Selbst-Drehens durch die Weltwirtschaftskrise schwer erschüttert. Wachstum um des Wachstums willen wurde als zirkulärer Schluss entlarvt. Zumindest für eine kurze Zeit wurde die Frage gestellt, WOZU und WOHIN „die Wirtschaft“ eigentlich wachsen wolle und WER einen Benefit von diesem Wachstum haben sollte. Stakeholder, die zuvor nur im Augenwinkel wahrgenommen worden waren, wurden selbstbewusster und in Hinblick auf Unternehmensverhalten anspruchsvoller.
Spätestens hier, bei den Ansprüchen der Stakeholder, wird Sinn-Orientierung als grundlegende Führungsphilosophie wichtig. Als in jedem Fall relevante Stakeholder bezeichnen wir fünf Interessen-Gruppen: die Eigentümer beziehungsweise Anteilseigner des Unternehmens, die Kunden, die Menschen im Unternehmen, die Zulieferer und Dienstleister, das ökonomische und ökologische Umfeld. Sie alle sind auf unterschiedliche Weise vom Agieren des Unternehmens betroffen und können auf dessen Entscheidungen Einfluss nehmen.
Ein Unternehmens-Sinn bietet die Möglichkeit, alle unternehmensrelevanten Felder mit einem Sinn im Zentrum zu verbinden, und damit auch allen Stakeholdern eine Referenzebene zu geben. Damit ist Sinn kein Add-on, vielmehr ein wichtiger Schlüssel für den Umgang mit den vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit.
Das Besondere am Sinn liegt in der Selbstüberschreitung: Im Unterschied zum oben erwähnten zirkulären Schluss weist Sinn über sich selbst hinaus und tritt in Beziehung zu anderen Akteuren oder übergeordneten Inhalten. Sinn überschreitet den Selbstzweck und stiftet allen Stakeholdern einen Mehrwert. Dieser partizipative Charakter macht Sinn-Orientierung stark und unabhängig, einzigartig und anspruchsvoll.
Sinn als Orientierung
Um nicht in dieser theoretischen Beschreibung stecken zu bleiben, soll das Beispiel eines Unternehmens (sowohl der Name als auch unwesentliche Details des Unternehmens werden hier verändert) herangezogen werden.
Es handelt sich um ein mittelständisches Logistikunternehmen mit 500 Mitarbeiter:innen an drei Standorten in Deutschland und der Schweiz. LSW (Logistic Support Worldwide), gegründet 1969, stellt Haltesysteme für Transporte aller Art her. 2021 lag der Umsatz bei circa 80 Millionen Euro, der EBIT über 10 Prozent. LSW hat seit 2007 die Unternehmenstransformation bewusst vorangetrieben. „Ohne Not“ wurden Zeit und Geld investiert, um wesentliche strukturelle und operative Veränderungen vorzunehmen.
Das Führungsteam von LSW, allen voran der geschäftsführende Gesellschafter, hatte sich im Rahmen einer Zukunfts-Werkstatt intensiv mit der Frage beschäftigt, welchen Sinn als Identitätskern das Unternehmen für seine unterschiedlichen Stakeholder haben könnte. Am Ende der Zukunfts-Werkstatt stand der Satz „Wir bieten Sicherheit – grenzenlos“. Was zunächst weder nach einer Überraschung noch nach einem großen Wurf klingt, hat das Unternehmen von Grund auf verändert und in einer Branche ungewöhnlich erfolgreich gemacht, deren Produkte meistens aus Fernost kommen. Wie das?
Wirkender Sinn ist radikal
Jedes Wort der Sinnformulierung wurde radikal ernst genommen. Sicherheit wurde ab jetzt in Kombination mit „grenzenlos“ auf alle möglichen Bereiche der fünf Stakeholder angewendet und weitergedacht.
Um nur einige heikle Fragestellungen aufzuzeigen: Was bedeutet, es Sicherheit zu bieten angesichts:
- der Volatilität der Märkte?
- der Anstellung von Leiharbeiter:innen?
- marktüblicher Veränderungen vereinbarter Lieferungen und Zahlungsziele seitens der stärkeren Partei?
Scheinbar völlig unterschiedliche Problemstellungen werden durch Sinnorientierung nicht mehr segmentiert diskutiert, sondern als Herausforderung auf dem Weg zum Sinn verstanden. Sinn wirkt dann wie eine Lenkrolle, über die jedes Thema angegangen wird. Mitarbeiter:innen kämpfen deshalb nicht gegen einzelne Probleme, vielmehr sehen sie sich in der Verantwortung, über den gemeinsamen Sinn zum nachhaltigem Erfolg beizutragen. Bei konsequenter Verfolgung wirkt Sinn identitätsstiftend, motivierend und absolut effektiv.
Es ist dann eben nicht egal, ob ich mich als einzelne Person einbringe oder nicht. Die Mitarbeit am Unternehmens-Sinn bietet individuelle Sinnmöglichkeiten für Mitarbeitende, weil sich die persönlichen Anstrengungen nicht nur an der Erfüllung von herausfordernden Zielen erschöpfen, sondern an einem über sich hinausgreifenden Ganzen partizipieren lassen.
Sinn als Struktur und Prozess
Wie Führen mit Sinn aussieht, ist einerseits strukturell vorgegeben: wie oben im Beispiel LSW beschrieben, wird Sinn branchenunabhängig immer vom Zentrum aus in die unterschiedlichen Aufgabenbereiche des Unternehmens hinein entwickelt. Die Umsetzung kann hingegen nur individuell entlang des jeweiligen Unternehmens, dessen Situation, involvierten Menschen und Stakeholdern vorgenommen werden.
Zusammengenommen bestimmt der Unternehmens-Sinn Identität und Strategie und wirkt sich unmittelbar auf das Betriebsergebnis aus. Deshalb ist Sinn immer Chefsache.
Ist das WOZU formuliert, beginnt ein Sinn-Übersetzungs-Prozess, bei dem alle Mitarbeiter:innen Stück für Stück einbezogen werden: welche Auswirkungen kann der Sinn für jede einzelne und ihre Aufgabe bedeuten. Außerdem wirft Sinn Fragen auf, die sich nicht gleich von außen aufdrängen oder deren Behandlung keinen kurzfristigen Nutzen verspricht. Genau hier steckt die Chance, Themenfelder für das Unternehmen zu entdecken, sie proaktiv anzugehen und gestaltend Einfluss zu nehmen. Führen mit Sinn eröffnet also Wege zu agieren, statt zu reagieren. Wie gut das funktioniert, hängt wesentlich davon ab, wie ehrlich und manchmal auch hart die internen Diskussionen geführt werden.
Konkrete Überlegungen entlang des Sinns werden gebündelt in den Strategieprozess eingebracht, von dem aus flexible Ziele formuliert werden. Diese werden wie in einem typischen PDCA-Verfahren (Plan – Do – Check – Act) konsequent verfolgt, bewertet und verbessert. Anstelle des Strebens nach fixierten Zielen bewegen sich alle Teams nach den aktuellen Möglichkeiten, um die fokussierten Sinn-Umsetzungen zu verwirklichen. Die Eindimensionalität des Führens mit Zielen weicht dem dynamischen Führen mit Sinn.
Sinn in Zeiten der Transformation
Der Proof of Concept findet aktuell statt: Weltwirtschaftskrise 2008, Zuwanderung, Überalterung der Gesellschaft, Fachkräftemangel, Pandemie, Erderwärmung, Ukraine-Krieg, Inflation … Angesichts immer schneller aufeinander folgender Krisen wird deutlich, dass wir uns in einer Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft befinden. Die bisherigen Mechanismen funktionieren nicht mehr, neue sind noch nicht gefunden. Daraus resultiert das vielleicht wichtigste Merkmal jeder Transformation: Unsicherheit auf vielen Ebenen. Gerade deshalb ist das Führen mit Sinn heute wichtiger als je zuvor, denn Sinn bietet Orientierung ohne Fixierung.
Sicherheit zu bieten bedeutete für LSW zum Beispiel von Beginn an, einen Weg vorzuzeichnen, auf dem man sich als Wandergruppe gegenseitig absichert. Durch die ernst gemeinte Orientierung am Sinn wurden Arbeitsplätze nie als garantiert ausgerufen. Hingegen wurde Solidarität gelebt, die gerade bei Auftragseinbrüchen wichtig wurde. Die Belegschaft verzichtete 2009 und 2020/21 freiwillig in unterschiedlichem Anteil auf Gehalt, um allen Kolleg:innen die Chance zu geben, an Bord zu bleiben. Als die Konjunktur sich erholte, wurden Einbußen vom Gewinn zurückbezahlt. Solche Erfahrungen stärken das Vertrauen gerade in Zeiten permanenter Veränderung mehr als jede ausgesprochene Garantie.
„Sicherheit – grenzenlos“ hat auch dazu beigetragen, dass in Jahren des Wachstums Themen proaktiv angegangen wurden, was sich heute als Wettbewerbsvorteil entpuppt. Angestoßen durch die Frage, was Sicherheit in Zusammenhang mit der Produktion und Verwendung von LSW-Produkten für die Umwelt der Enkel bedeutet, wurden bereits 2010 freiwillige Themen-Teams gebildet und entsprechende Bachelor- und Master-Arbeiten vergeben. Dabei hatte man in Zeiten übervoller Auftragsbücher eigentlich keine Zeit für „unnötige Aufgaben“. Heute ist LSW in der Logistikbranche Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit. Übrigens unter frühzeitiger Einbeziehung der Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung ergeben. Auch hier wurde über die Grenzen hinausgedacht.
Gestalten Sie schon?
Einige Unternehmen haben seit langer Zeit Werbe-Slogans oder Markennamen, bei denen wir uns fragen, was wohl passieren würde, wenn sie wirklich ernst genommen würden: Was wäre, wenn eine Bank für möglichst viele Stakeholder den Weg frei machen würde? Wie würde es sich in der Konzernkultur auswirken, wenn der Unternehmensname „Volkswagen“ der Sinn-Orientierung diente?
Das Beispiel LSW zeigt, inwiefern in einem Betrieb, der jahrzehntelang finanzgetrieben war, durch Führen mit Sinn neue Potenziale entfaltet, die in Zeiten der Transformation erfolgsentscheidend sind. Sinn-Orientierung bedeutet das Ende vom Jagen nach Zielen und den Beginn der Zukunftsgestaltung. Als Führungsperson sollten Sie sich deshalb fragen: Jage ich noch, oder gestalte ich schon?