Vom Lager bis zum Kunden: Wie kluge Algorithmen den Handel verändern
Jens Scholz, CEO, prudsys AG
Kurz und bündig:
Künstliche Intelligenz (KI) bietet für den Handel neue Möglichkeiten der Kundenbindung und interner Effizienzgewinne. Individualisierte Kundenangebote, Vorhersagen der Nachfrage oder Steuerung des Abverkaufs durch automatisierte Preisanpassungen sind einige der Vorteile von KI im Handel, die heute schon mehr eingesetzt werden, als weithin bekannt. Die Handelsbranche ist ein Vorreiter von KI-basierten Anwendungen. Komplexe Omni-Channel- Prozesse und riesige Datenmengen machen Automatisierung durch selbstlernende Systeme absolut notwendig.
Der Handel steht vor großen Herausforderungen. Er muss sich gegen Handelsriesen wie Amazon und Co. behaupten. Kunden erwarten eine permanente Verfügbarkeit von Services und Gütern über alle Kanäle und gleichzeitig ein individuell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittenes Einkaufserlebnis. Riesige Sortimente, Omnichannel-Konzepte, volatile Märkte, große Datenmengen sowie vielschichtige Einflussfaktoren kennzeichnen die Handelsprozesse von heute. Der Mensch kann diese in ihrer Komplexität nicht mehr manuell in der geforderten Geschwindigkeit umsetzen. Hier spielt künstliche Intelligenz (KI) ihr großes Potenzial aus.
Händler stehen heute vor vielfältigen Herausforderungen, allen voran der Konkurrenzkampf mit den globalen Handelsriesen und Konzernen wie Amazon, Alibaba, Google & Co. Diese investieren seit Jahren sehr hohe Budgets in die Entwicklung künstlicher Intelligenz und nutzen schon heute ihre großen Potenziale für den Handel. Weiterhin stellt auch das Konzept des Omnichannel-Handels immer komplexere Anforderungen an Händler, wofür Künstliche Intelligenz (KI) ebenfalls passende Lösungsansätze bietet. So profitiert der Handel von intelligenten und automatisierten Prozessen, die Chance bieten, Kunden zu begeistern, zu binden und Komplexität zu beherrschen [1].
Anwendungsfelder von KI im Handel
Händler müssen immer komplexere Anforderungen erfüllen, die einerseits die Verbraucher und andererseits ihre internen Prozesse an sie stellen. Internet-affine Konsumenten erwarten zum Beispiel, alle sie betreffenden Prozesse komplett, jederzeit und über jeden Kanal erledigen zu können. Dabei wünschen sie sich gleichzeitig ein individuelles Einkaufserlebnis, egal ob im Laden oder im Onlineshop. Eine positive Abgrenzung vom Wettbewerb erreichen Händler heute weniger über Sortimente oder Preise, sondern über Services und ein individualisiertes Einkaufserlebnis. Kundenbindung ist die wertvollste Ressource eines Händlers. Gleichzeitig müssen die daraus resultierenden Omnichannel-Prozesse sowohl beherrschbar als auch finanzierbar sein [2].
Wenn es um die praktische Anwendung der Analyse großer Datenmengen geht, spielt KI viele Vorzüge aus. Sie kann riesige und komplexe Datenmengen jeweils schon beim Entstehen analysieren, leitet in Sekundenbruchteilen Ergebnisse daraus ab und lernt mit jeder getroffenen Entscheidung dazu. Nach Ralph Appel, Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), ist KI der nächste logische Schritt in der digitalen Transformation [3]. Algorithmen übernehmen kognitive Leistungen und beschleunigen die Automatisierung von Handelsprozessen. Sie bilden die Basis für echtzeitfähige Omnichannel- Prozesse und bieten Händlern mehr Effizienz sowie eine Steigerung von Umsatz und Ertrag.
Folgende Anwendungsfelder künstlicher Intelligenz im Handel sind vielversprechend:
- Interne Handelsprozesse (z. B. Lager- und Inventar Management, Lieferkettenoptimierung, Logistik)
- Shop-Management (z. B. Vorhersage des Kundenaufkommens und der Nachfrage mit Personalplanung in Echtzeit, Forecast & Replenishment, Digital Signage Automation)
- Dynamische Preisanpassung und Optimierung (z. B. Regular Pricing, Markdown Pricing, Product Bundling)
- Personalisierung (z. B. personalisierte Produkt empfehlungen, automatische Kunden-Segmentierung, intelligente Incentivierung)
- Visuelle Suchfunktionen (z. B. Produktempfehlungen basierend auf Bildähnlichkeiten)
- Kundenkommunikation (Chatbots, Voice Search, Digital Instore Assistant)
- Stammdatenmanagement (z. B. automatisierte Pflege von Stammdaten, Bestimmung von Stammdaten aus Bild-Informationen, intelligente Plausibilitätsprüfungen und De-Duplikation)
Nachfolgend wird stellvertretend für das Potenzial künstlicher Intelligenz im Handel die Bereiche Handelsprozesse sowie die Dynamische Preisanpassung und Optimierung im Detail betrachtet.
KI für Handelsprozesse: Bestandsmanagement und Logistik
Die heutigen Märkte kennzeichnet eine hohe Dynamik auf der Kunden- und Wettbewerberseite: kurze Produktlebenszyklen, Vermischung der Sortimente, Vormarsch des Omnichannel- Handels und kanalübergreifendes Fulfillment der Kundenbestellungen stellen hohe Anforderungen an das Bestandsmanagement. Traditionelle Prognoseverfahren aus dem BI Umfeld prognostizieren hierbei auf der Basis historischer Daten. Nachgelagert entscheidet der Unternehmer, welche Maßnahmen umgesetzt werden. Diese Art des reaktiven Bestandsmanagements ist zu langsam und der Dynamik der heutigen Märkte nicht mehr gewachsen. Die Antworten auf die Herausforderungen der heutigen Märkte liefern moderne KI-basierte Systeme zur Bestandssteuerung.
So findet auch McKinsey in seiner aktuellen Studie über die Auswirkungen von künstlicher Intelligenz auf die deutsche Wirtschaft große Optimierungspotenziale in der Supply Chain: 65 Prozent weniger Umsatzausfälle aufgrund von Stock-Out-Quoten sowie 20 bis 50 Prozent kleinere Lagerbestände [4]. Wenn ein Händler mit einer zuverlässigen Genauigkeit vorhersehen kann, wie viel von welchem Artikel, wann und in welchem Store verkauft wird, führt dies zu einer erheblichen Optimierung der Warenbestände und der Kosten des Umlaufvermögens. KI-basierte Systeme besitzen diese Fähigkeit auch in komplexen Szenarien und werden so zu einem der größten Erfolgshebel für jeden Händler. Amazon setzt beispielsweise bereits seit 2013 Machine Learning für vorausschauenden Versand der Bestellungen ein (Anticipatory Shipping) [4]. Dabei wird das Verhalten aller Kunden auf der Webseite, wie etwa vergangene Bestellungen, Verweildauer, Klicks, Warenkörbe sowie Wunschlisten ausgewertet und automatisch Prognosen erstellt, welche Bestellungen in den nächsten Tagen wahrscheinlich getätigt werden. Die jeweiligen Artikel werden dann bei Bedarf proaktiv den örtlich bezogenen Fulfillment Centern zugeführt und stehen dann für eine schnelle Auslieferung bereit. Nach dem Kauf, wird die Bestellung nur noch mit der finalen Zustelladresse ergänzt und zum Kunden geliefert. Durch den Einsatz von KI auf Grundlage von Big Data kann Amazon die Versandzeiten und Logistikkosten reduzieren und die Kundenzufriedenheit steigern [5].
KI für Dynamic Price Optimization
Die bereits beschriebene hohe Marktdynamik beeinflusst auch die Preisbildung der Händler. Wollen Händler den Wettbewerb bestimmen oder mit ihm mithalten, müssen sie in der Lage sein, ihre Preise jederzeit an sich ständig ändernde Marktsituationen anzupassen. Mehrmals am Tag tausende Artikelpreise unter Beachtung einer Vielzahl von Preisbildungsfaktoren zu steuern stellen viele Händler vor eine große Herausforderung und ist manuell nicht mehr abzubilden. Daher setzen immer mehr Händler auf dynamische Preisbildungsstrategien, wie auch aus einer aktuellen Studie des Versandhandel Deutschland e.V. (bevh) hervorgeht [6]. Die Mehrzahl der aktuell eingesetzten Pricing- Lösungen folgt allerdings starren Preisregeln, die sich häufig nur am Preisverhalten der Konkurrenz orientieren – sogenannte Repricing- Tools. Das birgt die Gefahr ruinöser Preisverzerrungen, indem sich Wettbewerber gegenseitig immer weiter unterbieten. Mit KI-gestützten Verfahren zur automatischen Preisbildung können Händler im Gegenzug das Optimum aus ihren Preisstrategien herausholen und proaktiv statt rein reaktiv zu bepreisen.
Um als Unternehmen die Preise von Produkten oder Services permanent durch intelligente Algorithmen der aktuellen Marktsituation anzupassen, analysieren die Verfahren kontinuierlich riesige Datenmengen und beziehen alle relevanten Preisbildungsfaktoren wie Konkurrenzpreis, Nachfrage, Lagerbestand, Wochentag oder Wetter mit ein. So wird sichergestellt, dass nachhaltig auf die in der Preisstrategie definierten Unternehmensziele optimiert wird. Das kann beispielsweise bedeuten, sie wollen mehr Umsatz oder mehr Rohertrag generieren. Den optimalen Preis ermitteln die Verfahren dann über die Berechnung von Preis-Absatz-Funktionen und Preiselastizitäten.
Dynamische Preisoptimierung ist auf das gesamte Artikelsortiment anwendbar. Zudem ermöglichen elektronische Preisschilder (ESL) mittlerweile auch den Einsatz im stationären Handel. KI-basiertes Dynamic Pricing bietet neben der regulären Preisbildung eine Vielzahl weiterer Anwendungsmöglichkeiten: zum Beispiel Markdown Pricing zur Abschriften- und Bestandsoptimierung, Longtail-Pricing, intelligentes Couponing sowie auch Preisberechnungen für Produkt-Kombinationen.
Ausblick
KI im Handel führt, durch Echtzeit-Entscheidungen und deren Automatisierung, zu effizienteren Abläufen komplexer Prozesse oder ermöglicht diese überhaupt erst. Diese Komponente sollte dringend schon bei der Planung der eigenen Digitalisierungsstrategie mit einbezogen werden, damit die bestehenden oder neu gewonnenen Prozesse auch optimal umgesetzt werden. Hier hilft KI Kosten zu sparen und zukunftssichere Prozesse zu etablieren.
Je nach Einsatzgebiet, zum Beispiel auf der Demand Side, wird hierbei aber auch die weitere Gestaltung des Themas Privacy eine große Rolle spielen. Die ersten Erfahrungen der prudys AG mit der neuen EU-Datenschutz-Grundverordnung zeigen hier, dass KI und Datenschutz gut zu vereinen ist und die Maxime: „Service gegen Daten“ ganz unaufgeregt von den Verbrauchern individuell gelebt und die Services eingefordert werden. Dabei zeigen sich positive Beispiele für eine gute Customer Experience, durch bestehende und weiter steigende Kundeninformiertheit, zunehmend als Benchmark für alle Händler im Markt. Diesen Erkenntnissen Rechnung tragend, ist die Einführung von KI-Services ein sinnstiftendes Element für die Prozessdigitalisierung und so wird sich die Einführung von KI-basierten Diensten auch in den Handelsprozessen weiter beschleunigen.