KI und das Primat des Wahrscheinlichen
MehrWerth: die Kolumne von Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Dirk Werth ist seit 2016 Chefredakteur der IM+io. In der Kolumne „MehrWerth“ schreibt er in pointierter Form Meinungsbeiträge zum Schwerpunktthema des Heftes und stellt diese zur Diskussion.
Künstliche Intelligenz ist zweifelsohne einer der größten Megatrends der letzten Dekaden. Unbestritten sind die Erfolge, die in den letzten Jahren erzielt worden sind, ebenso wie die Erkenntnis, dass wir zukünftig Anwendungen begegnen werden, die heute noch jenseits unserer Vorstellungswelt liegen. Basis all dieser Entwicklungen ist, dass KI die Wirklichkeit in mathematischen, probabilistischen Modellen abbildet. Die Welt wird so zur Wahrscheinlichkeitsformel. Das eröffnet bedenkenswerte Zukunftsbilder.
Im Grunde gibt es Künstliche Intelligenz schon seit Jahrzehnten. Aber erst in den letzten Jahren hat sich die Informationstechnik soweit entwickelt, dass sie große Datenmengen erfassen und verarbeiten kann. Das war der Durchbruch zur „neuen“ Künstlichen Intelligenz, die aktuell die Welt verändert. Wir erleben es jeden Tag, immer neue Erfolgsmeldungen erreichen uns. Nachrichten über das nächste Problem, das KI besser als der Mensch lösen kann. Und über den nächsten Arbeitsplatz, der dank KI in Gefahr ist. Eine genauere Betrachtung zeigt aber ein anderes, differenzierteres Bild: Eine sogenannte „starke KI“, die die menschliche Intelligenz nachbilden soll, ist nach aktuellem Stand von Wissenschaft und Technik eine Utopie. Vielmehr sind die Durchbrüche, die uns erreichen, Beispiele für eine „schwache KI“, deren Ziel es ist, spezifische Aufgaben zu lösen, sei es das Erkennen von Gesichtern, das Steuern von Fahrzeugen oder das Buchen von Geschäftsbelegen. Hier gibt es unbestreitbar große Fortschritte, die es erlauben, bestimmte Arbeitsbereiche durch KI Systeme zu ersetzen und damit letztendlich zu automatisieren. Ist das eine radikale Veränderung? Historisch gesehen sicher nicht. Mit dem Aufkommen des Automobils ist die gesamte Pferde- und Kutschenindustrie buchstäblich unter die Räder gekommen. Mit Einzug der mechanischen Roboter haben sich die Fabriken grundlegend gewandelt.
Statt fundamentaler Umbrüche werden wir neue Arbeitsformen erleben. Berufsbilder, bei dem Mensch und KI gemeinsam und kooperativ arbeiten werden. Betriebsorganisationen, in denen Mitarbeiter und KI ihre jeweiligen Stärken ausspielen können. Ist das die Zukunft? Nein, das ist bereits die Gegenwart, schon heute arbeiten wir in solchen Modellen, sie werden sich nur noch stärker herausbilden. Das ist ein arbeitsorganisatorisch ein Evolutionsprozess, den ich nicht kritisieren möchte.
Meine Kritik an den künstlich intelligenten Zukunftsbildern zielt in eine gänzlich andere Richtung: Die Methoden der KI arbeiten mit mathematischen Modellen zur Wahrscheinlichkeitsbildung. KI Anwendungen bilden die reale Wirklichkeit in probabilistischen Modellen ab und berechnen Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Vereinfacht gesagt, lenkt ein autonomes Fahrzeug also genau dann nach rechts, wenn der Algorithmus ermittelt, dass „rechts“ sehr viel wahrscheinlicher ist als „links“ und „geradeaus“ zusammen. Die zahlreichen erfolgreichen KI Anwendungen belegen eindrucksvoll die Wirksamkeit dieser Methodik. Dies geht sogar so weit, dass mittels KI Modellen die Zukunft präzise vorhergesagt wird und diese Vorhersagen genutzt werden, um die Zukunft zu beeinflussen. Ein schönes Beispiel sind Versuche von Amazon, die Bedarfe von Konsumenten vorherzusagen und den Kunden bereits zu beliefern, noch bevor er den Artikel überhaupt bestellt hat.
Das Zukunftsbild stellt demnach den Menschen in den Fokus, dessen Bedürfnisse automatisiert gedeckt werden, ohne dass eigenes Zutun erforderlich ist. Quasi das digitale Schlaraffenland, in dem die Trauben schon vor dem ersten Gedanken daran gereicht werden. Eine erfüllende und – zumindest technisch – nicht unrealistische Vision. Aber auch eine wünschenswerte? Denken wir dieses Modell einmal zu Ende: KI sagt die Zukunft voraus und beeinflusst die Welt sogar dahingehend, dass die Vorhersage auch eintrifft (Präskription). Auch wenn ich einmal annehme, dass dies im besten Sinne und mit den hehrsten Absichten erfolgt, gibt es doch einige entscheidende Implikationen:
Zum einen bedeutet es eine Entmündigung des Menschen. Er entscheidet nicht mehr frei, sondern nur in dem Rahmen, den die KI ihm setzt. Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Maschine die endgültige Entscheidung trifft oder nur die Vorselektion bietet: Sei es, dass er nur noch die Fernsehkanäle angezeigt bekommt, die am besten zu ihm passen, sei es, dass er nur noch die vorselektierten Produkte einkaufen kann bis zu dem Punkt, an dem er nur noch die Berufe ergreifen kann, für die er aus Sicht der KI am geeignetsten ist. Hand aufs Herz: Wer von Ihnen schaut schon auf Seite zwei, drei oder gar zehn bei der Google Suche?
Zum anderen gibt es einen kleinen aber entscheidenden Unterschied zwischen unwahrscheinlich und unmöglich. Auch wenn es denkbar unwahrscheinlich ist, einen 6er im Lotto zu gewinnen, ist es nicht unmöglich. Tatsächlich trifft es fast jeden Samstag einen Glücklichen. Das gleiche gilt für viele Settings: Bewerbungen, Sales Pitches, Startup-Gründungen, Studienwahl und viele, viele mehr. Wenn eine KI diese Wahl für uns trifft, wird sie prinzipbedingt nach der Wahrscheinlichkeit entscheiden. Damit wird das Wahrscheinlichste zum unausweichlichen Schicksal, schon allein, weil keine Alternativen mehr angeboten werden.
Künstliche Intelligenz ist eine Glaubensfrage: Glaubt man an all die möglichen Schreckensszenarien, oder glaubt man, dass wir am Rand einer neuen Evolutionsstufe stehen, in der sich die Natur der menschlichen Arbeit signifikant verändern wird, in der neue Berufsbilder geschaffen und in der sich auch neue Gesellschaftsstrukturen herausbilden werden. Ich glaube unerschütterlich an den Fortschritt und an das Gute im Menschen. Mit Stahl kann man Panzer bauen, aber auch Brücken. Ich möchte nicht zu den Kutschenfahrern gehören, die sich wie zu Zeiten von Carl Benz über dieses unheimliche „Automobil“ auslassen und darüber klagen, wie gefährlich es denn sein mag. Daher steige ich von meiner Kutsche und arbeite daran, dass sich die Wundertechnologie Künstliche Intelligenz zum Wohl der Menschen entwickelt, hin zu einer superintelligenten Gesellschaft. Arbeiten Sie mit?