Coding the Mittelstand
Wie der Mittelstand eine digitale Kompetenz neu programmieren muss
MehrWerth: die Kolumne von Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Auch wenn oft prophezeit wird, dass der digitale Zug am Mittelstand vorbeirauscht, ist er doch mittlerweile genau dort voll angekommen. Dies ist schon allein an den aktuellen Zahlen nicht besetzter IT-Stellen ersichtlich. Nach Ergebnissen des Branchenverbandes BITKOM stieg diese Zahl von rund 40.000 Mitte des Jahrzehnts auf nunmehr fast 125.000 in 2019 [1]. Solche Steigerungsraten von über 50% pro Jahr sind nur dadurch erklärbar, dass der Mittelstand die Zeichen der digitalen Zeit erkannt und begonnen hat, massiv IT-Fachkräfte einzustellen – vorausgesetzt es gibt diese Fachkräfte überhaupt. Aber dazu später mehr.
Wichtig ist mir, dem digital viel gescholtenen Mittelstand zu seiner begonnenen Aufholjagd zu gratulieren. Klang es doch in den letzten Jahren unisono, dass der deutsche Mittelstand viel zu langsam und zu zögerlich digitale Themen aufnimmt. Die offenen Stellen scheinen eine andere Sprache zu sprechen – nämlich, dass die digitale Agenda voller ist als die Liste der eigenen Fachexperten. Ich finde das Verhalten des Mittelstandes auch verständlich: Großkonzerne können digitale Modellfabriken kostenintensiv aufbauen, auch wenn diese noch nicht wirtschaftlich sind. Die Wirtschaftlichkeit entsteht dann nämlich durch den Rollout der erprobten Technologien und Verfahren in die vielen weltweiten Werke. Mittelständige Unternehmen haben diese Möglichkeit nicht. Hier muss von Anfang an ein positiver Return on Investment her. Wenn dieser aber sichergestellt ist, investieren diese Unternehmen massiv – auch in Personal.
Ich habe im letzten Jahr unzählige Gespräche mit Vorständen, Geschäftsführern und Führungskräften geführt. Ich kann mich an kein einziges erinnern, an dem nicht darüber geklagt wurde, wie schwierig, langwierig und teuer es geworden ist, gute neue Mitarbeiter – gerade mit Digitalkompetenz – zu gewinnen. Und fast alle haben berichtet, dass genau dieser Mangel an Mitarbeitern mit Digitalkompetenzen eine Wachstumsbremse für das eigene Unternehmen darstellt. Insofern erscheint mir die Zeit reif, nicht länger die Zögerlichkeit bei der Digitalisierung zu thematisieren, sondern vielmehr die Frage zu diskutieren, wie die Wirtschaft in ein Zeitalter der Digitalisierung einsteigen will, wenn die richtigen Angestellten fehlen.
Und machen wir uns nichts vor, angesichts der drastischen Steigerungsraten sind über 200.000 offene IT-Stellen nur eine Frage der Zeit – ob 2020 oder 2021. Die bisherigen und fast ausnahmslos konventionellen Ansätze von Politik und Wirtschaft, das Problem in den Griff zu bekommen, sind gut gemeint, aber angesichts der deutlich ansteigenden Zahlen nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Daher lassen Sie mich meine drei Überlegungen vortragen:
1. Cloud, Cloud and Cloud
Vor zwei Jahren noch gänzlich undenkbar, ist die Cloud heute schon Teil der mittelständischen IT-Landschaft. Unternehmen kaufen professionelle Clouddienste von spezialisierten Dienstleistern ein – seien es Infrastrukturdienste wie virtuelle Server, Anwendungsumgebungen oder ganze Applikationen as a Service wie ein CRM-System. Die Anzahl der angebotenen Cloud-Dienste wächst rasant. Dies hilft dem Mittelstand insbesondere dort, wo Unternehmen schnell digitale Lösungen etablieren wollen. Denn das Nutzenversprechen der Cloudanbieter ist ja gerade eine schnelle und risikoarme Einführung. Zugegeben, via Cloud eingekaufte Lösungen sind sicher nicht hochgradig differenzierend zum Wettbewerb – dieser könnte ja die gleiche Lösung ebenso einkaufen. Aber zumindest ein zeitlicher Vorsprung ist damit zu realisieren – auch ohne umfangreiches eigenes Digitalpersonal aufzubauen. In erster Näherung hilft viel Cloud also dem Mittelstand viel. Aber natürlich ist der Vorteil im Wettbewerb nur kurzfristiger Natur. Langfristig führt am Aufbau eigener Digitalkompetenz kein Weg vorbei. Daher stellt sich die Frage, wie dies in Zeiten eines exponentiell steigenden Digitalarbeitermangels zu bewerkstelligen ist. Hierzu braucht es neuere Ansätze.
2. Fasttrack Qualifications
Etablierte IT-Ausbildungswege haben entscheidende Nachteile. Die wichtigsten Nachteile sind zum einen, dass sie zu lange dauern und zum anderen, dass sie zu diskriminierend sind. So ist etwa vielen Menschen der Weg zum Informatikstudium formal verschlossen – obwohl diese vielleicht von ihren Fähigkeiten dazu geeignet wären. Hier kommen neue Bildungsmodelle ins Spiel, so wie beispielsweise die Ecole 42 in Frankreich, die mittlerweile auch Ableger in vielen weiteren Ländern hat – wie neuerdings auch in Deutschland. In dieser Schule kann jeder Informatik studieren, ungeachtet seines Bildungsabschlusses – die einzige Voraussetzung ist das erfolgreiche Bestehen eines Eignungstests. Mit dem richtigen Talent besteht also für weitaus mehr Personen die Möglichkeit Informatik zu studieren. Interessant sind die ersten Untersuchungen zu den Absolventen: Mehr als die Hälfte haben keinen technischen Background. Auf den etablierten Bildungsweg hätten sie demnach keinen Einstieg in die Digitalarbeit gefunden. Im Ergebnis führt das nicht nur zu mehr digital-qualifizierten Fachkräften aufgrund kürzerer Qualifikationswege, sondern erweitert auch die Basis aus denen diese Fachkräfte überhaupt entstehen können.
3. Citizen Developers
Wenn man aber ehrlich rechnet, wird schnell klar, dass auch diese Maßnahmen alleine nicht ausreichen werden. Jede Fachabteilung eines Unternehmens, vom Vertrieb bis zum Controlling, wird Digitalkompetenzen benötigen, wenn auch mit unterschiedlichem Beitrag zum Unternehmenserfolg. Der neue, dritte Weg führt über die Citizen Developer. Hierunter versteht man konventionell ausgebildete Fachmitarbeiter, die durch digitale Werkzeuge befähigt werden, digitale Funktionalitäten zu kreieren – ohne dabei Programmierkenntnisse zu besitzen. Vergleichbar ist das etwa mit YouTubern, die durch die Möglichkeiten der Videoplattform Videos selbst produzieren können, ohne das Filmhandwerk, wie Kameraführung, Schnitt oder Ton je gelernt zu haben. Mit Citizen Development Plattformen können nun Einkäufer direkt eigene Einkaufsapplikationen erstellen, ausrollen und anpassen. Das Versprechen ist bahnbrechend: Für eine Vielzahl von Einsatzbereichen, wo heute noch händeringend Digitalarbeiter gesucht werden, können zukünftig die Mitarbeiter der Fachabteilungen selbst „codieren“. Diese Perspektive ist vielversprechend – und steht im klaren Gegensatz zu den apokalyptischen Hinweisen, der „War for talents“ wäre nicht zu gewinnen. Und sie zeigt meines Erachtens auch den klaren Trend: So wie Lesen mittels der geeigneten Technologie – etwa dem Buchdruck – in der breiten Masse den Durchbruch erlebt hat und zur Grundfertigkeit aufgestiegen ist, so ist zu erwarten, dass auch die Erschaffung digitaler Applikationen – enabled durch die richtige Technologie – zur Basislektion jedes Lehrlings wird. Der Mittelstand wird es uns danken!