So überlebenswichtig wie Sauerstoff
Digitalisierung als Wert im Unternehmen
Jürgen Schäfer, Zschimmer & Schwarz Gruppe
Kurz & Bündig
Welches sind die mentalen, psychologischen und emotionalen, im Ganzen also die kulturellen Faktoren, die die Entscheidungen in Organisationen über deren Digitale Transformation (mit-)beeinflussen? Wie wirkmächtig sind sie, und wie ist mit ihnen umzugehen, um retardierende Effekte auf die Digitale Transformation der Organisation auszubalancieren? Verschiedene Aspekte dieser Fragestellungen werden in diesem Beitrag beleuchtet.
Dass sich Unternehmen und Organisationen häufig mit der Definition einer digitalen Agenda und deren Umsetzung schwer tun – speziell auch im Mittelstand – hat viele Ursachen. Diese liegen nicht nur in ökonomischen Umfeldbedingungen, sondern werden auch durch eher mentale Faktoren bestimmt. Die große Herausforderung liegt darin, beim digitalen Wandel eine Organisation in ihrer Gesamtheit mitzunehmen, denn der Phänotyp der Digitalen Transformation zeigt einige sehr spezifische, auf andere Innovationskontexte nicht übertragbare Eigenschaften.
Bei schwächelnder Konjunktur und zugleich prozyklischer Planung kann die Digitale Transformation infolge der aktuellen Wirtschaftslage des Unternehmens ebenso verzögert werden wie durch konkurrierende Prioritäten im Investitionsbudget. Auch externe Faktoren wie z.B. der Ausbau des Breitbandnetzes spielen eine Rolle. Ergänzend zu diesen häufig diskutierten Aspekten fokussiert der vorliegende Beitrag auf eine gewissermaßen komplementäre Fragestellung: Welches sind die mentalen, psychologischen und emotionalen, im Ganzen also die kulturellen Faktoren, die die Entscheidungen in Organisationen über deren Digitale Transformation (mit-)beeinflussen? Wie wirkmächtig sind solche mentale Faktoren, und wie ist mit ihnen umzugehen, um retardierende Effekte auf die Digitale Transformation der Organisation auszubalancieren? Diese Faktoren sind dabei von unterschiedlichem Charakter: Zum einen hat man es ja immer schon mit einer tradierten Unternehmenskultur zu tun, mit der die Digitalisierung ebenso konfrontiert ist wie in früheren Epochen der Industrialisierung die je neue Technologie – die „Produktivkräfte“ in Marx‘ Diktion – mit den bestehenden „Produktionsverhältnissen“. Solcherart Disruption – in Schumpeters Sinn von „creative destruction“ das Neue stets nur um den Preis der (gänzlichen oder teilweisen) Auflösung von Altstrukturen erringend – liegt als abstraktes Ereignisschema jeder substanziellen technologischen Innovation / Revolution zugrunde. Der Phänotyp der Digitalen Transformation indes zeigt einige sehr spezifische und auf andere Innovationskontexte nicht übertragbare Eigenschaften. Allem voran bedeutet die Digitalisierung eine grundlegende (Neu-)Ausrichtung unseres Daseins überhaupt, bedingt durch das „Andocken“ von Digitaltechnologie an das menschliche Nervensystem – auch ohne ChipImplantate – und dessen Verhaltenskonditionierung auf die digitalen Medien hin. Dieser Effekt nun, globalisiert durch die Ubiquität von Datenkommunikation, erzeugt eine „zweite Natur“ (Adorno), deren Grundelement, quasi der „new oxygen“, nämlich der digitale Datenstrom, überlebenswichtig ist bzw. werden wird wie Wasser und Sauerstoff (und zuweilen lebensgefährlich wie Sprengstoff). Die mittelfristig absehbare Kassierung haptischer Zahlungsmittel (Münzen, Scheine, Kreditkarten), die Verlagerung von B2B-, B2C- und C2C-Prozessen auf integrative Plattformen (quasi den Galaxien im Datenuniversum), extensive Automatisierung repetitiver Arbeitsabläufe auch im Büro, anthropomorphe Roboter und intelligente (d.h. im Grunde kontextsensitive) Materialien – all dies ist Realität bzw. wird Realität werden. Angesichts dessen wäre es für Unternehmen vernünftig, den Digitalen Wandel als solchen bewusst, in seiner Universalität, positiv und die eigene Handlungsperspektive einbeziehend, anzunehmen, um in den Handlungsmodus hinein zu kommen. Es geht also darum, die digitale Agenda nicht nur in die technologische und in die Prozess-Roadmap, sondern auch in die Kultur des Unternehmens zu integrieren: So wie die Erhaltung der natürlichen Umwelt zu den Menschheitswerten zählt, deren Akzeptanz die Grundlage der physischen Überlebenssicherung ist, so wäre die Digitale Transformation als werthaltig in Bezug auf die sozioökonomische Überlebenssicherung zu begreifen – für ein Unternehmen in maximaler Konkretheit als „stay in the marketplace“.
Im Zentrum einer Unternehmenskultur stehen die Werte, die zu leben sich das Unternehmen in einem bewussten Willensakt zum Ziel gesetzt hat. Digitale Agenda als Teil der Unternehmenskultur bedeutet infolgedessen: Digitalisierung wird zu einem Wert – ein auf den ersten Blick ungewöhnlicher Gedanke, scheint er sich doch vordergründig gegen die gewöhnliche Auffassung von IT als „Tool Set“ zu richten. Indes verändert sich mit der globalen Digitalisierung auch der Begriff der Informationstechnologie selbst: Die IT-Abteilung im Unternehmen ist nicht primär nur dazu da, Netzwerke und Anwendungen bereitzustellen (deren Integrationsgrad je organisationsspezifisch und damit mehr oder weniger unternehmensindividuell ist). Vielmehr besteht die Kernaufgabe der IT darin, die digitalen Plattformen, die das Unternehmen zur Abwicklung seiner Geschäftstätigkeit einsetzt, in Zusammenarbeit mit den jeweiligen Third Party (Cloud-)Providern, verfügbar zu machen, zu customizen und bei Bedarf mit internen IT Anwendungen zu verknüpfen. Digitale Plattformen sind Arbeitsumgebungen, die eine Fülle von Einzelanwendungen (Apps) integrieren. Jede dieser Apps hat, für sich genommen, Toolcharakter – das digitale Work Environment aber transzendiert den Werkzeugbegriff und hebt ihn damit auf. Die „information worker“ – und das sind nicht nur alle Sachbearbeiter – arbeiten in einer Art virtuellem Büro. Die tradierten Rollenbilder des Mitarbeiters werden sich infolgedessen so grundlegend wandeln, dass sich jeder Einzelne, aber auch Teams und größere Teilorganisationen, entsprechend neu erfinden müssen. Die Digitalisierung zwingt dazu, neu/ anders zu denken – und dieses neue Denken in überschaubarer Zeit zu erlernen, denn: Wenn ich nicht schnell genug bin, dann ist mein Mitbewerber schneller. Wenn Deutschland nicht schnell genug ist, dann sind es andere Staaten, bzw. überholen gerade schon. Mit der massiven empirischen Disruption durch Digitalisierung, der z.T. radikalen Neu-Ordnung von Erfahrungs- und Arbeitswelten ergeht der Anspruch an die involvierten Organisationen und Mitarbeiter, ihre Wahrnehmungs- und Werthaltungen anzupassen. Der Unterschied zu tradierten Denk- und Arbeitsweisen kann dabei so groß sein, dass man von Anfang an in der mentalen Situation von Wittgensteins imprisoned man ist (siehe Zitat). Die digitale Disruption erzeugt eine mentale, die Digitale Transformation erfordert eine mentale Transformation. Genau hiermit umzugehen, jeden einzelnen Mitarbeiter „abzuholen“, wird zum strategischen Ziel im Organisationsmanagement und in der Personalführung. Die Mitarbeiter und das Unternehmen erfolgreich in die digitale Zukunft zu führen, ist auf der Werteskala des Unternehmens ganz oben zu verorten. Nur im Geiste eines Optimismus, der nicht blind sein kann und darf, sondern reflektiert und umsichtig, aber eingedenk der Innovationsgeschwindigkeit, die in der digitalen Welt eben kein „privates“ Asset einer Einzelorganisation ist, sondern ein globales Phänomen, kann die Digitale Transformation gelingen.
„A man will be imprisoned in a room with a
door that‘s unlocked and opens inwards;
as long as it does not occur to him
to pull rather than push.“
– Ludwig Wittgenstein
„Optimismus muss nicht unbedingt ein
Zeichen von Pflichvergessenheit sein.“
– Joseph Schumpeter