Alles nichts, oder?
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
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Früher gab es einen geläufigen Witz: Kommt ein Mann zum Mercedes-Händler und sagt: „Ich würde gerne einen Mercedes kaufen.“ Daraufhin der Händler: „Das kann ich nicht ausschließen.“ Nun mag die Reaktion früher einer überheblichen Attitüde geschuldet gewesen sein, doch sie kann sich heutzutage genauso abspielen. Jedoch nicht wegen fehlgedeuteter Exzellenzorientierung, sondern allein schon wegen der Nichtverfügbarkeit. Je nach Modell sind aktuell Lieferzeiten von 18 Monaten keine Seltenheit. Unverbindlicher Liefertermin, selbstverständlich. In Zeiten von Just-in-time- und Just-in-sequence-Produktion sind die Produktionspläne also für die nächsten anderthalb Jahre ausgebucht. Nicht schlecht…
Die Ursachen für diese und viele weitere Lieferverzögerungen sind mannigfaltig: Corona, Lockdowns, Chinas-Eindämmungspolitik, blockierter Suezkanal, begrenzte beziehungsweise heruntergefahrene Logistikkapazitäten, Ukrainekrieg, Rezessionsängste, Inflation, Bullwhip-Effekte und vieles mehr. Und dabei verschwimmen immer Ursache und Wirkung. Führt die Inflation zu Hamsterkäufen (zumindest im Bereich B2B ist das zu beobachten) oder führt der große Nachfrageüberschuss zur Inflation? In jedem Fall werden wir uns auf eine Welt der Mangelwirtschaft einstellen müssen, in der Güter nicht mehr ständig im Überfluss zu haben sind.
Klingt schlimm. Aber es kann auch eine Chance sein, denn es erzeugt ein Änderungsmomentum. Ähnlich wie es bei Corona der Fall war: „Welcher Manager hat den größten Einfluss auf den Digitalisierungsfortschritt im Unternehmen? CEO, CDO oder CIO?“ „Corona“. Tatsächlich hat mir ein Digitalisierungsmanager im Vertrauen berichtet, dass er ohne die Pandemie seine Digitalisierungsagenda niemals durchgebracht hätte. Doch durch die Pandemie ist die öffentliche Wahrnehmung von Digitalisierung und die Anerkennung ihrer Notwendigkeit, ja Unabdingbarkeit, schlagartig gestiegen.
Insofern stimmt mich die aktuelle No-goods-economy fast schon optimistisch, denn die Situation kann der Motor sein für die längst überfällige Umsetzung der Agenden für die Circular Economy und die Energiewende. Die Konzepte für die Energiewende beispielsweise liegen seit Jahren auf dem Tisch. Wir selbst haben in dem großangelegten Reallabor DesigNetz gezeigt, wie die Energiewende mittels Digitalisierung technisch und zum Wohle von Bürgern und Unternehmen umgesetzt werden kann. Allein, es fehlt der politische Wille, dies anzugehen. Denn offensichtlich bedeutet die Energiewende eine Veränderung. Und Veränderungen meiden die Deutschen wie der Teufel das Weihwasser. Insofern darf man fast dankbar sein, dass es jetzt eine Zwangslage gibt, die alle unbestreitbar daran erinnert, dass etwas getan werden muss.
Ebenso bemerkenswert ist das Revival alter Konzepte. Während „Second-Hand“ im Kleidungsmarkt jahrzehntelang schon etwas verpönt und eher im links-ökologischen Lager angesiedelt war, hat sich in den letzten Jahren „Second-Use“ im Bereich Fashion als eigenes Segment etabliert. Und damit nicht genug, denn dieses Second-Use-Segment ist das wachstumsstärkste der Branche und dementsprechend vergeht kein Tag, an dem nicht die nächste Modemarke auf den Zug aufspringt.
Allein an einem herrscht aktuell kein Mangel in Deutschland, nämlich an Regulierung. Ganz im Gegenteil! In der aktuellen öffentlichen Diskussion kommen immer mehr und mehr Regulierungen hinzu: Programme zur Abfallvermeidung, zum Ressourceneffizienzgewinn, zur Eindämmung von Lebensmittelverschwendung, und vielem mehr. Mein Wunsch für 2023: Ein neues Motto für die Reglementierungen von allem und jedem: Nicht nichts, aber weniger.