Mit der Zukunftsvision Industrie 4.0 soll die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandorts Deutschland gesichert werden. Denn individuelle Artikel lassen sich zum Preis massengefertigter Güter herstellen. Um dies zu erreichen, müssen die Produkte ihre Bearbeitung selbst steuern. Gleichzeitig müssen sich die Produktionssysteme aus modularen Bearbeitungsstationen zusammensetzen, die flexibel an geänderte Anforderungen angepasst werden können. Dazu ist eine digitale Beschreibung sowohl des Produkts als auch des Fertigungsprozesses notwendig, wie es Phoenix Contact bereits in einer Anlage umgesetzt hat.
Um dieses Szenario umzusetzen, müssen sowohl das Produkt als auch der Herstellungsprozess digital beschrieben sein. Die digitale Beschreibung wird dann durch Sensorinformationen nahtlos mit der realen Fertigungswelt verbunden. Auf diese Weise gestaltet sich die intelligente Produktion flexibel, adaptiv und ressourceneffizient. Die Digitalisierung ermöglicht also eindeutig identifizier- und jederzeit lokalisierbare Produkte und Rohstoffe. Zudem steuern die Produkte ihre Bearbeitung, sodass sich eine vollkommen neue Fertigungslogistik aufbauen lässt. Mit der digitalen Beschreibung stehen Sensorinformationen, Parameter sowie die Ergebnisse von Prüfverfahren in einer einheitlichen Semantik und Syntax zur Verfügung. Das digitale Produktgedächtnis fungiert hier als Informationsträger, wie Abbildung 1 zeigt.

Abbildung 1: Anforderungen an die intelligente Produktion von morgen
Cyber Physical Systems arbeiten domänen- und unternehmensübergreifend
Industrie 4.0 formuliert das geschilderte Leitbild einer intelligenten Produktion. Die vierte industrielle Revolution steht folglich für eine neue Stufe der Organisation und Verwendung des digitalen Produktgedächtnisses in der gesamten Wertschöpfungskette zum Lebenszyklus von Produkten und Fertigungssystemen. Die Realisierung des Leitbilds erfordert die Zusammenarbeit der Disziplinen der elektrischen Automatisierungstechnik, der Informationentechnik sowie des Maschinen- und Anlagenbaus. Nur so lassen sich die Produktionssysteme effizient planen, konstruieren und in Betrieb nehmen sowie vertikal in die Geschäftsprozesse integrieren. Die Einbindung erlaubt dann eine wirtschaftliche Herstellung individualisierter Produkte. Der Schlüssel für den Erfolg von Industrie 4.0 liegt somit in der unternehmensübergreifenden horizontalen Integration der Komponenten sowie ihrer vertikalen Integration von der Feldebene über MES- (Manufacturing Execution System) bis zu ERP-Systemen (Enterprise Resource Planning System).
Das Netzwerk aus Menschen, Maschinen und Produkten wird als Cyber Physical System (CPS) oder intelligentes technisches System bezeichnet. CPS nutzen Komponenten der physischen Welt sowie der Welt der Informationstechnik. Sie bestehen aus Produkten mit eingebetteter Hard- und Software. Außerdem verfügen CPS über Sensoren, mit denen sie Zustandswerte der realen Welt erfassen, sowie über Aktoren, um in der realen Welt agieren zu können. Cyber Physical Systems arbeiten domänen- und unternehmensübergreifend über Anwendungsgrenzen hinweg zusammen und setzen dazu auch Internetprotokolle und –dienstleistungen ein. Durch die Auswertung aufgenommener und aus weiteren Quellen bezogener Daten können sie die Produktion steuern und den Mitarbeiter situationsbedingt rollen- und aufgabenbezogen mit einer interaktiven Mensch-Maschine-Schnittstelle unterstützen, wie in Abbildung 2 zu sehen ist.

Abbildung 2: Cyber Physical Systems sind die Basis der intelligenten Produktion von morgen.
Produktvarianten führen ihre Fertigungsinformationen mit sich
Die zunehmende Individualisierung von Produkten führt zu einer steigenden Varianz an Typen. Diese Entwicklung wird durch den Wunsch der Anwender getrieben, das Produkt während des Bestellvorgangs mit Hilfe von Selektoren anhand auswählbarer Optionen zu konfigurieren. Die steigende Varianz ist in der Regel mit abnehmenden Fertigungsmengen bis hin zur Losgröße 1 verbunden. Der Maschinenbau steht damit vor der Herausforderung, Maschinen und Anlagen so zu entwerfen, dass Produktvarianten wirtschaftlich in variablen Losgrößen hergestellt werden können. Kern des Leitgedankens von Industrie 4.0 ist also die Entwicklung und Organisation selbststeuernder Produktionsprozesse, was das Engineering von Maschinen, Anlagen und Fertigungssystemen nachhaltig beeinflusst. Um die Aspekte der Wirtschaftlichkeit und Reduzierung von Komplexität zu erfüllen, müssen sich Produktionssysteme aus modularen Bearbeitungsstationen zusammensetzen, sodass sie flexibel an veränderte Anforderungen und Rahmenbedingungen angepasst werden können, wie Abbildung 3 zeigt.

Abbildung 3:Mass Customizing – die wirtschaftliche Fertigung individueller Produkte in kleinen Losgrößen
Im Leitgedanken von Industrie 4.0 werden unterschiedliche CPS auftrags- und produktbezogen zu einem Cyber Physical Production System (CPPS) kombiniert, damit ein bestimmter Fertigungsauftrag zeitgerecht und kostenoptimiert realisierbar ist. Das CPPS führt somit Produktionsressourcen und Prozessfunktionen mit dem Ziel zusammen, flexibel auf die Herstellung von Varianten zu reagieren. Die Fertigung ist also wandlungsfähig und kann Produkte selbst in Losgröße 1 wirtschaftlich und folglich wettbewerbsfähig produzieren. Das setzt eine dezentrale Steuerung sowie variantenbezogene Parametrierung der Prozessfunktionen voraus. Ein Lösungsansatz besteht darin, dass die Produktvariante die notwendigen Fertigungsinformationen während des gesamten Herstellungsprozesses mit sich führt. Das „intelligente“ Produkt ist als digitaler Artikel beschrieben. Es hat eine virtuelle digitale Repräsentanz und steuert mit dieser Beschreibung seine Fertigung.
Artikel- und variantenspezifische Arbeitsanweisungen sind im Leitsystem hinterlegt
In einem praktischen Anwendungsfall lag die Herausforderung darin, für eine hohe Modulvarianz des Echtzeit-I/O-Systems Axioline von Phoenix Contact ein flexibles Produktionskonzept zu entwickeln, in dem die herzustellenden Produkte die Prozessabfolge steuern. Der Lösungsansatz ist das Ergebnis einer interdisziplinären Arbeitsgruppe aus Spezialisten der Fertigungsplanung, des Maschinen- und Anlagenbaus, der Automatisierungstechnik und der Informatik. Das neue Produktionskonzept sieht ein ringförmiges Umlaufsystem vor, an das die einzelnen Prozessstationen angedockt sind. Das I/O-Modul wird auf einem Bauteilträger über das umlaufende Fördersystem an den Bearbeitungsstationen vorbeigeführt. Der Bauteilträger verfügt über einen RFID-Chip, der zu Beginn des Herstellungsprozesses die Produktionsinformationen der Modulvariante per Funk aufnimmt. Die Informationen werden an den verschiedenen Bearbeitungsstationen drahtlos ausgelesen, um das I/O-Modul an den relevanten Stationen auszuschleusen.
Die artikel- und variantenspezifischen Arbeitsanweisungen sowie Parameter sind im Leitsystem der Anlage in einer Datenbank hinterlegt. Die jeweilige Bearbeitungsstation erhält dann die spezifischen Befehle und startet die erforderlichen Fertigungsschritte. Nachdem die Bearbeitung abgeschlossen ist, werden auf dem RFID-Chip Informationen über die erledigten Arbeitsschritte und bei Bedarf ergänzende Daten – beispielsweise Messergebnisse – abgespeichert. Der Bauteilträger wird in das Umlaufsystem zurückgeführt und zur nächsten notwendigen und freien Station transportiert. Das Produktionskonzept umfasst Handarbeitsplätze, an denen dem Bediener – ebenfalls durch die auf dem RFID-Chip abgelegten Produktinformationen gesteuert – assistenzgeführt Arbeitsanweisungen angezeigt werden. Da die auf dem Bauteilträger befindliche Komponente aus dem Umlaufsystem zur entsprechenden Bearbeitungsstation ausgeschleust wird, blockiert sie den Transport im Umlauf nicht. Zu Wartungszwecken oder Mengenanpassungen – dem so genannten Scale-up-Szenario – lassen sich weitere Bearbeitungsstationen an beliebiger Stelle an das Umlaufsystem andocken. Auf diese Weise können Rüstzeiten verkürzt und die Produktivität gesteigert werden.
Die Anlage erkennt die zur Herstellung notwendigen Prozessstationen autonom
Jede autonome Bearbeitungsstation beinhaltet eine eigene SPS, die die lokalen Funktionen der Station steuert. Das übergeordnete Leitsystem kennt den aktuellen Auslastungsgrad der Anlage sowie den Bearbeitungsstand der Variante und koordiniert auf diese Weise die einzelnen SPS. Darüber hinaus ist das Leitsystem über die aktiv angemeldeten Bearbeitungsstationen informiert, weil es ihre Eigenschaftenbeschreibung auslesen kann. Daher können Stationen getauscht, das heißt ab- und angedockt werden. Ferner lassen sich neue Bearbeitungsstationen mit optimierten Prozessfunktionen oder einem erweiterten Funktionsumfang respektive Stationen mit neuen Prozessfunktionen zur Herstellung anderer Modulvarianten assistenzgeführt durch den Maschinenbediener einfach in das Produktionskonzept integrieren.
Die nächsten Evolutionsschritte hin zu einem adaptiven Fertigungssystem bedingen eine Weiterentwicklung von Technologien und Verfahren zu einem Plug-and-Produce-Konzept. In Zukunft erkennt die Anlage autonom, welche Prozessstationen zur Herstellung einer Komponente erforderlich sind. Diese werden dann zusammengestellt, logisch miteinander verbunden und erhalten den Datensatz für das jeweilige Produktionslos. Die Ablaufsteuerung, das Leitsystem und die Visualisierung für die Assistenzsysteme an den Handarbeitsplätzen werden automatisch parametriert und für den Beginn der Fertigung vorbereitet. Durch die intelligente Interaktion der verschiedenen Steuerungen oder des Leitsystems mit den Leitsystemen weiterer Anlagen lassen sich auf Basis der verfügbaren Informationen Vorhersagen über den zukünftigen Materialbedarf treffen. Dieser wird, wie in Bild 4 zu sehen, zur Herstellung der jeweiligen Baustufe zeitgerecht in der benötigten Menge bereitgestellt.

Abbildung 4: Der digitale Artikel steuert die Produktion.
Mitarbeiter handeln eigenverantwortlich
Die Umsetzung des Leitgedankens Industrie 4.0 führt zu einer nachhaltigen Beeinflussung der Arbeitswelt. Neben der technisch geprägten Diskussion über die intelligente Fabrik der Zukunft müssen die Rollen und Aufgaben der Menschen betrachtet werden. Denn die funktionale Arbeitsteilung wird durch die Notwendigkeit einer prozessorientierten übergreifenden Zusammenarbeit abgelöst. Das bedeutet, dass die Mitarbeiter die Prozessabläufe gemeinsam planen und optimieren. Industrie 4.0 steht für die Parallelität und integrative Vernetzung des Entwicklungs- und Fertigungsprozesses, auch als Collaboration bezeichnet. Die prozessorientierte übergreifende Zusammenarbeit beginnt bereits während der Entwicklungsphase. Die Konzeption von Produkten und die Planung ihrer Produktion bedingen hier eine erweiterte Form der teamorientierten Kooperation, was hohe Ansprüche an die soziale Schnittstellenkompetenz stellt. Auf der technischen Seite müssen IT-Technologien und industrielle Kommunikation verschmelzen und zukunftweisende Automatisierungskonzepte erarbeitet werden. Dabei wird sich die Rolle der Bedienung und Betreuung der Anwendungen dahingehend wandeln, dass der Mitarbeiter als Erfahrungsträger Probleme lösen muss und Entscheidungen trifft. Festgeschriebene Arbeitsanweisungen werden somit durch eigenverantwortliches Handeln ersetzt.
Aufgrund der Vernetzung der Assistenzsysteme stehen kontextbezogene Informationen zur Verfügung, die der Bediener in der aktuellen Situation bewertet und Handlungen ableitet. Als Beispiele seien Arbeitsanweisungen an Handarbeitsplätzen, Empfehlungen für den effizienten Betrieb der Fertigung oder Anleitungen zur Störungsbeseitigung und Wartung genannt. Durch die Interaktion lässt sich die Arbeitsweise und Aktivität des Anwenders dokumentieren, auswerten und nachfolgend als Information für andere Mitarbeiter anbieten. Auf Grundlage zusätzlicher Daten können diese dann beispielsweise feststellen, ob die Anlage wirtschaftlich produziert. Die Vernetzung der Assistenzsysteme ermöglicht ferner die Bereitstellung von Schulungsunterlagen vor Ort, welche die Funktionsweise einzelner Komponenten oder ganzer Einheiten erläutern. Fachwissen liegt also schnell vor und unterstützt den Mitarbeiter interaktiv beim Know-how-Aufbau, wie Abbildung 5 zeigt.

Abbildung 5: Rollen- und situationsbezogen arbeiten Menschen und Maschinen zusammen.
Unternehmensübergreifende Standards müssen entwickelt werden
Maschinen, Betriebsmittel und Lagersysteme lassen sich durch Nutzung von Internettechnologien unternehmensübergreifend vernetzen. Durch die Verfügbarkeit und Analyse der von Sensoren und Aktoren gelieferten Prozessdaten können neue Dienstleistungen angeboten werden, was weitere Geschäftsmodelle nach sich zieht. Die Integration in die kaufmännischen Prozesse stellt einen der wichtigsten Schritte für Industrie 4.0 dar, um die Kommunikationskette vom Auftrag bis zur Rechnungsstellung und Nachkalkulation zu unterstützen. Denn durch die nahtlose Einbindung von Geschäftsprozessen und Automatisierungslösungen reduziert sich der manuelle Nachbereitungsaufwand. Außerdem wird die Bestellabwicklung beschleunigt und Bearbeitungsfehler werden vermieden. Voraussetzung dafür ist die einheitliche digitale Beschreibung der herzustellenden Komponente in Form eines digitalen Artikels. In diesem Zusammenhang sind unternehmensübergreifende Standards zu entwickeln, damit die derzeitige Heterogenität der ERP- und Automatisierungswelt überwunden wird.
Frank Knafla