Die Rettung der Tischler
Wie digitale Werkzeuge die Möbelbranche revolutionieren können – und warum sie es müssen
Alessandro Quaranta, Okinlab GmbH
(Titelbild: ©formbar)
Kurz und Bündig
Über zwölf Prozent weniger Wohn-, Ess- und Schlafzimmermöbel wurden 2023 verkauft, auch der Januar 2024 bestätigt den Trend. Dieser Einbruch trifft auf eine bereits gebeutelte Industrie samt fortschreitender Insolvenzwelle. Neben der Zurückhaltung der durch wirtschaftliche Sorgen verunsicherten Kundschaft entwickelt sich zunehmend der hohe Anspruch der Möbelkäuferinnen und -käufer auf Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit, Regionalität und hohe Qualität. Eine Chance, die Branche wieder erfolgreich zu machen, liegt in der umfassenden Digitalisierung vom Konzept über den Vertrieb bis zur Produktion.
Im Plot eines Dramas würde es so klingen: Es ist das Jahr 2024, und die Welt des Möbelbaus steht vor einer bedrohlichen Krise. Die Möbelbranche, einst stolz auf ihre Handwerkskunst und Traditionen, erlebt einen beispiellosen Niedergang. Die ersten Anzeichen waren kaum zu übersehen. Umsätze brachen zweistellig ein, als würden die Fundamente des Geschäfts unter dem Druck einer unsichtbaren Kraft erodieren. Kleine Werkstätten, die seit Generationen in Familienbesitz waren, verschwanden über Nacht. Eine Welle von Fusionen und Übernahmen durchlief die Industrie, während Chaos und Unsicherheit die Branche überfluteten. Eine schimmernde Hoffnung inmitten des Verfalls ist die digitale Revolution. In einer Welt, die vom Fortschritt der Technologie geprägt ist, suchen die Verbliebenen der Möbelbranche Zuflucht in digitalen Werkzeugen…
…Digitale Werkzeuge sind ihre letzte Bastion, ihre größte Chance, das Erbe ihrer Vorfahren zu bewahren und in eine neue Ära des Möbelbaus zu führen. Cut! Ja, dieser Einstieg klingt nach einem Science-Fiction-Drama. Streicht man die Filmsprache weg, dann beschreibt der Text ungeschönt das, was heute, in diesem Moment, in der Möbelbranche passiert. Markus Meyer, Präsident des Handelsverbands Möbel und Küchen (BVDM), hatte im Januar dieses Jahres in den Medien genau diesen beängstigenden Trend samt düsterer Prognose verkündet. Natürlich ohne Film Metaphorik. Stattdessen in nüchternen Zahlen. Über zwölf Prozent weniger Wohn-, Ess- und Schlafzimmermöbel wurden 2023 verkauft, meldeten die Verbände der deutschen Möbelindustrie (VDM/VHK). Auch der Januar 2024 lief laut Industrie-Expert:innen schlechter als in den Vorjahren. Das ist eine Tragödie. Bringen gerade die Hochzeiten des Winters quasi in jeder Woche gerne mal die Summen eines ganzen Sommermonats.
Oder sogar mehr. Dieser Einbruch trifft auf eine bereits seit dem Vorjahr gebeutelte Industrie samt fortschreitender Insolvenzwelle. Diese wiederum trifft auf eine globale Inflation, Unsicherheiten im Energiemarkt – und am Ende stehen verunsicherte Kund:innen, die Käufe von Möbeln verschieben müssen oder ganz ausfallen lassen, weil sie nicht wissen, was das Jahr noch an Belastungen für sie bringen wird. Diese Probleme und Sorgen erleben wir täglich in Gesprächen mit unseren Kund:innen, mit unseren Schreiner:innen und auch mit der Politik, beispielsweise auf den großen Möbelmessen. Was sich auch zeigt: Es ist nicht allein die depressive Kaufstimmung, die dem Handwerk zu schaffen macht. Die gesamte Möbelbranche hat zudem weitere Umwälzungen anzupacken, die nicht weniger als eine Revolution ihres gesamten Produkt- und Produktionsportfolios bedeuten. Nachhaltigkeit, Klimaverträglichkeit und Regionalität gepaart mit hohem Qualitätsanspruch – nie zuvor waren sie für Möbelkäufer:innen so wichtig wie heute. Gerade für die jüngere Generation. Dies alles zu vereinen und so dem wachsenden Druck einer verunsicherten, sich umwälzenden Branche gerecht zu werden, kann durch eine einzige Sache gelingen: die Digitalisierung der Möbelbranche.
Und genau auf diesen Weg haben wir uns als form.bar 2013 gemacht – erst als ambitioniertes Startup mit der Vision eines völlig neuen und einzigartigen Design-to-Production-Prozesses. Und heute, gut zehn Jahre später, sehen wir uns damit mit an der Spitze der Digitalisierungsbewegung des Möbelmarktes. Aber was genau machen wir? Auf www.form.bar vernetzen wir individuelle Wünsche von Kund:innen mit der Handwerkskunst regionaler Schreiner:innen und Tischler:innen. Unser Konzept ist simpel: Wir versenden keine Produkte mehr, sondern Daten. Das Ergebnis: Statt Möbel von einer Fabrik aus kostenintensiv verpackt um die Welt zu schicken, nutzen wir bestehende Maschinenkapazitäten vor Ort bei den Schreiner:innen und den Kund:innen. Den Kund:innen selbst geben wir mit unserer Plattform ebenfalls digitale Werkzeuge an die Hand, um ihre Vorstellungen eines perfekten Möbels spielerisch in 3D zu formen. So entstehen Möbel, die so besonders sind wie die Menschen, die sie für sich designed haben. Möbel, die von Schreiner:innen gefertigt wurden und eine ganz persönliche Geschichte erzählen. Möbel, die nur möglich wurden, weil digitale Werkzeuge es möglich gemacht haben. Um es einmal im pathosfreien Business-Sprech zu sagen: Wir verbinden mit form.bar den Design- mit dem Fertigungsprozess auf eine innovative und bis heute einzigartige Weise. Alle Kund:innen können ihr Möbel online durch Klicken und Ziehen intuitiv selbst gestalten, ohne Vorkenntnisse in Konstruktion oder Architektur. form.bar steht für eine absolut freie Formbarkeit, das heißt, es geht wirklich um Gestaltung, nicht nur um ein Regal, das ein paar Zentimeter größer oder kleiner ist und aus weißem Multiplex oder in Eiche rustikal besteht. Kund:innen müssen nur wissen, was sie wollen, und können dann mit dem inzwischen vielfach ausgezeichneten 3D-Konfigurator starten. Mit dem komplexen Konstrukt im Hintergrund – Statikprinzipien, mathematische Optimierung – müssen sie sich nicht beschäftigen. Denn ein Algorithmus in der Software sorgt dafür, dass sich die Proportionen der einzelnen Elemente harmonisch verändern und das Möbel immer natürlich geformt aussieht. Der Algorithmus simuliert das Schwarmverhalten von Fischen und Vögeln. Wird das Möbel im Konfigurator an einem Punkt modifiziert, verwandelt sich synchron das Gesamtgebilde zu einer stets natürlichen Einheit. In Echtzeit wird jede Änderung des Designs und der Preis angezeigt. Sobald die Designer:innen am Bildschirm fertig gestaltet haben, geht die Bestellung bei uns ein, wird nochmals automatisch und im Einzelfall
auch von form.bar-Designer:innen geprüft. Dann erstellt die Software die Fertigungsdaten für eine CNC-Fräse. Das bedeutet, das Möbel wird in seine Einzelteile zerlegt, mit allen Informationen, die notwendig sind, damit es hergestellt werden kann. Dieser Datensatz geht mit Fertigungsdatum und Preis an Schreiner-:innen in der Nähe der Kund:innen, die das Möbel fertigen, ausliefern und auf Wunsch aufbauen.
Lief die Vergabe von Aufträgen zuvor überwiegend über Mail und Telefon, erfolgt sie im Jahr 2024 automatisierter, strukturierter und transparenter auf einem Online-Marktplatz. Dort können sich die Schreiner-:innen aktiv regionale Aufträge sichern, auch erfolgt die Kommunikation mit Kund:innen früher und direkter. Sie profitieren also ebenfalls von smarten Tools. Und das zahlt sich auch finanziell für sie aus. Heute arbeiten wir bereits mit gut 100 Schreinerei-Partner-:innen in Deutschland und anderen Ländern zusammen. Oft sind es Familienbetriebe. Sie können durch die Kooperation die Auslastung ihrer in der Anschaffung sehr teuren digitalen Fertigungsmaschinen erhöhen, neue Kund:innen gewinnen und am wachsenden Online-Möbelmarkt teilhaben. Besonders aktive Betriebe erreichen ein Drittel ihrer finanziellen Jahresumsatzes mit form.bar-Möbeln. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dem wir den form.bar-Design-to-production- Prozess vor knapp zwei Jahren persönlich vorstellen durften, bedankte sich damals sogar für „die Rettung der Tischler“. Ein dramatisches Wording, das uns ehrt und zeigt, wie Technologie eingesetzt werden kann, um kleinen und mittelständischen Unternehmen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Die Jury des Deutschen Gründerpreises sah das beispielsweise auch so: form.bar nutze „den Trend zur Individualisierung und zeigt die Chancen der Digitalisierung für das traditionelle Handwerk. Das erschließt auch kleineren Betrieben neue Zielgruppen“, urteilte sie bereits 2016. Und unser Produkt kommt auch bei den Kund:innen an. form.bar hat allein die vergangenen sieben Jahre in Folge den Titel „Deutschlands bester Online Händler“ gewinnen können.
Doch Stopp: Lob dahin, wo es hingehört. Ohne externes Know-how hätte form.bar diesen Weg sicher nicht so schaffen können. Wir haben uns schon früh für Investor:innen geöffnet und wirklich namhafte Köpfe für uns und unsere Vision gewinnen können. Diese haben uns natürlich finanziell unterstützt, was existenziell war. Eine innovative Software samt einzigartigem, digitalen Fertigungsprozess zu schaffen, ist ein enormer Kostenfaktor. Wichtig und bis heute sogar noch wichtiger als Geld war es, dass wir Menschen von form.bar überzeugen konnten, die ihren visionären Weitblick in der Praxis bereits unter Beweis gestellt haben. So wie beispielsweise Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer. Der Gründer der Scheer Unternehmen ist einer der einflussreichsten Köpfe der Digitalisierung und – unumstritten – Pionier der globalen Technologiebranche. Sein YCIM-Produktionsmodell ebnete dabei nicht nur den Weg für die Industrie 4.0, sondern wirkt auch in unserem Design-to-Production-Prozess, von dem heute alle unsere Kund:innen und Schreiner:innen profitieren. Scheer und form.bar war und ist also ein Match, dass sich mehr als ausgezahlt hat und auszahlt: für Schreiner:innen, für Kund:innen, Investor:innen, uns und für die Umwelt. Der dezentrale Produktprozess spart in erheblichem Umfang schädliches CO₂ ein. Das belegt beispielsweise eine Studie der Hochschule Darmstadt. Möbel von form.bar sind demnach deutlich besser für das Klima, besser für die Gesundheit des Menschen, schonen Ressourcen und tragen zum Erhalt der Artenvielfalt bei. form.bar weist über den gesamten Lebensweg hinweg in allen 17 untersuchten Aspekten bessere Werte auf als ein vergleichbares Möbel aus dem traditionellen Handel – unter anderem 55 Prozent weniger CO₂. Die CO₂-Einsparungen durch den Kauf von form.bar-Möbeln entsprachen schon damals bereits einer Autofahrt von fünf Millionen Kilometern, also 125 Mal um die Welt!
Und was heißt das jetzt mit Blick auf das düstere Science-Fiction-Szenario des Einstiegs? Vielleicht das: Die Möbelbranche hat aktuell mit großen Problemen zu kämpfen. Wer in fünf Jahren noch ein relevanter Marktplayer sein will, muss sein Geschäftsfeld durch neue Netzwerke erweitern und den Wandel selbst in die Hand nehmen. Sonst entscheiden bald andere über die eigene Zukunft. Doch es gibt einen Ausweg: Wer Digitalisierung als Chance begreift und smarte Technologie kreativ einsetzt, kann bestehen und sogar neue Märkte für sich erobern. Wir sind sicher, die Möbelbranche ist digital formbar. Sie muss es aber auch tun.