Kopf an Kopf mit Online-Anbietern
Wie der stationäre Handel mithalten kann
Sebastian Kreibich, Dirk Werth, Angela Promitzer, August-Wilhelm Scheer Institut
Kurz & Bündig
Intelligente In-Store-Technologien, wie visuelles Kunden-Tracking, bieten für den stationären Handel neue Möglichkeiten, Informationen über seine Kunden zu erhalten. Das Einkaufserlebnis kann so zielgerichtet an die Kundenanforderungen angepasst werden. Dies bietet dem stationären Handel somit die Möglichkeit, sich gegenüber dem immer weiterwachsenden Online-Handel auf Augenhöhe zu behaupten und Kunden zu begeistern.
Der stationäre Einzelhandel steht vor einer nie dagewesenen Herausforderung. Seit Jahren gibt es eine kontinuierliche Abwanderung hin zum Online-Handel. Durch die Corona-Krise wurde diese Transformation noch einmal beschleunigt. Dabei spielen die Onlineplattformen ihren größten Wettbewerbsvorteil aus: Die Auswertung von Kundendaten. Neue digitale Entwicklungen bieten jedoch Potenziale, die auch den stationären Handel bei der Planung, Überwachung und Steuerung des Kundenverhaltens zu unterstützen vermögen.
Seit 20 Jahren wächst der Online-Handel rasant und nimmt dem stationären Handel immer mehr Marktanteile ab. Allein von 2018 auf 2019 konnte der Online-Handel seine Umsätze von 53 auf 59 Mrd. Euro steigern und erzielte 2019 einen Marktanteil von 11 % am gesamten Einzelhandel [1]. Die COVID-19-Pandemie hat diesen langjährigen Trend zusätzlich beschleunigt. Zum Start des ersten Lockdowns im März 2020 gab es, mit Ausnahme lebensnotwendiger Bereiche, einen sofortigen Wechsel zum reinen Online-Angebot. In einer Umfrage von September 2020 gaben 87 % der deutschen Befragten an, während der Pandemie online eingekauft zu haben [2]. Die aktuelle Krise beschleunigt daher auch den Wandel im Käuferverhalten, der insbesondere durch die jüngere Generation ausgelöst wird. Kunden setzen sich online immer stärker direkt mit den Marken und Produkten auseinander und haben unter anderem die Möglichkeit, Preise einfacher zu vergleichen [3]. Traditionelle, vor allem kleine und mittelständische Einzelhändler stellt diese Entwicklung vor große Herausforderungen. Gleichzeitig haben sie die Chance, sich die Digitalisierung zunutze zu machen. Sie können im Angesicht der Krise nach alternativen Vertriebswegen wie Online-Marktplätzen, Lieferservices und Click & Collect oder neuen Wegen der Kundenkommunikation, wie beispielsweise Social Media, suchen. Immerhin 30 % der stationären Händler sind mittlerweile auch im Online- Handel aktiv [1].Es geht jedoch nicht nur darum, die digitalen Kanäle intensiv und intelligent zu bespielen, sondern ebenso die Digitalisierung auf dem Shop-Floor voranzutreiben.
Dazu sollten sogenannte In-Store-Technologien schnell integriert werden, um neue Services anzubieten und die internen Prozesse zu optimieren [3]. Von dem Einsatz und der Erfahrung mit solchen In-Store-Technologien können die Händler auch nach der Krise dauerhaft profitieren, da sie den entscheidenden Marktvorteil gegenüber Mitbewerbern und dem Online-Handel bringen können. Der Online-Handel hat im Vergleich zum stationären Handel den großen Vorteil, dass er sehr einfach Informationen über seine Kunden sammeln kann. 70 % der Unternehmen, die Waren über Online-Shops verkaufen, analysieren auch die Daten, die dabei generiert werden. Durch den Online-Einkaufsprozess entstehen so einerseits Daten, die auch der stationäre Handel erheben kann. Diese beinhalten beispielsweise die Rechnungshöhe einzelner Einkäufe, die Anzahl der gekauften Produkte pro Einkauf oder die verwendete Zahlungsart. Andererseits kann ein Online-Shop noch zusätzliche Daten zum Kaufverhalten der Kunden liefern, die der stationäre Handel kaum oder nur äußerst aufwendig, beispielsweise durch Beobachtungen und Befragungen, erlangen kann. Dazu zählen unter anderem die Kaufabschlussrate (Conversion), die Verweildauer im Geschäft, in Abteilungen und bei Produkten und die Information, ob es sich bei dem Käufer um einen Bestands- oder Neukunden handelt [4].
Durch diese Informationen können Online- Shops ein viel detaillierteres Profil der einzelnen Kunden erstellen, als es im stationären Handel aktuell der Fall ist. Dieses Profil kann für Produktempfehlungen verwendet werden, die wiederum den Umsatz des Online-Stores steigern. Auf Amazon basieren bereits 35 % aller Käufe auf Produktempfehlungen [5]. Kundenspezifische Produktempfehlungen können im stationären Einzelhandel nur über persönliche Beratung ausgesprochen werden, was naturgegeben einen hohen Personalaufwand fordert. Die Kunden möchten jedoch nach wie vor Produkte erleben, sie also fühlen und sehen und vor Ort ausprobieren. Das stationäre Geschäft ist kein Auslaufmodell. Insbesondere die großen Online-Marktführer wie Amazon oder Zalando haben dies erkannt und eröffnen im Sinne von Omni-Channel-Lösungen eigene Läden oder Showrooms. Dabei nutzen sie ihre online gewonnenen Kundendaten für den stationären Handel und gestalten mit Hilfe von Data Analytics ihr Produktsortiment [3].
Voraussetzung für die Chancengleichheit des stationären Handels ist also ein tieferes Verständnis der Kunden. Alle Mitarbeiter mit Kundenkontakt sollten jederzeit wissen, wo Kunden auf der Fläche unterwegs sind, wofür sie sich interessieren und was ihre Einkaufsgewohnheiten sind. Um das Kundenverständnis auf dem Shop- Floor auf einem ähnlichen Niveau wie im Online- Handel zu messen, gibt es am Markt immer bessere In-Store-Technologien, die vielerorts bereits prototypisch im Einsatz sind.
Ein Ansatz zur Analyse des Kundenverhaltens auf dem Shop-Floor basiert auf der Nutzung von Smartphone-Daten, da nahezu jeder Kunde ein Smartphone bei sich trägt. Hierbei können zwei Hauptvarianten unterschieden werden: Tracking mittels WLAN und mittels Bluetooth. WLAN-basiertes Tracking nutzt den Fakt, dass Smartphones (bei eingeschalteter WLAN-Funktion) permanent nach WLANZugangspunkten suchen und dadurch die Position des Kunden sehr genau bestimmt werden kann. Bluetooth-basiertes Tracking benötigt eine spezielle App, die Bluetooth-Signale von speziellen Sendern empfängt, die im Laden platziert sind. Durch die Signale von unterschiedlichen Bluetooth-Sendern kann die genaue Position des Smartphones und damit des Kunden bestimmt werden. Beide Technologien haben den entscheidenden Nachteil, dass nicht alle Kunden erfasst werden, weil je nach Methode entweder die WLAN-Funktion eingeschaltet oder sogar eine spezielle App installiert werden muss. Durch diese Hürden ist eine vollständige Erfassung nicht gewährleistet.
Eine lückenlosere Datenerfassung bietet beispielsweise ein Kamera-basiertes Tracking-Verfahren. Ein solcher Ansatz ist die CIRATechnologie, die am August-Wilhelm Scheer Institut entwickelt wird. Mit Hilfe von marktüblichen Multi-Kamera-Systemen wird der gesamte Ladenbereich erfasst. Auf den Kamerabildern werden anonymisiert Personen detektiert, wodurch wiederum die Bewegungspfade von Kunden mit Hilfe von KI-Methoden extrahiert werden können. Dies geht weit über den Detailgrad gängiger Heatmaps hinaus.
Diese Kundenpfade bilden die Basis für zahlreiche Analysen, die dem Verkaufsleiter oder auch den Mitarbeitern, gegebenenfalls in Echtzeit, auf einem Dashboard (siehe Abbildung 2) zur Verfügung gestellt werden können. Beispielhafte Analysen sind die Verweildauer der Kunden im Laden und in einzelnen Abteilungen oder besonders hoch und niedrig frequentierte Teile des Ladens. Außerdem kann die Anzahl der Besucher mit der Anzahl der tatsächlichen Käufer verglichen werden, um so einen Eindruck der Kaufabschlussquote zu erhalten. Die Bilddaten werden dabei anonymisiert ausgewertet und zu keinem Zeitpunkt abgespeichert, um eine datenschutzkonforme Umsetzung zu gewährleisten.
Die Daten, die durch die vorgestellten Tracking- Methoden erfasst werden, können wertvolle Informationen liefern, die den stationären Handel weiterhin wettbewerbsfähig machen. Die Verweildauer der Kunden in einzelnen Abteilungen kann beispielsweise eine schlecht besuchte Abteilung aufzeigen. Diese kann daraufhin attraktiver gestaltet oder an eine günstigere Position verlegt werden. Die aggregierten Laufwege der Kunden zeigen Potenzial für die bestmögliche Platzierung neuer oder zum Abverkauf priorisierter Produkte, die von vielen Kunden bemerkt werden sollen. Auf diese Weise können auch Ladenhüter durch die gesteigerte Aufmerksamkeit mit geringeren Preisnachlässen verkauft werden. Durch den Vergleich von Käufer- und Besucheranzahl kann evaluiert werden, ob Bedarf besteht, die Kaufabschlussrate zu erhöhen, und ob entsprechende Maßnahmen in diese Richtung Wirkung zeigen.
Im optimalen Fall sollten diese In-Store-Lösungen intelligent mit dem Backend des Händlers verknüpft sein, um das Potenzial im Einklang mit gängigen Kundenanalysen ganzheitlich zu steigern. So können die erhobenen Daten nach Datenanalyse und -aufbereitung mit der klassischen Einzelhandelssoftware wie dem Warenwirtschaftssystem über eine Schnittstelle als neues Architekturkonzept in Echtzeit verbunden werden. Daraus ergeben sich eine transparente Entscheidungsgrundlage für den Marktleiter und potenzielle Maßnahmen für den intelligenten Einsatz der Mitarbeiter.
Das Jahr 2020 hat es gezeigt: Einige Firmen profitieren von der Krise, weil sie ein großes Maß an Unternehmergeist an den Tag legen. Wir sehen Geschäftsmodellentwicklung im Zeitraffer. Was vorher mitunter Wochen, Monate oder Jahre gedauert hätte oder gar nicht möglich erschienen wäre, wird nun in kürzester Zeit realisiert. Für den stationären Handel entfalten sich so neue Herangehensweisen: Schnelle Integration intelligenter Lösungen statt theoretischer Konzepte, agiles Ausprobieren statt detailliertem Planen und Schnelligkeit vor Genauigkeit. Die aktuelle Forschung und insbesondere die vielen Anwendungsbeispiele zeigen, wie der stationäre Handel durch die voranschreitende Digitalisierung neue Möglichkeiten nutzen kann, um konkurrenzfähig zu bleiben. Neben dem Angebot regionaler und nachhaltiger Produkte, neuer Vertriebswege sowie Omni-Channel- Ansätzen spielt der zunehmende Einsatz intelligenter In-Store-Technologien die wesentliche Rolle auf dem Weg zum Wandel im Handel. Die aktuelle Krise soll für viele Händler die Chance sein, sich mit diesem Thema zu befassen und damit gestärkt in die Zukunft zu blicken.
(Bildquelle: AdobeStock | 130439644|zapp2)