Das Lernen endet nicht beim Individuum
Auch Organisationen müssen sich weiterbilden
Jan Hoßfeld, INFOsys Kommunal GmbH
Kurz & Bündig
Die Corona-Pandemie zwingt viele Unternehmen, ihre Abläufe zu digitalisieren. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen in kurzer Zeit vieles lernen. Das allein reicht aber nicht, denn die Digitalisierung trifft auf alte Unternehmenskultur. Deshalb ist es für den Erfolg von Unternehmen entscheidend, wie stark sie an sich, ihrer Kultur und dem Lernen als Organisation arbeiten. Den Führungskräften kommt dabei eine wichtige Rolle zu, die anzunehmen und auszufüllen der kritische Pfad für die Weiterentwicklung der Firmen ist.
In Krisenzeiten stehen Unternehmen oftmals vor tiefgreifenden Veränderungsprozessen. Es handelt sich um Veränderungen sowohl auf strategischer als auch auf kultureller Ebene. Sie betreffen dabei nicht nur die Mitarbeiter, sondern auch die Betriebe als solche. Eine ganzheitliche Weiterentwicklung der Organisation scheint daher unerlässlich. Wird die Unternehmenskultur gelebt und gelingt es, Denkweisen zu adaptieren, können Krisen auch als Chancen begriffen werden.
Corona hat die Welt fest im Griff. Was vorher undenkbar erschien, wurde in Rekordzeit Realität: Viele Menschen arbeiten seit Wochen und Monaten von zu Hause aus. Werkzeuge wie Zoom oder Microsoft Teams kommen kaum noch hinterher, wenn es darum geht, benötigte Kapazitäten bereitzustellen. Gleichzeitig müssen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter lernen, nicht nur damit umzugehen, sondern auch erfolgreich ihre Arbeit zu tun.
Kultur ist genauso wichtig wie Technik – wenn nicht sogar wichtiger
Diese rasante Entwicklung, getrieben von der Notwendigkeit, trifft dabei auf teilweise unvorbereitete Unternehmen. Denn so wichtig es ist, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich der Situation anpassen, so wichtig ist es auch, dass die Unternehmen dasselbe tun. Dabei reicht es nicht aus, Notebooks, WLAN und Telefone bereitzustellen oder die Arbeitszeiterfassung online möglich zu machen.
Viel wichtiger als diese strategischen Überlegungen, so richtig sie sind, ist die Kulturänderung, die damit verbunden ist. Schon Peter Drucker, oft als „Management-Papst“ bezeichnet, stellte fest: „culture eats strategy for breakfast“. Bislang hat er damit Recht behalten.
Natürlich gibt es auch unter den Unternehmen Vorreiter: Solche, die in ihrer Denkweise und ihrem Handeln alle notwendigen Voraussetzungen mitbringen. Doch eine große Zahl von Firmen ist eben noch nicht „kompatibel“ mit der neuen Welt. Diese Kompatibilität herzustellen ist vielleicht die wichtigste Führungsaufgabe, die Verantwortliche aus der Corona-Krise mitnehmen können.
Denkweisen ändern sich nur langsam
Wenn ein Unternehmen Lizenzen und Hardware für das Home-Office bereitstellt, heißt das noch lange nicht, dass die Ergebnisse anschließend passen. Ganz im Gegenteil: Um erfolgreich über Distanz gemeinsam Ziele zu erreichen, benötigt man eine Kultur, die dieses Ziel fördert und unterstützt.
Hier beginnt die Arbeit der Verantwortlichen. Und es ist eine lange, schwierige Arbeit, Kultur zu ändern. Die Unternehmenskultur ist etwas, das kaum messbar ist. Dennoch hat sie auf alles, was im Unternehmen passiert, und vor allem darauf, wie es passiert, großen Einfluss. Nimmt man das offensichtlichste Beispiel, wird es klarer: In den meisten Arbeitsverträgen sind Arbeitszeiten enthalten. Unternehmen messen also, wie lange ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für sie anwesend sind. Im Gegenzug erhalten sie dafür ein festgelegtes Gehalt. Es ist also ein Tausch von (physischer) Präsenz gegen Geld.
Mit Home-Office wird es schwierig, diesen Tausch zu messen, denn man sieht schlichtweg nicht, ob eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter präsent ist. Die Verunsicherung, die dann viele Führungskräfte ereilt, ist, „macht der oder die überhaupt noch seinen oder ihren Job?“.
Unternehmen müssen lernen – nicht nur die Mitarbeiter!
Das obige Beispiel ist nur eines von vielen möglichen, aber ein für viele Menschen bekanntes. Die Corona-Krise erfordert von allen viel Lernen und ein neues Denken. Unternehmen, die bislang eine Präsenzkultur hatten oder „Turnschuh-Administration“ betrieben haben („ich gehe mal schnell zu dem ins Büro und kläre das“) sind gezwungen umzudenken. Zumindest möchte man das meinen. Stattdessen lässt sich beobachten, wie die alten kulturellen Regeln einfach auf Entfernung weitergeführt werden. Meetings finden als Telefonkonferenz statt, die Zeit wird weiter gemessen (nur mit anderen Werkzeugen) und das Management arbeitet genauso weiter, wie es das schon immer getan hat.
Damit verschenken wir aber die Chance, diese Krise zur Weiterentwicklung des Unternehmens zu nutzen!
Es gibt kaum einen besseren Katalysator für großen Wandel als tiefgreifende Ereignisse – wie zum Beispiel die Pandemie. Ob sie diese Chance nutzen, wird florierende von schrumpfenden Unternehmen unterscheiden.
Jede Krise ist auch eine Chance
Was also können Unternehmen tun, um diese Chance zu nutzen?
Zuallererst sollten die Verantwortlichen, das heißt Unternehmer und Führungskräfte im Unternehmen, sich bewusst machen, dass Kultur ihre Aufgabe ist. Die gelebte Kultur in einer Firma ist ein Zusammenspiel aus Vorgaben und beobachtbaren Beispielen und dem Handeln der Mitarbeiter. Diese Kultur positiv zu verändern, muss „oben“ beginnen, mit klarer Zielsetzung, durch aktives Vorleben und mit entsprechender Förderung der gewünschten Verhaltensweisen.
Einige Beispiele für gelebte Unternehmenskultur
Ein Beispiel, das viele Leserinnen und Leser kennen, ist das der besten Fachkraft. In vielen Unternehmen werden vor allem diejenigen befördert, die am besten in ihrem Fach sind. So ist es nicht selten der Fall, dass beispielsweise in Pharmaunternehmen promovierte Naturwissenschaftler Führungskräfte sind. Das ist ein Beispiel für gelebte Kultur. Sie sagt aus, „bist Du die beste Fachkraft, wirst Du Führungskraft“ oder „alleine Deine fachliche Leistung entscheidet über Deinen beruflichen Erfolg“. Ob das allerdings wünschenswert ist, darüber lässt sich streiten. Nicht selten sind solche Fachkräfte dann schwierige Führungskräfte, denn ihnen fehlt die eigentliche Führungskompetenz. Das ist auch kein Wunder, denn sie wurden wegen ihrer Fachkompetenz befördert! Im schlimmsten Fall entsteht dann ein Flaschenhals, da die fachliche Arbeit der Abteilung durch das Wissen der Führungskraft limitiert ist oder, im Falle einer Sicherung der eigenen Position, sogar gebremst wird. Wer duldet denn schon gern andere Götter neben sich?
Ein anderes Beispiel ist die Meetingkultur. Wie oft bekommen wir Einladungen für zweistündige Meetings, zu denen wir dann mangels klarer Aufgaben und Agenda unvorbereitet kommen. Nachdem die zwei Stunden dann vorbei sind (meist noch mit etwas Überlänge), gehen alle frustriert hinaus – denn wirklich gebracht hat das Meeting gar nichts.
Diese beiden Punkte sind nur zwei von vielen Bereichen, in denen sich die Unternehmenskultur zeigt. Und sie sind, in Zeiten von Corona, auch Beispiele dafür, wie es nicht weitergehen sollte.
Wie sich „alte“ Kultur negativ auswirken kann
Transferiert man die beiden Beispiele auf die aktuelle Situation, ist es nicht schwer, die Auswirkungen zu prognostizieren.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden momentan komplett aus ihren gewohnten Abläufen gerissen. Der Arbeitsort ist variabel, die Kinderbetreuung und Schulen teilweise geschlossen, selbst Einkaufen geht nur noch unter Auflagen. Parallel zu diesen Herausforderungen, die für die meisten schon groß genug sind, sollen sie auch noch neue Abläufe und Techniken erlernen und sofort anwenden. Diese Situation empfinden die Menschen als Unsicherheit. Konfliktpotenzial entsteht, wo diese Unsicherheit auf eine unpassende Kultur trifft. Bleibt man bei den obigen Beispielen, verstärkt sich mangelnde Führungskompetenz auf Entfernung – denn mindestens die Körpersprache fällt bei der Kommunikation zwischen Führungskraft und Team weg. Wenn das Verhältnis aufgrund fehlender Führungskompetenz vorher schon angespannt war, ist es sehr gut möglich, dass diese Spannungssituation in einer (personellen) Katastrophe endet. Qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter können unter diesem Eindruck verstärkt über einen Tapetenwechsel nachdenken, was angesichts der Wichtigkeit des Teams als Ressource für praktisch alle Unternehmen die Einstellung des Geschäfts bedeuten kann.
Auch Meetings sind via Telefonoder Videokonferenz nicht einfacher. Zum Inhalt des Meetings kommen neue Faktoren hinzu. Das beginnt bei technischen Problemen, wie den unvermeidbar nicht stummgeschalteten Mikrofonen, und erstreckt sich bis zur kognitiven Überforderung beim Versuch, unbewusst die 15 anderen Menschen auf dem eigenen Bildschirm gleichzeitig zu erfassen und einzuschätzen. Das Phänomen hat sogar schon einen eigenen Namen: Zoom-Fatigue. Wenn dann noch hinzukommt, dass diese Meetings aufgrund der etablierten Unternehmenskultur teilweise unproduktiv sind, führt das auf allen Seiten zu Frust und schlechten Ergebnissen.
Was Unternehmen und insbesondere Führungskräfte tun können
So viel zu den möglichen negativen Folgen. Doch es gibt auch Lichtblicke: Wir haben es selbst in der Hand!
Es ist an uns als Verantwortlichen, Kultur weiterzuentwickeln. Wir können entscheiden, dass Meetings nur noch bei Bedarf, mit den absolut erforderlichen Personen, klarer Agenda und Moderation und in einem klar definierten Maß stattfinden. Wir können entscheiden, dass Leadership ein eigenes Skillset ist, das komplett analog zu fachlichem Wissen aufgebaut, erweitert und erlernt wird. Und wir können entscheiden, dass diese Fähigkeiten Voraussetzung für Beförderungen in Führungspositionen sind.
Und was noch wichtiger ist: Wir können vorangehen. Im ersten Schritt bei der Definition dessen, was wir eigentlich wollen und was wir als wünschenswert erachten (wollen wir beispielsweise, dass Entscheidungen durch Gremien gehen oder dass sie schnell auf niedrigstmöglicher Ebene getroffen werden?). Diese Dinge sollte man niederschreiben und gegenlesen lassen, denn die Erfahrung zeigt, dass, wenn etwas im eigenen Kopf völlig klar ist, es noch lange nicht für andere verständlich ist. Im zweiten Schritt gilt es, das Definierte vorzuleben. Es kommt eine Einladung zu einem Meeting ohne Agenda? Wir können sie ablehnen und das begründen. Eine Führungskraft hält Wissen aus Angst vor Machtverlust zurück? Wir können dieses Verhalten sanktionieren – oder noch besser, gegenteiliges Verhalten fördern.
Der Schlüssel sind die Führungskräfte – und Mentoring
Dem eigenen Führungsteam kommt dabei die entscheidende Rolle zu. Ein gewünschtes Verhalten entsteht nur durch ein Vorbild.
Dementsprechend ist es wichtig, dass gerade die Führungskräfte besonders an sich arbeiten und sich weiterentwickeln. Ihre Entwicklung ist der Engpass, der bestimmt, wie schnell und gut sich das Unternehmen weiterentwickeln kann.
Das Ergebnis wird kommen, auch wenn es etwas dauert. Eine Kultur entsteht durch jahrelang angewendetes Verhalten, und sie ändert sich auf dem gleichen Weg. Ein entscheidender Erfolgsfaktor sind dabei Mentoren. Beobachtung von aktuellem Verhalten, Austausch, um Klarheit zu gewinnen, und die Begleitung durch intensive und manchmal frustrierende Wandlungsprozesse sind viel einfacher möglich, wenn jemand darauf schaut, der nicht direkt involviert ist. So reizvoll es auch sein mag, das alles allein zu bewerkstelligen, empfiehlt es sich immer, einen Mentor oder eine Mentorin an Bord zu nehmen – mittelfristig bekommt man auf diese Weise schneller bessere Ergebnisse.