Peer-to-Peer-Learning als Hebel für die Zukunft
Neue Lernansätze und -modelle für ein veraltetes Bildungssystem
Hester Spiegel-van den Steenhoven, Netzwerk 42
Kurz & Bündig
Es ist Aufgabe des Bildungssystems sicherzustellen, dass Menschen mit den richtigen Fähigkeiten und Kenntnissen für die Arbeits- und Lebenswelt der Zukunft ausgebildet werden, sonst wird es bedeutungslos. Nicht nur seit der Corona-Krise wird deutlich: Wir brauchen neue Modelle für die postsekundäre Bildung, um Menschen auf die Anforderungen der Welt im Jahr 2030 und darüber hinaus vorzubereiten. Unser traditionelles Bildungssystem muss revolutioniert werden.
Es war Eleanor Roosevelt, die sagte: „Die Zukunft gehört denen, die an die Zukunft ihrer Träume glauben.“ Damit implizierte sie eine gewisse Machbarkeit der eigenen Zukunft. Unser Bildungssystem prägt zu einem großen Teil unsere kollektive Zukunft und auch die Macht, die dem Einzelnen gegeben ist, seine eigene Zukunft zu gestalten. Schon früh im Leben lernen wir in der Schule, welche Hebel und Instrumente wir haben, um unsere Zukunft zu gestalten. Wissen ist ein solcher Hebel. Doch das, was einmal unsere Zukunft war und jetzt unsere Gegenwart darstellt, ist nicht das, was uns vorhergesagt wurde. Der Mensch war nicht auf dem Mars (Wired, 1997), Nahrung ist nicht überflüssig geworden (Ray Kurzweil, 2005), Roboter haben uns noch nicht alle wohlhabend gemacht (Time Magazine, 1966) und der menschliche Fuß hat sich nicht in eine einzige Riesenzehe verwandelt (Richard Lucas, 1911). Der Versuch, unsere Zukunft vorherzusagen, ähnelte schon immer dem Blick in eine Kristallkugel, und mit der vierten industriellen Revolution ist die Unsicherheit über unsere Zukunft noch größer geworden. Die enormen Informationsmengen, die heute zur Verfügung stehen, sowie die Geschwindigkeit der Innovationen sind anders als alles, was wir bisher erlebt haben. Es stellt sich die Frage: Wie bereiten wir die nächste Generation bestmöglich auf eine er – folgreiche Zukunft im digitalen Zeitalter vor? Unsere Vorstellungen von Bildung scheinen in der Ära der zweiten industriellen Revolution stecken geblieben zu sein. Damals wurde der Arbeitswert eines Menschen durch Wissen und kognitive Fähigkeiten (IQ) definiert. Und bis heute folgen die meisten Bildungskonzepte einem stark vereinheitlichenden Ansatz mit starren Regeln und vordefinierten akademischen Plänen, die den Schülerinnen und Schü- lern fast keinen Raum für die Entwicklung ihrer eigenen Talente und Interessen lassen. Unsere Bildungskonzepte und ihre Umsetzung müssen in Frage gestellt und angepasst werden, um die nächste Generation erfolgreicher Führungskräfte ausbilden zu können. Die Hochschulbildung ist reif für Veränderung! Es braucht kooperative Lerngemeinschaften, damit junge Erwachsene zu Problemlö- serinnen und -lösern werden. Dieses Hochschulsystem der Zukunft ist gemacht für eine Welt, in der Grenzen verschwinden, in der Agilität, Kreativität und Innovation Voraussetzungen sind, um die Herausforderungen der Zukunft erfolgreich zu bewältigen.
Doch wieso sind wir in unserem gegenwärtigen Bildungssystem stecken geblieben?
Hier eine Übersicht der gesellschaftlichen Revolutionen der vergangenen drei Jahrhunderte und der jeweils gefragten menschlichen Fähigkeiten:
- Industrielle Revolution 1.0 (1784):
wichtige Ereignisse: Erfindung der Dampfmaschine, mechanische Produktionsmittel. Menschlicher Arbeitswert: Körper. Fähigkeiten: physisch - Industrielle Revolution 2.0 (1870):
wichtige Ereignisse: Massenproduktion, gefördert durch die Erfindung der Elektrizität und des Fließbandes. Menschlicher Arbeitswert: Wissen. Fähigkeiten: kognitive Fähigkeiten (IQ) - Industrielle Revolution 3.0 (1960er-90er Jahre):
wichtigste Ereignisse: Computer-Revolution: Großrechner (60er Jahre), Personal Computing (70-80er Jahre) und das Internet (90er Jahre). Menschlicher Arbeitswert: Verstand. Fähigkeiten: Soft Skills (EQ) - Industrielle Revolution 4.0 (heute):
wichtigste Ereignisse: Integration digitaler, physikalischer, biologischer und technologischer Fortschritte. Menschlicher Arbeitswert: Geist. Fähigkeiten: digitale Fähigkeiten (DQ; Digital Intelligence Quotient®: a set of digital competencies based on moral values for individuals to use and create technology to advance humanity, by DQ Institute)
Prof. Klaus Schwab, Gründer und geschäftsführender Vorsitzender des Weltwirtschaftsforums, erklärt: „Die vierte industrielleRevolution bringt Innovationen mit sich wieden bionischen Menschen, die Genveränderungstechnologie, die synthetische Biologie undinternetfähige Gehirne. Sie wird neu definieren,was Menschsein bedeutet [2].“ Im Jahr 2023werden voraussichtlich 75 Millionen der gegenwärtigen Jobs überholt sein. Im gleichen Zeitraum werden jedoch durch dentechnologischen Fortschritt auch 133 Millionenneue Jobs geschaffen. Diese neuen Arbeitsplätzeerfordern neue Fähigkeiten, die es den Menschen ermöglichen, Technologie produktiv zunutzen und zu schaffen [3].Weisheit und Sinn gewinnen an Bedeutung. Werte, die nicht von Maschinen erbrachtwerden können, werden für Arbeitskräfte relevanter. Dazu gehören auch Kontextverständnisund Einsichten sowie Werte wie Respekt,Freundlichkeit und Mitgefühl.
Menschsein gewinnt an Relevanz
Bietet unser herkömmliches Bildungssystemjungen Erwachsenen die Möglichkeit zu lernen,Technologie zu nutzen und zu erschaffen sowiemoralische Werte zu entwickeln? Vielleicht teilweise. Doch dort, wo unser gegenwärtiges Bildungssystem weitgehend auf Wissenstransfer,auf Regeln und vordefinierte akademische Plä-ne ausgerichtet ist und wo vom Scheitern abgeraten wird, fehlen wesentliche Elemente, damitjunge Erwachsene lernen können, sich immerwieder neu zu erfinden. Sie müssen lernen zulernen, Anpassungsfähigkeit entwickeln unddie Verantwortung für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft und Träume übernehmen.
Wie können wir unser Bildungssystem auf die Zukunft ausrichten?
Unser Bildungssystem hätte schon lange ein Update benötigt. Können wir den Reset-Knopf im Bildungswesen drücken? Ja, ich glaube, das können wir. Ein Lichtblick in der Corona-Pandemie ist, dass sie gezeigt hat, wie schnell wir unsere Lebensweise radikal ändern können. Jüngste Daten zeigen, dass wir bei der Einführung des Digitalen durch Verbraucher und Unternehmen innerhalb von etwa acht Wochen um fünf Jahre vorgerückt sind [4]. Jetzt ist die Zeit für Veränderungen gekommen. Wir können neue Grundsätze für die Hochschulbildung definieren und sicherstellen, dass jede Entscheidung mit diesen Grundsätzen in Einklang steht. Wir können ein Bildungssystem mit dem Ziel entwerfen, den Studierenden das Werkzeug in die Hand zu geben, das sie tatsächlich brauchen, um nach ihrem Abschluss erfolgreich zu sein. Wir können all dies tun, aber wollen wir es auch? Und wie verlassen wir unser gegenwärtiges System? Wir müssen es so sehr wollen, dass wir eine tatsächliche Veränderung erreichen können. Und damit dies geschiet, müssen wir uns zunächst dazu entscheiden, loszugehen und nicht dort zu bleiben, wo wir jetzt stehen. Dazu müssen wir ein erhebliches Maß an Trägheit überwinden und Praktiken aufgeben, von denen lange Zeit behauptet wurde, sie seien unerlässlich.
Peer-to-Peer-Learning
Eine nicht ganz neue, aber bewährte Methode weist den Weg in die richtige Richtung: das Peer-to-Peer-Learning (P2P). In diesem Konzept gibt es keine klassische Lehrperson, alle Teilnehmenden sind gleichzeitig Studierende und Lehrkraft. Unterstützt wird das gegenseitige Lernen und Lehren durch ein Online-Curriculum und personalisierte zwischenmenschliche Erfahrungen [5]. Nach einer kurzen Erläuterung des P2P- Lernens werde ich anhand eines Beispiels aus dem wirklichen Leben veranschaulichen, wie ein solches System funktionieren kann. Bei P2P geht es nicht um Effizienzgewinne durch Standardisierung und Massenproduktionsvorteile, wie wir sie aus der zweiten industriellen Revolution kennen. Im neuen System, dem System der vierten industriellen Revolution, ist das Vertrauen der Verbraucherinnen und Verbraucher in die großen Institutionen gering. Stattdessen handeln dezentralisierte Netzwerke auf Grundlage von Vertrauen und Zuverlässigkeit und werden durch sinkende Transaktionskosten und allgegenwärtige Verbindung betrieben. Diese „Machtverschiebung“ von zentralisierten zu verteilten Modellen wird durch eine Technologie unterstützt, die vertrauensbasierte End-to-End-Transaktionen und Rollenveränderungen der Bürgerinnen und Bürger unterstützt – von den Verbrauchenden zu den Produzierenden und Gestaltenden [6]. HolonIQ rechnet damit, dass Peer-to- Peer-Learning im Jahr 2030 zum Mainstream gehören wird. Es stellt demnach in wenigen Jahren eine akzeptierte Art zu leben, zu arbeiten, zu lernen und zu verdienen dar: „By 2030, most professional and skills training occurs in the ‘alternative accreditation’ space where peer market rating systems dominate and which are outside the purview of traditional education regulators, who focus their efforts on the formal schooling sector [7].“ Es ist davon auszugehen, dass solche Ver- änderungen im Bildungswesen im Primärund Sekundarschulbereich weniger bedeutend sind, da hier die Struktur der Branche zunächst intakt bleibt. Die Veränderungen in der postsekundären Bildung sind dagegen ausgeprägter, da sich die Macht von der institutionellen auf die individuelle Ebene verlagert. Die Lernenden haben mehr Kontrolle darüber, was, wann und wie sie lernen. Dies wird Institutionen zwingen, ihr Angebot und ihre Durchführung entsprechend den Marktbedürfnissen neu zu organisieren. Einzelpersonen sammeln Mikro-Referenzen von einer großen Zahl und einem breiten Spektrum von Anbietern, wodurch große, dauerhafte Institutionen mit gebündelten Angeboten überflüssig werden. Anstatt durch große Institutionen als Qualitätsmerkmal können die Studierenden auch eine Verifizierung des Wissens durch globale Experten in bestimmten Bereichen, einschließlich Branchenexperten und Professoren, erhalten. Mikro-Referenzen werden in Blockchains gespeichert (zum Beispiel Proofstack oder Dicliplina), und die Lernenden bauen ihre eigene Sammlung von relevantem Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen auf.
Ein Überblick über die Merkmale einer P2P-Lernumgebung
P2P-Lernen ist
- skalierbar
- durch die Nutzung eines Online-Lernplans
- durch die Verwendung von Open-Source-Ressourcen
- durch das Konzept des lehrkraftlosen Lernens
- befähigend
- durch die Freisetzung der kollektiven Kreativität und des geistigen Eigentums von „Lehrenden“, um den Austausch und die gemeinsame Nutzung von Inhalten zu ermöglichen
- durch die individuelle Definition der Lernenden, was, wann und wie sie lernen
- facettenreich
- durch die Ausbildung von Hard Skills
- durch den Lernplan
- durch die Ausbildung von Soft Skills
- durch Teamarbeit
- zugänglich
- durch Ortsunabhängigkeit
- durch Geräteunabhängigkeit
- durch immer mögliche Vernetzung
- durch Inklusion
- anerkannt
- durch die Ermöglichung der Überprüfung von Fähigkeiten und Qualifikationen einer großen Anzahl und eines breiten Spektrums von Anbietern
- durch Blockchain-Technologie
- durch den Aufbau von relevantem Wissen, Fähigkeiten und Erfahrungen
- durch die Lernenden
- kostengünstig
- durch geringeren Bedarf an Verwaltungs- und Infrastrukturkosten
- durch Vermeidung von 49 % Verwaltungskosten der klassischen Institutionen
- Hohes Vertrauen
- durch dezentrale Netzwerke
- durch technologische Zuverlässigkeit, die vertrauenswürdige End-to-End- Transaktionen ermöglicht
P2P ist effektiv, flexibel, bedarfsorientiert, personalisiert und fortwährend aktuell. Darü- ber hinaus hilft es bei der Überwindung des Bloomschen „2-Sigma-Problems“ [8]: Benjamin Bloom fand heraus, dass der durchschnittliche Lernende, der mit sogenannten „Mastery Learning Technics“ eins zu eins betreut wurde, zwei Standardabweichungen besser abschneidet als Lernende, die mit herkömmlichen Lehrmethoden lernen. Aus Skalierbarkeitsund Effizienzgründen müssen wir uns sicherlich mit dem Kapazitätsproblem auseinandersetzen, das mit dediziertem 1:1-Lernen einhergeht, dennoch profitiert das P2P-Learning teilweise von den Vorteilen des Bloom-Effekts.
Ein Beispiel für Peer-to-Peer-Learning in der Ausbildung technischer Fertigkeiten
Wie eine Peer-to-Peer-Lernplattform funktionieren kann und wie sie helfen kann, dass sich junge Erwachsene zu den agilen Problemlöserinnen und -lösern entwickeln können, die wir zukünftig brauchen, lässt sich wunderbar am realen Beispiel von „42“ veranschaulichen. „42“ ist eine renommierte Coding-Schule aus Frankreich, die ein erstklassiges Curriculum für die Ausbildung von technischen Fähigkeiten auf einer P2P-Lernplattform anbietet. Diese ist für alle volljährigen Lernwilligen unabhängig vom sozialen, kulturellen oder schulischen Hintergrund zugänglich. Es handelt sich um eine gemeinnützige private freie Programmierschule auf Hochschulniveau. Das innovative Bildungskonzept beruht auf projektbasiertem Peer-Learning – ohne Bü- cher, Klassen oder Lehrkräfte. Bei „42“ zählen lediglich Talent, Willenskraft sowie die Fähigkeit zu lernen und Probleme zu lösen. Die Auswahl erfolgt rein leistungsbezogen und automatisiert. Zertifikate oder Noten aus früheren Schuljahren sowie ein perfekter Lebenslauf werden bei der Auswahl der Kandidaten nicht berücksichtigt. Je nach ihren Interessen können sich die Studierenden in verschiedenen Bereichen spezialisieren. Die Absolvierenden haben die Wahl zwischen einem selbstbestimmten Berufsleben als Unternehmerin oder Unternehmer oder einem gut bezahlten Job als Softwareingenieur/in, Sicherheitsspezialist/in, KI-Spezialist/in, Projektmanager/in, Videospielentwickler/in oder Webentwickler/in. Die Statistik zeigt, dass 97 % der Absolvierenden nach „42“ eine Stelle finden. Aufgrund des skalierbaren Modells (keine Lehrkräfte) und der Öffnungszeiten (rund um die Uhr) hat ein durchschnittlicher Campus mit 250 Computern die Kapazität, zwischen 400 bis 600 Studierende gleichzeitig auszubilden, die zusammenarbeiten und sich alle gegenseitig bewerten. Den kompletten Lernplan zu durchlaufen dauert in etwa drei Jahre, die allerdings nicht komplett durchlaufen werden müssen – der Erfolg hängt nicht von der Beendigung des Programms, sondern vom Erreichen der eigenen Ziele ab. Pro Campus und Jahr kommen so zwischen 150 und 200 Software-Ingenieure und KI-Spezialisten auf den Markt.
Schlussfolgerung
Wir werden nie in der Lage sein, unsere Zukunft vorherzusagen. Die Kombination neuer Technologien und ihre Wechselwirkung definieren die vierte industrielle Revolution grundlegend anders als frühere Revolutionen. Dies macht die Umgestaltung unseres veralteten Bildungssystems noch komplizierter. Es gibt jedoch Hebel, die wir ergreifen und zur Umgestaltung des Bildungswesens einsetzen können. Die Corona-Pandemie hat uns in das digitale Zeitalter katapultiert und deutlich gemacht, was getan werden kann: Dinge, die wir vor dem Ausbruch vielleicht nie für möglich gehalten haben. Um die Innovationsfähigkeit Deutschlands und der Welt zu erhalten, ist es unerlässlich, neue Lehrund Wissensverteilungsmethoden zu entwickeln, die allen Anforderungen von morgen gerecht werden. Was können Sie morgen anders machen, um den Wandel zu unterstützen? Als Führungskraft von heute können Sie eine Vorbildfunktion übernehmen, indem Sie den Wandel unterstützen, den Weg für ein Umdenken in der Entwicklung ebnen und, was ebenso wichtig ist, Talente einstellen, indem Sie es wagen, für die Rekrutierung auf einen breiteren Talentpool zuzugreifen, indem Sie nach Fä- higkeiten, Charakter und Tatkraft statt nach Diplomen bekannter Universitäten und einem perfekten Lebenslauf suchen. Damit zeigen wir der Welt, dass neue Bildungssysteme erfolgreich sein können. Es wird unsere Chance sein, erfolgreich durch das zu steuern, was Klaus Schwab als „die größte Herausforderung der Menschheit“ bezeichnet: die vierte industrielle Revolution.