Und der Mensch heißt Mensch...
Das Menschliche als Faktor für die wissenschaftliche Politikberatung
Johanna Dahm, Entscheidungsexpertin
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Kurz und Bündig
Damit die Menschen auch solche Entscheidungen der Politik, die in ihr Privatleben eingreifen, mittragen, muss von Anfang an in der wissenschaftlichen Politikberatung auch dieser „weiche“ Faktor berücksichtigt werden. Der Mensch kann zu rationalen Entscheidungen bewegt werden, wenn richtig kommuniziert wird. Um dies zu erreichen, müssen die beiden in ihren Methoden gänzlich unterschiedlichen Felder Politik und Wissenschaft gemeinsam arbeiten.
Die komplexen Herausforderungen unserer Zeit machen eine wissenschaftliche Politikberatung unabdingbar. So beraten Klimawissenschaftler:innen wie Virolog:innen Regierungen mit ihrer Expertise. Dabei werden jedoch zumeist äußerst rationale Empfehlungen ausgesprochen, die etwaige Einschränkungen für das Individuum und damit einhergehende Widerstände außer Acht lassen. Doch der menschliche Faktor darf auf Entscheidungswegen keinesfalls unbeachtet bleiben.
Menschen und Unternehmen verlangen von der Politik Lösungen für akute Fragen, um sich im eigenen Alltag nicht, und vor allem nicht selbst, mit unangenehmen Problemen beschäftigen zu müssen. Es scheint die Aufgabe der Politik zu sein, über diese Probleme zu diskutieren und dann Mittel im Sinne einer Lösung zu produzieren, die möglichst allen dienlich sind. Weltklimapolitik, Gesundheitspolitik, aber auch internationale Angelegenheiten kommen längst nicht ohne wissenschaftliche Beratung aus. So steht die Frage im Raum, welche gegebenenfalls zuarbeitende Rolle die Wissenschaft zur Unterstützung dieses Ziels spielen kann. Doch die Zusammenarbeit funktioniert nicht reibungslos.
Vier Problemzonen zwischen Wissenschaft und Politik
An erster Stelle muss beachtet werden, dass es „die eine Wissenschaft“ nicht gibt, sondern eine sehr zersplitterte Landschaft zunächst wissenschaftlicher Schulen, Teilgebiete, Traditionen und Überzeugungen. Alle diese funktionieren wiederum nach unterschiedlichen Methoden und Instrumenten. Das große Vertrauen der Öffentlichkeit in Wissenschaft bezieht sich dabei vor allem auf die Medizin und Naturwissenschaften, zudem in die Wirtschafts- und Ingenieurswissenschaften [1].
Darüber hinaus gestalten Wissenschaft und Politik nach unterschiedlichen Regeln. Die Kommunikation zwischen den beiden Systemen funktioniert daher nicht immer reibungslos: Bei Politik und Wissenschaft handelt es sich um denkbar unterschiedliche Systeme. Politik zielt auf finale Lösungen im Sinne klarer Antworten. Dafür fordert sie von der Wissenschaft Daten und valide Erkenntnisse aus der Forschung, deren Erhebung und Auswertung häufig viel Zeit in Anspruch nimmt. Demgegenüber steht die Zielsetzung der Wissenschaft: Sie interessiert sich kaum für finale Daten, sondern für vorläufiges Wissen, was extrapoliert, interpretiert und auch immer wieder aufs Neue aufgeforstet werden will [2].
Des Weiteren gilt es zu beachten, dass gerade die Komplexität der sozialen und politischen Problemstellungen eine gute Zusammenarbeit mit der Wissenschaft fordert, mehr noch: eine wissenschaftliche Beratung der Politik durch die Wissenschaft. Die Politik muss sich, ob Corona- Pandemie, Cyberattacken-Abwehr oder ethische Grundlagen der digitalen Medizin, Wissen aneignen. Die Wissenschaftsakteur:innen werden unterscheiden lernen müssen, was es heißt, innerhalb der Wissenschaft zu kommunizieren oder eben mit der Politik und der Gesellschaft. Denn ihre Rolle ist hier mehr als eine rein beratende. Es werden ihr Handlungsempfehlungen und Taten abverlangt – mit gesellschaftsverantwortlichem Ausmaß. Sprich: ein sich der Relevanz des Gegenstandes unterordnender interdisziplinärer Konsens muss gefunden und definiert werden, welcher politisch UND wissenschaftlich angemessen sowie allein dem sozio-politischen Entscheider dienlich ist [3].
Viertens und letztens ist der Paradigmenwechsel somit bilateral: Der wissenschaftliche Diskurs, die Beschränkung auf These und Gegenthese als Selbstverständnis, werden den Elfenbeinturm verlassen und sich dem Belastungs- und Realisierungstest stellen müssen.
Die Politik und das politische Handeln müssen sich demgegenüber als maximal dem Wissensstand angemessen verhalten und somit diesen letztlich zwar als faktisch, aber dennoch als vorläufig begreifen. Hier spielt die Wissenschaft eine moderierende, dauernd präsente Schlüsselrolle. Diese Schlüsselrolle zeichnet sich durch das stetige Schöpfen neuen Wissens aus, um immer wieder weiter vorläufige nächste Lösungen anzubieten. Immer dann, wenn höhere Komplexität und stärkerer Handlungsdruck nach schnellen Entscheidungenverlangen- wirdenkenetwaandieCOVID-19- Pandemie, ökologische Krise, Klimawandel, Ukraine-Krieg oder Energiekrise – stellt die (politische) Entscheidungsfindung und die begleitende wissenschaftsbasierte Politikberatung vor neue Herausforderungen. Diese Widerspruch-/ Konsens-Komplikation [4] soll entgegen der Dynamik der Ereignisse und der auch in der Gesellschaft spürbaren Engpässe, entgegen der ohnehin trägen Reaktionen der Politik, statt zu Konventen und teuren diskursiven Abstimmungsverfahren nun zu schnelleren und besseren Entscheidungen führen. Und diese sind der Bevölkerung gegenüber transparent zu kommunizieren.
Der Faktor Mensch
Die Politik verfolgt eigene Interessen und steuert dazu das Handeln der Wähler:innen durch gezielte Streuung von Informationen: je persönlich wichtiger und emotionaler aufgeladen das Thema, desto schneller tragen wir emotionale und auch soziale Scheuklappen, um unseren Status quo zu erhalten. Um uns das Auto, den Aufenthalt auf dem Golfplatz, den Rasensprenger nicht madig machen zu lassen, wägen wir Argumente ab, betrachten Vor- und Nachteile, kategorisieren die wichtigen Fakten nach Pro und Contra oder horchen gar in uns hinein, um den Emotionen Namen und Wert zu geben und sie in der Bilanz der Rechtfertigungen einzuordnen. Wir folgen dem „Wahn des Rationalismus“ [5], wie wir es schon bei Covid- 19 getan haben, um uns Impf- und Maskenpflicht auszureden und schließlich aus dem Homeoffice wieder ins Büro zurückzukehren und die Arbeitszeiterfassung einzuführen [6].
Auch die Politik appelliert bei Entscheidungen an den mit „Ethos“ gleichgesetzten „gesunden Menschenverstand“ [7], und auch hier kann beziehungsweise sollte die Wissenschaft nun mit soziologisch-empathischem Blick agieren. Es geht nicht um Kategorien von Fehlverhalten und Korrektheit, nicht um Dominanz und Defizit, nicht um richtig oder falsch. Wir verstehen und moderieren nicht hinreichend, dass die individuelle Überzeugung des Menschen sein Erinnern wie sein Handeln beeinflusst. Darum fällt uns eine Verhaltensänderung, etwa beim Energiesparen umso schwerer, je tiefer ein Missstand in unser Leben eingreift. Verzicht, Verlust, Opfer und Einbuße empfinden wir emotional als einen Verlust von Lebensqualität. Daher sind rein rationale Entscheidungen schwer zu fällen, wenn uns das Ergebnis nicht kalt lässt und unser Gefühl eher gegen die Veränderung appelliert, eben weil sie kein Vergnügen verspricht. Selbst wenn alle Studien und Ergebnisse sowie Informationen und Erkenntnisse dabei an die Vernunft appellieren und rationale Entscheidungen nicht gänzlich unmöglich sind, werden wir wo immer möglich, mentale Schleichwege suchen und unser eigenes Fehlverhalten zumindest für den Moment mehr genießen. Damit die Menschen diese Schleichwege nicht nehmen, dürfen Wissenschaft und Politik also keine getrennten Lager sein. Dementsprechend muss die Wissenschaft eher die soziale Aufklärung, das verbindende Element der Demokratie werden, damit die Menschen nicht mehr länger nur gute Menschen sein wollen, sondern auch ihren Lifestyle anpassen.
Fallbeispiel Klimawandel
Die Zahl der Klimawandelleugner wird geringer und kaum mehr gibt es Menschen, die nicht generell nach Lösungen streben oder über Vorschläge diskutieren. Zeitgleich befinden sie sich in einer kognitiven Dissonanz, weil die vorgestellten Lösungsansätze nicht oder noch nicht zu ihrem individuellen Leben passen, woraus ein nicht immer förderliches Spannungsfeld resultiert: Der eine leidet an einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit, die andere an einem schlechten Selbstwert- oder sogar Schuldgefühl. Beides trägt nicht zur Lösung bei. Dennoch ist beides eine fast natürliche Reaktion auf das politische Narrativ: Alle sollen ihren CO2-Fußabdruck reduzieren, etwa durch den Verzicht auf Fleisch oder das Auto, auf Flugreisen und so weiter. Werden solche Aufforderungen alternativlos vereinheitlicht und mit Risiko-Drohungen verbunden, führt das beim Individuum automatisch zur Resignation. Er oder sie sieht sich persönlich gar nicht in der Lage, viel tun zu können. Aufgrund Ermangelung besseren Wissens kommen Abwehrreaktionen auf: der Eskapismus in die gute alte Zeit, vielleicht sogar die Verleugnung, auf jeden Fall das Wegschieben von Verantwortung. An gemeinsames Handeln ist nicht zu denken. Dahinter liegt näher betrachtet die Angst vor Verlust, die die Wissenschaft allerdings sehr gut erforscht hat [8].
Aufgabe der Wissenschaft ist es auch, als politisches Bildungs- und Bindungsinstrument soziale Werte, Erwartungen, Normen und Ziele in einer gänzlich zersplitterten Gesellschaft zu erkunden, transparent und visibel zu machen. Denn soziale Werte lassen sich ordnen und charakterisieren. Was will ich? Was ängstigt mich beziehungsweise die einzelne Person? Was stiftet Gemeinschaft, und was kreiert ein Wir-Gefühl? Und was tut der Staat beziehungsweise welche Angebote macht die Politik?
Was muss also getan werden?
Politische und soziale Bewegungen sowie Veränderungen dürfen den Menschen, dessen Werte und damit also auch Ängste nicht länger außer Acht lassen. Stattdessen muss der Mensch von vornherein in den Dialog und in die Überlegungen aller Veränderungen mit einbezogen und gefragt werden: Was ist das Idealbild eines guten Lebens? Für den einen mag es materieller Wohlstand und Konsum sein, für die Anderen emotionaler Reichtum, Freiheit, Bildung, Meinungsfreiheit, Handlungsmöglichkeiten oder die Möglichkeit zu reisen. Jetzt mittels der Wissenschaft diese unausgesprochenen unberücksichtigten Ziele neu zu erfahren und in den Mittelpunkt einer politischen Diskussion zu stellen, welche Nachhaltigkeit im Fokus hat und als übereinstimmendes, identisches Ziel betonen soll, ist ein machtvoller Hebel. Eine solche Strategie wäre geeignet, Menschen von einer Bewegung zu überzeugen und zu verbinden. Zentral bei dieser Strategie ist das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein und oder zu werden. Und durch gemeinsames Engagement Erfolge zu feiern.
Wer dagegen geht, wer die gemeinsamen Werte verletzt, wird kaum das Gespräch, den Dialog und auch den politischen Diskurs auf der sachlichen Ebene halten können. Auch hier sollte die Wissenschaft eine Moderatorenrolle übernehmen, um darauffolgend den politischen Diskurs erst zu ermöglichen. Hierdurch wird die Kritik an den herrschenden Werten wieder als Instrument verfügbar, um die Gemeinschaft zu verbessern