Timing - zum effektiven Umgang mit der Zeit
Leseprobe exklusiv für die Leserinnen und Leser der IM+io
August-Wilhelm Scheer, Scheer Holding
„Timing– zum effektiven Umgang mit der Zeit – Erfahrungen und Empfehlungen von August-Wilhelm Scheer“ unter diesem Titel ist kürzlich im Springer Verlag das neue, von autobiographischen Erfahrungen geprägte Buch des Wissenschaftlers, Unternehmers, Politikberaters und Musikers erschienen. Mit einer Leseprobe über den Börsengang des Unternehmens IDS Scheer bietet IM+io exemplarisch einen Einblick in das spannende Buch.
Mit knapp 80 Jahren gestaltet Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer sein Leben aktiv als Wissenschaftler, Unternehmer, Politikberater und (Amateur-) Jazz-Saxophonist. Er hat viele Erfahrungen gesammelt, um Gegenwart und Zukunftskonzepte zu beurteilen und zu gestalten. Der Umgang mit der Zeit, das Timing, steht dabei häufig im Mittelpunkt. Das gilt für jede seiner Rollen. Die Wahl des richtigen Zeitpunkts für Aktionen und die zeitliche Koordination verschiedener Aktivitäten sind sein tägliches Brot. Unterschiedliche Situationen und Formen des Timings, Beispiele des guten, zufälligen oder auch falschen Timings werden in den konkreten Erfahrungen des Autors erlebbar. Dazu gehört auch der mutige Schritt, mit dem von ihm gegründeten Unternehmen IDS Scheer an die Börse zu gehen.
Auszug aus „Auch zum Börsengang gehört das richtige Timing“
[…]Ende der 1990er Jahre gab es in Deutschland bei jungen technologieorientierten Unternehmen den Hype, ihr Unternehmen an der Börse zu listen. Diese Idee hatte auch uns erfasst, und wir diskutierten sie lebhaft.
Warum sollten wir mit der IDS Scheer an die Börse gehen? Einige Gründe sind leicht zu nennen. Wir wollten mit dem Börsengang eine Kapitalerhöhung verbinden, sodass durch den Verkauf der neuen Aktien dem Unternehmen frisches Geld für das Wachstum, insbesondere für Akquisitionen im Ausland, zufließen würde. Alexander Pocsay und ich wollten auch einen kleinen Posten unserer Aktien verkaufen, um einen finanziellen Lohn für unseren hohen Einsatz in den letzten Jahren zu erhalten.
Ein weiterer wesentlicher Grund für den Börsengang war, dass wir mit der Aktienlistung eine größere Visibilität in der Finanzwelt erhalten würden, von der wir glaubten, dass sie sich positiv auf unsere Marktposition und unser Image auswirken würde. Auch würden wir durch die Beobachtung durch Finanzanalysten und die anzufertigenden Quartalsberichte einen noch professionelleren Managementstil entwickeln müssen. Wir würden insgesamt zu einem „erwachsenen“ Unternehmen werden.
Gründe für den Börsengang sind also schnell genannt. Schwieriger ist es, den richtigen Zeitpunkt, also das Timing, zu bestimmen.
Seit 1997 war an der Frankfurter Börse ein Segment für technologieorientierte Unternehmen mit dem Namen „Neuer Markt“ nach dem Vorbild der amerikanischen NASDAQ eingerichtet worden. Dies erweckte in mir den Ehrgeiz, den für Hightechunternehmen in Silicon Valley bestehenden Traum vom Garagenunternehmen zum Börsenstar auch in Deutschland nachzuvollziehen. Wir erkundigten uns nach den Voraussetzungen eines Börsenlistings und entwickelten einen groben Zeitplan.
Leider gerieten wir im Sommer 1997 in die beschriebene Krise, als unsere Kooperation mit der SAP in Gefahr geriet. Das kam natürlich zur Unzeit für unsere Börsenpläne. Zum Glück konnte ich die Beziehung zur SAP in wenigen Monaten wieder glätten, und die SAP beteiligte sich mit 25 % an der IDS Scheer. Dieses war ein Vorteil für unseren Börsengang, weil durch das demonstrierte Vertrauen der SAP in unser Unternehmen dem Markt ein sehr positives Signal gesendet wurde. Damit konnten wir die Planung unseres Börsengangs wieder aufnehmen.
Wir legten als Termin den Frühsommer 1999 fest und richteten darauf unsere Vorbereitungen aus. Dazu war ein strenges Timing erforderlich. So musste zunächst die IDS Scheer von der Rechtsform der GmbH in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden. Dann mussten die für eine Börsenzulassung sehr umfangreichen Dokumente erstellt werden. Dazu gehörten auch Planzahlen für die nächsten Jahre. Insgesamt schmückten wir die Braut, d. h. wir stellten unsere positiven Aussichten in ein gutes Licht, blieben aber im Gegensatz zu vielen anderen Börsenkandidaten realistisch. Diese konservative Haltung kam uns später zugute, als der Neue Markt zusammenbrach und viele unhaltbare Versprechungen bis hin zu kriminellen Machenschaften bei einer Reihe von Unternehmen sichtbar wurden.
Die Beauftragung einer erfahrenen Rechtsanwaltskanzlei für die rechtlichen Fragestellungen und die Auswahl der den Einführungsprozess betreuenden Banken waren weitere zeitraubende Vorgänge. Ich bewahre immer noch mehrere Leitzordner mit Unterlagen der verschiedenen Bankenpräsentationen auf, die im Fachjargon Beauty Contest heißen. Für uns waren jeweils zwei Aussagen besonders wichtig: der von der Bank vorgeschlagene Ausgabekurs der Aktien, der die finanzielle Bewertung des Unternehmens ausdrückte, und die Provision für die Bankleistungen. Die Banken überboten sich mit dem Ausgabekurs und damit mit der Bewertung unseres Unternehmens. Die Bewertung war aus heutiger Sicht abenteuerlich hoch. So wurde das Unternehmen mit dem rund achtfachen Jahresumsatz bewertet, aus dem sich ein Ausgabekurs von 12,50 EUR und ein Unternehmenswert von rund 400 Millionen EUR ergab.
Im Vorfeld wurden die auszugebenden Aktien um das 7-fache überzeichnet, sodass sie am Vortag des Börsenganges nach einem Schlüssel zugeteilt wurden. Am Einführungstag, dem 11. Mai 1999, erhöhte sich der Kurs auf 14,70 EUR. Dieses war zwar keine Kursexplosion, aber doch ein guter Börsenstart. Der Kurs stieg in dem folgenden Jahr bis auf einen Betrag von rund 27 EUR, d. h. er hatte sich mehr als verdoppelt.
Unser Unternehmen verfügte nach dem Börsengang mit einem Schlag über eine dreistellige Millionensumme an Barmitteln. Diese wollten wir zur Finanzierung unseres Wachstums einsetzen. Dies ging aber nicht von heute auf morgen, da Unternehmenskäufe sorgfältig vorbereitet werden müssen.
Ein Mitarbeiter aus unserer Finanzabteilung wurde von einem Finanzberater unserer Hausbank, der Deutsche Bank AG, bewogen, für einen Betrag von 12 Millionen EUR „absolut risikolose“ Anleihen des Bauunternehmens Holzmann AG zu kaufen, ohne dieses mit unserem Vorstandssprecher Alexander Pocsay abgesprochen zu haben. Prompt geriet die Holzmann AG in finanzielle Schwierigkeiten, und es drohte ihr Konkurs. Die Anleihe wurde zwar pünktlich auf unser Konto bei der Deutschen Bank zurückgezahlt, aber die Deutsche Bank rief die Überweisung sofort zurück. Die Bank lehnte natürlich jede Verantwortung für ihre Fehlberatung ab, und wir sahen bereits das Geld als verloren an. Wir wandten uns an die Öffentlichkeit, sodass sogar das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ darüber berichtete. Aber es half uns zunächst nicht. Wir mussten eine „Ad-hoc“-Mitteilung an die Börse richten und unser Kurs fiel. Gott sei Dank rettete Bundeskanzler Gerhard Schröder die Holzmann AG in einer spektakulären Aktion durch staatliche Unterstützungen vor dem Konkurs, und wir erhielten unser Geld zurück.
Bei diesem Vorfall merkten wir aber, dass Geld nicht nur glücklich macht. Wir waren zwar gerettet, erkannten aber auch unsere Defizite in unserem Finanzmanagement. Wir waren eben endgültig in der Welt der professionellen Unternehmenssteuerung angekommen und mussten unser Start-up-Verhalten endgültig ablegen…[…]