Tamagotchis, Lemminge und andere Menschen
Gamifiziertes Leben und Arbeiten zu Ende gedacht
Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Die Welt wird bunt! Dies gilt sicherlich in vielerlei Hinsicht. Aber es wird einem beispielsweise dann bewusst, wenn man sich in eine brandneue, klassisch erzkonservative Mercedes S-Klasse setzt. Denn dort erwartet einen eine bunte Spielwelt, mindestens so schillernd wie das neueste Auto-Rennspiel. Die wirkliche Welt imitiert die Spiele-Welt, die ihrerseits die wirkliche Welt nachahmt. Eine gegenseitige Kopie par excellence.
Wurde die Spielbranche in der Vergangenheit gerne mal milde belächelt und als Nische für die Kinderbeschäftigung abgetan, ist sie inzwischen tatsächlich ein beachtlicher Wirtschaftszweig, gerade in der Digitalwirtschaft. Die Branche setzt weltweit mittlerweile rund 150 Milliarden Euro jährlich um – mehr als die Musikbranche und Hollywood zusammen. Tendenz steigend! Früher war die „Nahrungskette“ in der Unterhaltung klar und eindimensional: Buch wird zu Kinofilm, Film zu Computerspiel. Heute beobachten wir, dass Filme auf Basis populärer Computerspiele entstehen und Buchserien zu dem gleichen Spieleuniversum geschrieben werden. Überhaupt: ein Mainstream-Spiel zu entwickeln kostet im Durchschnitt zwischen 12,5 und 19 Millionen Euro, etwa so viel wie ein Blockbuster.
Aber es geht über die klassische Gaming-Branche hinaus: Spiele-Entwickler sind hochgefragte Experten. Die Ergonomie und Benutzerfreundlichkeit von Spielen sind Leitbilder für viele Branchen: Von der Business-Applikation, die es so einfach zu bedienen gilt wie ein Videospiel, bis zur User Experience in modernen Luxus-Fahrzeugen. Alle streben der Gaming-Branche nach, denn wer benötigt eine Bedienungsanleitung für ein Spiel? Kaum jemand! Einfach starten und loslegen. „Plug&Play“ im wahrsten Sinne. Versuchen Sie das mal bei SAP.
Darüber hinaus geht es auch immer wieder um die Motivation. Spielerisch geht vieles leichter. Auch deshalb sind Spiele Vorbilder. Es bedarf schon ausgeklügelter Mechanismen, um Spieler stunden- und tagelang bei Laune zu halten. Wer erinnert sich nicht daran, wie in den 1990er-Jahren fast jeder sein Tamagotchi innig und verlässlich gehegt und gepflegt hat, die volle Aufmerksamkeit und Lebenszeit in ein digitales Tierchen in der Hosentasche gesteckt hat – ich möchte gar nicht wissen, wie viele Ressourcen dort hineingeflossen sind. Absolut sinnbefreit, aber hey, wir haben uns gut gefühlt und es gerne gemacht. Genau das ist der Zaubertrank des Gamings, die Aura, der so viele nacheifern: Der Mensch soll sich gut fühlen bei dem, was der tut – oder tun muss – oder tun soll, – ohne zu merken, dass er es gerade tut. Buchhaltung – langweilig! Das Accounting-Game – wahnsinnig spannend. Ich warte schon auf den nächsten Endgegner „Quartalsbericht“.
All das ist bereits Realität. Aber wie geht es denn weiter? Es ist mitnichten verwerflich, dafür zu sorgen, dass Menschen ihren Pflichten nachgehen und sich dabei sogar besser fühlen. Aber ich sehe dennoch ein Problem aufziehen, nämlich dann, wenn genau diese Mechanismen dazu eingesetzt werden, Menschen zu konditionieren. Was heißt es denn, wenn ich als Unternehmen bei Pokémon Go dafür bezahle, dass in meinen Filialen außergewöhnlich wertvolle Pokémon erscheinen? Wenn meine Running-App mir mehr Fitnesspunkte vergibt, wenn ich nach dem Laufen ein spezielles isotonisches Getränk zu mir nehme. Wenn mein E-Auto mir mehr grüne Öko-Punkte zuspricht, wenn ich…? Ich denke, Sie verstehen meinen Standpunkt. Irgendwann werden wir alle zu Lemmingen, die blind dem Highscore nachjagen, bis zu dem Punkt, wo es nicht mehr weitergeht. Und dann schauen wir mal, wie viele den nächsten Schritt wagen.
Das ganze Leben ist ein Spiel! Womöglich war dies schon immer so, aber es wurde noch nie so deutlich wie in der Gegenwart. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen für den heutigen Tag einen neuen Highscore, und lassen Sie es sich gut gehen auf dem Weg zum nächsten Level.