Quo vadis wissenschaftliche Politikberatung Schweiz?
Das Engagement der Akademien der Wissenschaften Schweiz
Roger Pfister, Akademien der Wissenschaften Schweiz
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Kurz und Bündig
Der Dialog der Wissenschaften mit Politik, Gesellschaft und öffentlicher Verwaltung ist ein Kerngeschäft der Akademien der Wissenschaften Schweiz. Dazu prädestiniert und bestens aufgestellt sind sie aufgrund ihrer breiten Vernetzung in der Wissenschaftsgemeinschaft. Basierend auf Engagements über drei Jahrzehnte auf nationaler und europäischer Ebene sowie auf Erfahrungen aus der Covid-Pandemie, setzen sich die Akademien für die Stärkung und fortlaufende Weiterentwicklung dieses Dialogs ein.
Das in der Schweiz etablierte Wissenschaftssystem beinhaltet wie in Deutschland neben den Universitäten auch außeruniversitäre Einrichtungen. Hierzu gehören die Akademien der Wissenschaften Schweiz, die die Schweizer Politik zu relevanten Themen für die Gesellschaft beraten. Die während der Covid-Pandemie gemachten Erfahrungen sollen in die künftige wissenschaftliche Politikberatung einfließen.
Das schweizerische Wissenschaftssystem: eine kurze Einführung
Die Akademien der Wissenschaften Schweiz (Akademienverbund) sind Teil des Schweizer Wissenschaftssystems. Weitere Akteure und deren Aufgaben sind: Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) und Innosuisse betreiben Forschungs- respektive Innovationsförderung, der Schweizerische Wissenschaftsrat (SWR) berät die Landesregierung, swissuniversities vertritt die Interessen aller Hochschulen und der ETH-Rat ist das Strategiegremium für beide Eidgenössischen Technischen Hochschulen und ihre Forschungsanstalten.
Das Alleinstellungsmerkmal des Akademienverbundes ist seine Mission, wissenschaftliche Erkenntnisse zu gesellschaftlich relevanten Themen in Politik, Gesellschaft und öffentliche Verwaltung einzubringen. Für diesen Dialog verfügt er mit den vier disziplinären Akademien (Naturwissenschaften, Medizin, Sozial- und Geisteswissenschaften, Technikwissenschaften) sowie den Kompetenzzentren für Technologiefolgenabschätzung (TA-SWISS) und Dialog Wissenschaft-Gesellschaft (Science et Cité) über die notwendige Verankerung in der Wissenschaftsgemeinschaft und die transdisziplinäre Expertise.
Langfristige Politikberatung der Akademien in der Schweiz und in Europa
Innerhalb des Akademienverbundes war und ist die Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) an vorderster Stelle bei der wissenschaftlichen Politikberatung, weil es die Umweltproblematik war, die in Politik und Gesellschaft ab den 1980er-Jahren zu einem wachsenden Wissensbedarf führte. Deshalb etablierte die SCNAT 1988 das „Forum für Klima- und globalen Wandel“. Weitere Foren folgten unter anderem zu Biodiversität, Genforschung, Energieversorgung und Landschaftsentwicklung. Diese aus Forschenden mit relevanter Expertise interdisziplinär zusammengesetzten Gremien bearbeiten langfristige gesellschaftliche Herausforderungen. Die SCNAT ermöglicht und unterstützt diese Arbeit, indem sie als neutrale Drehscheibe mit wissenschaftlichen Mitarbeitenden den Forschungsstand aufbereitet, Handlungsoptionen und deren Konsequenzen aufzeigt sowie dies in Politik, Gesellschaft und Verwaltung hineinträgt. Voraussetzung für den Erfolg dieser Arbeit sind ein Dialog auf Augenhöhe und damit die Anerkennung, dass sich Wissenschaft und Politik in zweierlei Hinsicht unterscheiden. Zum einen stehen der Logik der Wissenschaft von „wahrscheinlich richtig“, „wahr“ und „sicher falsch“ in der Politik „sachlogisch richtig“, „gesellschaftlich akzeptierbar“ und „materiell machbar“ entgegen. Zum anderen unterscheiden sich die Geschwindigkeiten der Abläufe in den beiden Welten.
Für die Akademien sind darüber hinaus mehrere, sich gegenseitig verstärkende Elemente wichtig: Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeit als „honest knowledge broker“; breite Abstützung von Aussagen in der Wissenschaftsgemeinschaft; Qualitätskontrolle von Publikationen; geeignete, allgemein verständliche Form der Kommunikation von Resultaten; Transparenz bei Unsicherheiten oder Kontroversen zu Einschätzungen oder Prognosen. Bestrebt, diese Aspekte zu berücksichtigen, haben sich die SCNAT und der Akademienverbund über die Jahre als wichtige unabhängige wissenschaftliche Partner von Bundesrat (Exekutive), Parlament (Legislative) und Bundesämtern (Verwaltung) etabliert [1, 2]. Als neusten Beleg hierfür luden die Präsidentin und der Präsident beider Parlamentskammern, innerstaatlich und politisch gesehen die beiden bedeutendsten Schweizer, im Mai 2022 die Mitglieder beider Kammern zu einem direkten Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu den Themen Klimawandel und Biodiversitätsverlust ein. Die Akademien bestritten dabei den inhaltlichen Teil mit Referentinnen und Referenten aus ihren Netzwerken [3].
Gefragter und geschätzter Partner bei der wissenschaftlichen Politikberatung ist der Schweizer Akademienverbund auch in Europa. Im Vordergrund stehen dabei seine Beiträge zur Arbeit des Konsortiums Science Advice for Policy by European Academies (SAPEA) [4], das fünf Dachverbände mit über 100 Akademien aller wissenschaftlichen Disziplinen aus mehr als 40 Ländern Europas vereint, inklusive der Schweiz. Die kollektive wissenschaftliche Expertise des SAPEA-Konsortiums fließt in den seit Dezember 2016 operativen Scientific Advice Mechanism (SAM) ein. Über diesen werden der EU-Kommission auf deren Anfrage unabhängige und transdisziplinäre wissenschaftliche Erkenntnisse in Form von „Evidence Review Reports“ und „Scientific Opinions“ zur Verfügung gestellt. Ergänzend dazu unterstützen die Schweizer Akademien die Mission des European Academies Science Advisory Council (EASAC) [5], der das Europäische Parlament und die EU-Kommission zu Themen der Biowissenschaften, Energie und Umwelt berät. Dazu delegieren die Akademien regelmäßig Forschende aus der Schweiz in spezifische Arbeitsgruppen zur Erarbeitung wissenschaftlicher Berichte mit Handlungsempfehlungen.
Während sich somit der Dialog zwischen den Akademien und der Politik zu langfristigen latenten gesellschaftlichen Herausforderungen grundsätzlich bewährt hat, legte die Covid-Pandemie die Schwachstellen dieser Interaktion bei der Bewältigung akuter Krisen, aber auch Problemstellen struktureller Natur auf.
Covid-Pandemie: die Rolle der Wissenschaften in einer akuten Krise
In der Schweiz wurde das neue Virus am 25. Februar 2020 erstmals bei einer Person nachgewiesen. Am 1. April 2020 wurde die sogenannte Swiss National COVID-19 Science Task Force (NCS-TF) etabliert [6]. Die etwas mehr als fünf Wochen dazwischen verliefen schwierig, was den Beitrag der Wissenschaften an der Bewältigung der Pandemie betraf. Und auch die Einrichtung der Task Force gelang nur dank eines gemeinsamen Kraftaktes der Präsidenten des Akademienverbundes sowie der Wissenschaftsorganisationen SNF, swissuniversities, ETH-Rat und vielen in der Task Force engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Organisiert in 21 Arbeitsgruppen, von Epidemiologie, Immunologie, Intensivmedizin und Hausarztmedizin über Public Health, Bildung bis zu Digitales und Economics, engagierten sich Forschende zusätzlich zu ihrer üblichen Anstellung, um den politischen Instanzen sowie der Verwaltung auf Landes- und Kantonsebene aktuellste wissenschaftliche Daten und Erkenntnisse zur Verfügung zu stellen. Wichtigstes Produkt waren die „Policy Briefs“, von denen bis März 2022 insgesamt knapp 100 online publiziert wurden. Fallweise nahmen Vertreterinnen oder Vertreter der Task Force auch an den wöchentlichen „Point de presse“, den Briefings der Landesbehörden für die Medien, teil.
Eine erste von den Akademien mandatierte Untersuchung zur Rolle der Wissenschaften von Januar bis Dezember 2020 zieht für die Task Force eine grundsätzlich positive Bilanz, notabene betreffend Qualität der Beratungsleistungen, fachlichen Zusammensetzung, Struktur sowie inter- und transdisziplinären Arbeitsweise. Gleichzeitig ortet der Bericht mehrere Aspekte, die im Hinblick auf einen effektiveren Umgang mit einer nächsten Krise verbesserungswürdig sind: Fehlende rechtliche Regelung zu Funktion und Rolle der Wissenschaft, wie beispielsweise im Epidemiengesetz; die Konzentration von Aufgaben und Verantwortung für wissenschaftliche Politikberatung bei der öffentlichen Verwaltung; das limitierte Anreizsystem für Forschende und deren Hochschulen für eine aktive Beteiligung an wissenschaftlicher Politikberatung.
Wichtigste Schlussfolgerung des Berichts: die Politikberatung hätte in der Pandemie von der Unterstützung durch einen unabhängigen nationalen wissenschaftlichen Beirat für kurzfristige Fragen, Ziele, Strategien und Aktionspläne profitieren können. Ein solches Gremium hätte den Informationsbedarf nationaler und kantonaler Entscheidungsinstanzen, aber auch von Berufsverbänden, Gewerkschaften und der interessierten Öffentlichkeit direkter, informierter und ausreichender abdecken können, so der Bericht weiter. Und als Synthese: „dieses Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage nach wissenschaftlicher Politikberatung [liegt] jedoch in der grundlegenden Beschaffenheit des nationalen wissenschaftlichen Politikberatungssystems und nicht in den spezifischen Instrumenten und Massnahmen der Pandemiebewältigung begründet.“[7]
Perspektiven für eine künftige wissenschaftliche Politikberatung
Bereits inmitten der Pandemie meldeten sich aus Wissenschaft und Politik Stimmen mit Plädoyers, die sich dafür stark machten, nach der Bewältigung der Pandemie die notwendigen Lehren zu ziehen und auf eine Verbesserung des Dialogs hinzuwirken [8]. Von größerer Tragweite war ein Postulat vom Mai 2020 im Ständerat, der Parlamentskammer mit den Vertreterinnen und Vertretern der Kantone. Dieser parlamentarische Vorstoß beauftragte die Schweizer Landesregierung, „in einem Bericht zu prüfen, wie ein interdisziplinäres wissenschaftliches Netzwerk oder Kompetenzzentrum für Krisenlagen geschaffen werden kann“.[9] Mit dieser Aufgabe betraut wurde die Bundeskanzlei, das heißt, die Stabsstelle der Schweizer Landesregierung. Deren Leiter sprach sich an einer von den Akademien im Mai 2022 durchgeführten Tagung für einen formellen und informellen Dialog nicht nur in der Krise aus und rief dazu auf, nicht einfach zum Tagesgeschäft überzugehen [10].
Die Arbeiten zum angeforderten Bericht sind noch nicht abgeschlossen. In die laufende Diskussion haben die Akademien zuletzt im Juli 2022 das Ideenpapier zu einem „Science Advice Network (SA-Net)“ eingebracht [11]. Dieses wissenschaftliche Beratungsnetz steht für ein neues Modell betreffend die Beziehungen unter den verschiedenen Akteuren in der Schweizer Wissenschaftslandschaft sowie mit Politik und Gesellschaft. Wichtig sind drei Elemente: Erstens die kollektive Abstützung und Verantwortung, damit die eingangs eingeführten Wissenschaftsinstitutionen ihr Engagement koordinieren und sich zusammen einbringen. Zweitens eine Offizialisierung, um eine verbindliche Vereinbarung zwischen Wissenschaft und Politik zu erzeugen, die die Akteure in beiden Bereichen in die Pflicht nimmt: zur Zusammenarbeit auf der einen Seite und zur Entgegennahme der kollektiven Expertise andererseits. Abschließend benötigt es flexible Modelle, wodurch das Beratungsnetz zwischen einfachen, kurzfristigen und umfassenderen komplexeren Anfragen sowie längerfristigen Herausforderungen unterscheidet und je nach Fall personell und institutionell in unterschiedlichem Umfang als Dialogpartner zur Verfügung steht.
Diesen Überlegungen zugrunde liegt ein klares Rollenverständnis in diesem Kontext: Die Wissenschaft bringt ihre Expertise und darauf basierende Handlungsoptionen ein. Die Politik entscheidet über Strategien und Maßnahmen. Ebenso klar ist, dass bei längerfristigen Herausforderungen ein erprobtes und gut funktionierendes System die beste Basis für eine vertrauensvolle, rasche und effektive Zusammenarbeit bei der Bewältigung akuter Krisen ist. Nicht zu unterschätzen ist jedoch immer der Faktor Mensch, wie im Vorwort des Ideenpapiers betont wird: „Ein gutes Modell bzw. eine gute Struktur ist eine wichtige Voraussetzung, jedoch nie ein Selbstläufer. Es braucht Menschen, die diesen Dialog führen, ihn wollen und ihm Gewicht geben. Nur dann kann das Science Advice Network die erwartete Wirkung in Politik und Wissenschaft entfalten.“