Unkontrolliert, intransparent und innovationskarg
Deutsche Forschungsinstitutionen in der Kritik
Im Gespräch mit Thomas Sattelberger, Manager, Betriebswirt und Politiker
(Titelbild: © AdobeStock | 446036474 | Nuthawut)
Kurz und Bündig
Thomas Sattelberger sieht Forschungsinstitutionen als transformationsresistent und innovationskarg. Zudem mangele es an Diversität und Unabhängigkeit. Der Politik fehle es an Wertschätzung für unbequeme Beratung und dem Willen, nach dem Ergebnis von Forschung zu fragen. Zu viel werde über den Input, über Budgets für Forschung gesprochen und zu wenig über Output, Impact, Throughput. Startups, Wachstumseffekte oder die Qualität von Führungs- oder Innovationskultur und Diversity der Forschungseinrichtungen seien für die Politik unwichtig – und damit fehle die Voraussetzung dafür, dass sich Forschung in Deutschland verbessert.
Von der außerparlamentarischen Opposition zum Topmanager. Thomas Sattelbergers Biographie liefert genügend Gesprächsstoff. Seine jahrelange Tätigkeit in deutschen Topunternehmen und in der Spitzenpolitik ebenso. Die IM+io sprach mit ihm über seine Erfahrungen mit der wissenschaftlichen Politikberatung. Welche Probleme haben deutsche Forschungsinstitute? Und wie würde er wissenschaftliche Politikberatung gestalten?
Guten Tag Herr Sattelberger, schön dass wir heute sprechen. Sie sind bekannt dafür, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Wie ist Ihre Einschätzung zu unseren aktuellen Herausforderungen, und sehen Sie hier die Forschungsinstitutionen oder die Politik in der Verantwortung?
TS: Die Klimakrise und die Digitalisierung sind disruptive Einschläge, mit denen sich Deutschland früher hätte beschäftigen müssen. Die Rückstände bei Wasserstoff oder KI habe ich schon mehrmals dargelegt. Einerseits haben sich Forschungsorganisationen viel zu lange geziert, sich der Aufgabe ihrer eigenen Transformation hin zu Transferstrukturen und -kulturen zu stellen. Andere über Transformation zu belehren, selbst aber nichts tun, war die Devise. Im internationalen Vergleich sind Science Entrepreneurship, Technologietransfer und Professionalität, aber auch schon die Forschungskultur selbst bestenfalls Mittelmaß. Und über die Zukunftskraft des heutigen Outputs will ich gar nicht sprechen. Sebastian Thrun, Ex-Stanford Professor und Multi- Gründer, sprach über die Leiter deutscher Forschungsorganisationen quasi als Halbgötter, die über Drittmittel, Doktoranden und PostDocs sowie Großbauten herrschten, während Professoren und Unternehmer aus dem Silicon Valley die Welt leidenschaftlich verbessern wollten.
Schwarz-weiß, aber kantig. Dies alles macht Forschung in Deutschland leider transformationsresistent und innovationskarg. Und wenn wir an Science Leadership denken, dann sieht es nicht viel besser aus. Blutarme Wissenschaftstechnokraten an der Spitze der Forschungsorganisationen, die liebend gern effizient die Gegenwart managen, statt auch zukunftsorientiert zu führen. Die Leuphana Universität, die UnternehmerTUM, vielleicht noch Steinbeis, dort gab es im Hochschul-System einen Veränderungswillen; bei Max Planck, Fraunhofer & Co. Fehlanzeige!
Auf der anderen Seite ist die Politik für die Versäumnisse mitverantwortlich. In meiner Zeit als Oppositionspolitiker ab 2017 habe ich bei Forschung immer nach dem Output oder Impact und später auch nach dem „Throughput“, also der Qualität von Führungs- oder Innovationskultur und Diversity, gebohrt. Über Budgeterhöhungen sprechen alle gerne. Über die Anzahl der Ausgründungen, skalierende Startups, Wachstum der Lizenzeinnahmen oder Patente niemand. Die ersten Jahre wurde ich abgebürstet, ich solle doch endlich meine „Manager-Brille abnehmen. Ein jahrzehntelang CDU-geführtes Ministerium lässt sich nicht belehren. Und Throughput, besonders Governance und Compliance, war ein Fremdwort. Dass manche Forschungsorganisationen Mitarbeiterbefragungen nur einmal durchführen und bei schlechten Ergebnissen nie mehr wiederholen, berührte weder Politiker noch Ministeriale in den Aufsichtsräten oder Senaten der Forschungseinrichtungen. Diese verstanden sich als Claqueure, nicht als echte Berater oder gar Kontrolleure.
Die Politik lässt sich in ihrer Naivität statt von Key Performance Indicatores (KPIs) und unabhängigen Benchmarks von Schönwettergeschichten in den Jahresberichten der Forschungseinrichtungen betören.
Sie kennen die Industrie als Top-Manager. Was würden Sie aus Ihren Erfahrungen den Forschungsinstitutionen raten?
TS: Fraunhofer hat nach Berechnungen meines bisherigen Bundestagsbüros achtmal mehr Mitarbeiter in seiner Zentrale als der Durchschnitt der DAX-40 Unternehmen, Max Planck bringt es immerhin auf das Vierfache. Die Verfettung findet man in diesen Zentralen. Und was noch schlimmer ist: Fette Zentralen hemmen die dezentralen Forscherinnen und Forscher. Eine unabhängige Systemanalyse und Effizienzrevision der deutschen Forschungslandschaft und gegebenenfalls radikale Umbaumaßnahmen sind aus meiner Sicht angesagt.
In der Vergangenheit sprachen Sie auch von „fetten Katzen“ im Zusammenhang mit den Zentralen der außeruniversitären Forschungsorganisationen. Hat Ihre Kritik diese Einrichtungen verändert?
TS: Meine Kritik hat die Forschungseinrichtungen ein Stück aus der Schläfrigkeit geholt. Faktisch hat sich aber zu wenig verändert, sonst gäbe es zum Beispiel unter den Forschungseinrichtungen „shared services“: einen gemeinsamen Einkauf bei nicht strategischen Aufgaben. Dort könnten Kosten signifikant gesenkt werden. Oder es gäbe ein Center of Excellence bei strategischen Themen wie zum Beispiel die Professionalisierung des Technologietransfers oder des Talent-Managements. Auch bei Compliance besteht nach wie vor erheblicher Nachholbedarf. Dass der Präsident von Max Planck gleichzeitig dem Senat vorsitzt, dass der Präsident von Fraunhofer gleichzeitig im Wahlausschuss seinen Nachfolger auswählt, dass Budgetverantwortliche des Bundestags für Senate von Forschungseinrichtungen kandidieren, sind grobe Compliance- Verstöße. Das würde in Wirtschaftsunternehmen heute nicht mehr möglich sein und als böser Regelverstoß gelten. Mit Sorge sehe ich auch, dass meine Initiative, mit strategischen Indikatoren zu Output und Impact den Pakt für Forschung und Innovation mit den Forschungsorganisationen zu steuern, aktuell vom Forschungsministerium nicht weiter verfolgt wird.
In Ihrer Zeit als Staatssekretär fokussierten Sie sich auf den Wissenstransfer in die Wirtschaft und schlugen zum Beispiel Sonderwirtschaftszonen rund um Universitäten vor. Wie sehen Sie den Transfer von Wissenschaft in die Politik?
TS: Ich hatte und habe den Eindruck, dass unabhängige Expertenmeinungen in der Politik gar nicht so sehr wertgeschätzt werden, sondern eher gefällige politisch genehme Meinungen. Zum Beispiel hat der damalige Finanzminister Olaf Scholz dem damaligen wissenschaftlichen Beirat des Wirtschaftsministeriums unterstellt, die „sogenannten Experten“ hätten bei der Rente falsch gerechnet und unsoziale Vorschläge gemacht.
Für den Transfer von Wissenschaft in der Politik braucht es mindestens drei Punkte. Erstens: Wertschätzung. Evidenzbasierte wissenschaftliche Expertise muss von der Politik gewollt sein. Politik muss „Danke“ sagen, auch wenn die Ergebnisse nicht genehm sind. Zweitens: Die Beratungsgremien müssen divers besetzt sein. Bei den gesellschaftlichen Fragen der Corona-Pandemie haben zum Beispiel Kindertherapeuten, Sozialpädagogen und Bildungsökonomen in den Gremien gefehlt. Die Dominanz der virologischen Gurus war übermächtig.
Skandalös war in der Corona-Pandemie die Ad-hoc-Stellungnahme der Leopoldina im April 2020. Das Beratungsgremium bestand aus 26 Mitgliedern, davon nur zwei Frauen, und der Altersdurchschnitt betrug über 60 Jahre. Das Kindeswohl stand überhaupt nicht im Blick dieses homogen besetzten und denkenden Beratungsgremiums. Unverhältnismäßige Schul- Lockdowns waren die verhängnisvolle Folge. Drittens: Politik wie Wissenschaft müssen Interessenskonflikte – wo immer nur möglich – vermeiden. Der ehemalige Vorsitzende des High- Tech-Forums des Forschungsministeriums war gleichzeitig „Subventionsempfänger“ dieses Ministeriums. Beratungsgremien müssen mit Persönlichkeiten besetzt werden, die geistig unabhängig sind. Lobbyierende Geldempfänger des Bundes können nicht die Berater des Bundes sein. Nun gibt es keine interessensfreien Menschen oder Institutionen. Jeder hat Interessen. Aber es gibt zumindest interessensarme und relativ unabhängige Köpfe. Das muss auch bei der jetzt geplanten Zukunftskommission „Forschung und Innovation“ beachtet werden.
Während der Corona-Pandemie schien es, dass sich die Politik von dem Expertenwissen der Mediziner leiten ließ. Die Wissenschaft wurde gehört, vielleicht wie noch nie zuvor. Bedeutet dies die von Ihnen geforderte „Zeitenwende“ für die Wissenschaft?
TS: Ich würde es bescheidener formulieren: es gibt ruckelige Lernprozesse. Vielleicht gewinnt der Gedanke einer Cross-Disziplinarität an Verbreitung. Und nicht nur politische Entscheidungsprozesse, sondern auch wissenschaftliche Beratungsprozesse müssen evaluiert werden. Dabei muss auch der Compliance Rechnung getragen werden. Es war völlig richtig, dass Christian Drosten aus dem Corona-Expertenrat ausschied. Herr Drosten kann nicht der Evaluierer seiner eigenen Vorschläge sein. Im angelsächsischen Raum ist man in Sachen Compliance sowie Check & Balance viel weiter fortgeschritten.
Sie kennen die Politik von innen, also auch deren Grenzen durch Parteiprogramme und Anspruchsgruppen. Die Wissenschaft könnte unideologisch beraten. Hat ein Institut nicht mehr Relevanz, je mehr es sich an den politischen Zielen ausrichtet?
TS: Ja, schon. Dann aber leider limitiert auf politische Richtungen wie in den USA mit den republikanisch abhängigen Think-Tanks und den von den Demokraten abhängigen Think-Tanks. Das ist instrumentalisierte Wissenschaft! Die „mentalenGefängnisse“ bezogen sich im Übrigen auf die zum Teil patriarchalische Führungskultur in unseren Forschungseinrichtungen.
In ihrer Frage steckt aber natürlich noch ein ganz spannender Aspekt, wenn man politische Ziele nimmt, die von einem breiteren Konsens in der Gesellschaft getragen sind. Denn neben der neugiergetriebenen Grundlagenforschung gewinnt die missionsgetriebene Forschung, wie zum Beispiel „CO2-freie Mobilität“, ”Halbierung HIV-Infektionen“ oder „Mensch auf dem Mars“, an Bedeutung.
Die neugiergetriebene Forschung, also „curiosity driven research“, kann sich natürlich nicht an politischen Zielen orientieren. Bei der missionsgetriebenen Forschung kann die Politik jedoch Ziele vorgeben. Allerdings sollte dies möglichst technologieneutral sein, zum Beispiel emissionsfreier Antrieb. Politische Vorgaben in Richtung Elektroantrieb, Biofuels oder Wasserstoff sind falsch. Max Planck wird der Satz zugeschrieben, Wissenschaft entwickele sich von Beerdigung zu Beerdigung weiter. Heute herrschende Annahmen sind mit Fortentwicklung der Wissenschaft morgen obsolet. Politik steuert die Forschung heute zu stark mit technologiespezifischen Zielen statt mit technologieneutralen Missionen. Ein riesiger Fehler. Es muss einen Wettbewerb der Technologien geben. Den soll der Staat mit politischen Zielen ermöglichen.
Viele Forschungsprojekte haben eine wissenschaftliche Begleitforschung und werden evaluiert. Haben Sie als aktiver Politiker diese Erkenntnisse genutzt, um die Forschungspolitik besser zu machen?
TS: Ja. Zu Oppositionszeiten habe ich Begleitforschungen intensiv studiert und durchgearbeitet. Doch meist waren die Änderungs- beziehungsweise Verbesserungspotentiale außerordentlich zahm formuliert. Ich habe damals diese Verbesserungsvorschläge in kleine Anfragen an die Bundesregierung übersetzt, worauf das Bundesministerium für Bildung und Forschung meist reserviert, manchmal beleidigt reagiert hat. Als Staatssekretär habe ich erst recht Begleitforschung und Evaluierung genutzt. Doch das ist sehr mühsam.
Das Problem ist, dass die Wissenschaft untereinander extrem verbandelt ist. Wer heute ein Projekt oder ein Forschungsergebnis kritisiert, läuft Gefahr, als Antragsteller die kritisierten Kollegen in einer Auswahlkommission wieder zu treffen und das eigene Projekt abgelehnt zu bekommen. Deswegen gilt bei Evaluierungen der Grundsatz: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“. Als Staatssekretär habe ich Evaluierungen gelesen, die sich wie Gefälligkeitsgutachten lasen.
Wenn Sie frei entscheiden könnten, wie würden Sie die wissenschaftliche Beratung der Politik organisieren?
TS: Bei mir würden (1) die anfangs skizzierten Grundsätze gelten: wissenschaftliche Beratungsgremien werden divers und interessenarm besetzt. Es gäbe (2) eine unabhängige Evaluierung von Forschungsprojekten anhand der Kriterien von Input, Output, Outcome/ Wertschöpfung und Throughput. Die Evaluierung enthielt (3) einen Aktionsplan, welche Verbesserungen oder Erkenntnisse bis wann umgesetzt werden müssen. Die Bundesregierung hätte zudem (4) eine öffentliche Begründungspflicht, warum sie Verbesserungs- oder Veränderungsvorschläge nicht aufgreift.