Die digitale Veredelung von Produktionseinrichtungen und Produkten ermöglicht eine neue Form der vertikalen und horizontalen Integration durch die Prinzipien des Internet der Dinge und des Internet der Dienste. Produkte werden intelligent, Maschinen tauschen untereinander Informationen aus, reale Produktionsprozesse und deren Simulation werden stärker miteinander verbunden. Kontextsensitive Assistenz bringt den Menschen zurück in das Zentrum der Produktion. Nach der Mechanisierung der Produktion, der Einführung des Fließbands und dem Einzug der IT-Systeme haben das Internet der Dinge und der Dienste, welche die technische Grundlage Cyber-Physischer Systeme darstellen, das Potenzial, eine vierte industrielle Revolution auszulösen.
1. Einleitung
Vor dem Hintergrund rapide steigender Komplexität und Variantenvielfalt in der heutigen industriellen Produktion wird der Zugriff auf Informationen über die eigenen Produktionsprozesse und -einrichtungen sowie die informationstechnische Vernetzung mit Partnerunternehmen und Kunden zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor der Zukunft. In der heutigen Realität ist dieser Zugriff nicht immer gewährleistet. Wesentliche Hindernisse für einen reibungslosen und medienbruchfreien Informationsaustausch sind mangelnde Interoperabilität von Softwaresystemen, implizite oder nicht definierte Informationsmodelle sowie fehlende Filtermechanismen, um das relevante Wissen aus der Flut vorliegender Informationen zu extrahieren.
Im Consumer-Bereich sind viele dieser Hemmnisse bereits beseitigt. Durch die Konvergenz der Kommunikations- und Informationstechnologien ist der Zugang zu Informationen und Wissen heute von nahezu jedem Ort, zu jedem Zeitpunkt mit einer großen Vielfalt an Interaktionsgeräten möglich. Die Art der technischen Realisierung ist dabei weitestgehend transparent. Dies schlägt eine Brücke zwischen virtueller („cyber space“) und dinglicher Welt, verändert den Umgang mit Informationen in der Gesellschaft und eröffnet neuartige Geschäftsfelder [1].
Die Übertragung dieser Ansätze in die industrielle Produktion adressiert die oben genannten Anforderungen zur Beherrschung von Komplexität und Varianz in komplexen und globalen Wertschöpfungsnetzwerken durch Erreichbarkeit und Auswertbarkeit von aktuellen Daten und Informationen der Produktionsanlagen von der Geräteebene bis hin zum unternehmensübergreifenden Wertschöpfungsnetzwerk.
2. Produkte und Maschinen werden zu Cyber-Physischen Systemen
Cyber-Physische Systeme sind verteilte, intelligente Objekte, die miteinander über Internettechnologien vernetzt sind. Im Bereich der Produktionstechnik können dies z.B. einzelne Prozessmodule bis hin zu Anlagen und Einrichtungen aber auch individuelle intelligente Produkte umfassen. Sie werden auch als Cyber- Physische Produktionssysteme (CPPS) bezeichnet. CPPS werden zukünftige Fabriken von Grund auf revolutionieren und umfassen folgende charakteristische Aspekte:
- Smarte Objekte – die Erweiterung technischer Geräte durch dezentrale Intelligenz
- Allumfassende Vernetzung – die Kommunikationsfähigkeit aller solcher smarten Objekte in einem Netzwerk
- Nutzung von Internet-Standards – die Adaption existierender und erprobter Standards zur kabelgebundenen und drahtlosen Kommunikation
- Wandelbare, agile Produktionssysteme – die Aggregation smarter Objekte zu weitgehend selbstkonfigurierenden Produktionssystemen
- Vertikale Integration im Netzwerk – die Ablösung strikt hierarchischer Steuerungsarchitekturen durch stärkere vertikale Integration und Durchgängigkeit in den Netzwerkstrukturen
- Veränderte Rolle des Menschen – die stärkere Unterstützung des Nutzers durch einen verbesserten und mobilen Zugriff auf Produktionsdaten und -anlagen verbunden mit einer nutzerzentrierten und kontextadaptiven Interaktionsgestaltung
2.1 Das Digitale Produktgedächtnis
Ein Ansatz, zur informationstechnischen Verknüpfung der unterschiedlichen Ebenen der Produktion ist die Nutzung des Produkts selbst als Informationsträger. Das individuelle Produkt wird mit einem automatisch auslesbaren Datenträger ausgerüstet. Technische Lösungen basieren heute häufig auf Auto-ID Technologien (Abbildung 1 zeigt die Verwendung von RFID) und werden typischerweise in „closed Loop“ Anwendungen verwendet.
Digitale Produktgedächtnisse (DPG) stellen ein ganzheitliches und flexibles Konzept zur Assoziation digitaler Informationen mit physikalischen Objekten dar, welches den produktbezogenen Informationsaustausch technologieunabhängig in „open Loop“ Prozessen, also über die Ebenen des Unternehmens und sogar Unternehmensgrenzen hinweg, ermöglicht, wie in Abbildung 2 illustriert [2]. Das Digitale Produktgedächtnis ermöglicht so den Informationsaustausch über den gesamten Lebenszyklus des Produkts.
Neben einer genauen Beschreibung des Produkts selbst erlauben DPG vor allem ein enges Monitoring von Ereignissen, die während der Produktion und dem gesamten Lebenszyklus eines Produkts auftreten. Die Speicherung produktionsbezogener Daten „on-product“ macht Produktionssysteme unabhängiger von Server-Systemen und verringert dadurch deren Anfälligkeit gegenüber Störungen im Vergleich zu vorwiegend zentralisiert organisierten Systemen. Darüber hinaus erlaubt die Nutzung von „on-product“- Informationen produktindividuelle Speicherung von Prozessinformationen und -parametern sowie von Transportzielen, für dessen Herstellung und den Transport zum Kunden. Dadurch enthält jedes Produkt alle relevanten Informationen, um seinen individuellen Wertstrom zu durchlaufen. Das Produkt steuert sich somit selbst durch seine Produktion.
Zukünftig ist vorstellbar, dass diese Informationen über den Herstellungsprozess die Grundlage von internetbasierten Mehrwertdiensten sowohl für Unternehmen als auch für Endkunden sein werden. Ein Beispiel für einen solchen Mehrwertdienst stellt die Nutzung von DPG-Informationen zur zuverlässigen und für den Kunden transparenten Darstellung der Produktionshistorie und des daraus resultierenden CO2-Footprints zur Motivation einer ökologisch begründeten Kaufentscheidung dar.
2.2 Netzbasierte Dienste
Neben dem durchgängigen Zugriff auf produktbezogene Informationen über das Digitale Produktgedächtnis bieten netzbasierte Dienste die Möglichkeiten des interoperablen Zugriffs sowohl auf Informationen aus dem Wertschöpfungsprozess als auch auf die Funktionalitäten, die durch Maschinen und Feldgeräte im Wertschöpfungsprozess zur Verfügung gestellt werden. Im Bereich der Internettechnologien haben sich hier Webservicetechnologien aufbauend auf dem Internetstandard HTTP etabliert. Webservices ermöglichen den sicheren Aufruf einer angebotenen Funktionalität auf einem Internetserver. Netzbasierte Dienste werden zum Abbau von Barrieren in der Zusammenarbeit von Unternehmen führen und eröffnen gleichzeitig neue Geschäftsfelder.
Automatisierungstechnische Geräte, Maschinen, Produktionslinien, Logistikplanungs- oder Simulationssysteme werden zu Servern im Internet der Fabrik und bieten so Zugriff auf ihre Funktionalitäten und Informationen an. Gleichzeitig lassen sich unterschiedliche Anlagen über dieses Konzept informationstechnisch vernetzen. Internettechnologien wie SOAP oder REST werden damit zur technischen Grundlage zur vertikalen und horizontalen Integration von Automatisierungs- und IT-Systemen. Auf derselben technologischen Basis lassen sich auch netzbasierte Dienste für Partnerunternehmen oder sogar dem Endkunden realisieren.
Die Kapselung von Funktionalitäten in Softwarekomponenten und ihr Aufruf über Webservices führt zur Serviceorientierten Architektur (SoA). Dieses Konzept ist in der Informationstechnik schon seit einigen Jahren etabliert und findet vor allem in Geschäftsprozessen Anwendung. Bei SoA handelt es sich um ein abstraktes Konzept für Software-Architekturen, das differente Methoden oder Applikationen als wiederverwendbare und off en zugängliche Dienste repräsentiert und dadurch eine plattformunabhängige Nutzung und Wiederverwendung ermöglicht [3].
3. Engere Verbindung zwischen Realwelt und ihrem digitalen Abbild
Netzbasierte Dienste, Digitale Produktgedächtnisse, Sensornetzwerke und intelligente eingebettete Systeme eröffnen einen Blick in die aktuellen Zustände von Produkten und Ressourcen in Echtzeit. Die heute vielfach beobachtbare Kluft zwischen dem Zustand der realen Welt und ihrem digitalen Abbild in Planungs- und Buchhaltungssystemen wird durch die direkte Beobachtbarkeit von technischen Prozessen und Warenströmen kleiner. Damit wird die Vision der betriebsparallelen und prädiktiven Simulation von kritischen technologischen Prozessen oder von Logistikszenarien Realität.
Mit dieser Möglichkeit lässt sich die Effektivität der Produktion deutlich gegenüber dem heutigen Status Quo anheben. Technische Prozesse können so vom ersten gefertigten Produkt an in ihrem optimalen Betriebspunkt betrieben werden. Die Simulation ermöglicht eine weitaus größere Transparenz der technologischen Prozesse und kann unter anderem zur Diagnose und zur technologischen Optimierung herangezogen werden. Des Weiteren eröffnet gerade die betriebsparallele Materialflussplanung eine deutliche Flexibilitäts- und Effizienzsteigerung der inner- und außerbetrieblichen Logistik.
4. Kontextbasierte Assistenz für den Menschen in der Fabrik
Digitales Produktgedächtnis und die Auflösung der Automatisierungspyramide führen zu einer Flut an Informationen. Der Mensch benötigt hier situationsabhängige Filterungsmechanismen, um am richtigen Ort zur richtigen Zeit die benötigten Informationen zu erhalten. Von besonderer Bedeutung ist hier der Begriff des Kontexts. Allgemein wird darunter die Menge an Information zur Charakterisierung einer Situation verstanden, die sowohl für eine Applikation als auch für deren Nutzer relevant ist [4].
Im Bereich der Consumer- Elektronik und der sozialen Netze haben sich bereits heute kontextsensitive Anwendungen etabliert, sei es um seine digitalen Fotos und Videos mittels Orts- und Zeitinformation zu sortieren, um in der Nähe befindliche Freunde ausfindig zu machen, oder um gezielt ortsbezogene Werbung auf ein Smartphone zu senden. Im Bereich der industriellen Anwendung erschließt Kontextsensitivität die Möglichkeit, dem Menschen in der Fabrik situationsangepasst Informationen zu übermitteln und die jeweils relevanten Hinweise aus der vorhandenen Informationsflut herauszufiltern.
Relevante Kontextarten in der Fabrik sind neben der Ortsinformation auch Angaben über Produkte, deren Fertigungsstatus, Auftragsdaten aber auch Informationen über Maschinen wie z.B. Zeichnungen, technische Spezifikationen, Schrittketten und Prozessinformationen. Diese Informationen sind sehr vielseitig und entstammen neben Sensorsystemen vor allem andern IT Systemen des Unternehmens wie Auftragserfassungs- und Logistikplanungssystemen, den Steuerungen der Produktionsanlagen und den Produktgedächtnissen. Die kontextsensitive Assistenz für den Menschen in der Fabrik erfordert so den durchgängigen Informationszugriff auf alle Ebenen des Unternehmens und setzt somit das Vorhandensein eines Fabrik-Internets voraus.
Zur Aufbereitung und Vermittlung dieser gefilterten Informationen bieten sich Augmented Reality (AR) Technologien an [5]. Wie in Abbildung 3 gezeigt, überlagern dabei computergenerierte Inhalte ein reales Bild. Im Bereich der Forschung wurden vor allem in den letzten Jahren wesentliche Fortschritte erzielt, was sowohl Algorithmen und Technologien betriff t. Neben neuen leichtgewichtigen Head Mounted Displays und miniaturisierten Trägheitssensoren zur Bewegungserkennung ermöglichen heute vor allem Tablet Computer mit ihren eingebauten Kameras, der vergleichsweise hohen Rechenleistung und ihrer Vernetzungsfähigkeit einen breiten Einzug der AR in die industrielle Praxis. Einer DFKI-Studie zufolge können sich bereits heute etwa 78% der befragten Teilnehmer den Einsatz von AR im industriellen Umfeld vorstellen. Haupteinsatzfelder sind dabei Instandhaltung, Logistik sowie Schulung und Training von Mitarbeitern.
5. Die 4. Industrielle Revolution
Die Produktion der Zukunft wird von der digitalen Veredelung von Produktionseinrichtungen und Produkten geprägt sein. Internettechnologien zur Realisierung einer offenen Kommunikationsplattform werden sich zunehmend auch innerhalb der industriellen Produktion ausbreiten und zur Ablösung der heute streng hierarchisierten IT – Landschaft führen. Die enge Verbindung von physikalischen Objekten und den dazugehörigen Informationen, seien es Produkte, Produktionseinrichtungen oder Elemente der Logistikkette führen zur Reduktion von Medienbrüchen und erhöhen die Effektivität des Informationsaustauschs. Netzbasierte Dienste, die direkt aus der Produktion heraus angeboten werden können, binden den Endkunden direkt in den Produktionsprozess ein und erlauben die Erschließung neuer Geschäftsfelder im Bereich von Mehrwertdiensten zum Produkt. Diese Veränderungen sind disruptiver Natur und besitzen das Potenzial, eine neue industrielle Revolution auszulösen. Abbildung 4 zeigt den Verlauf der industriellen Revolutionen.
Als Grundlage für neue Ebenen der Produktivität und Wertschöpfung umfasst die 4. Industrielle Revolution die Entwicklung und Vermarktung autonomer, selbststeuernder und wissensbasierter Produktionssysteme, welche auf Cyber-Physischen Systemen basieren. Der Einzug des Internets der Dinge und des Internets der Dienste in die industrielle Produktion wird weiterführende Verbesserungen bei der Durchführung industrieller Prozesse in Produktion, Engineering, Supply Chain und Life Cycle Management ermöglichen, die in ihrer Gesamtheit zu einer neuen Form der Industrialisierung, der so genannten Industrie 4.0 führen.
LITERATUR
[1] Zühlke, Detlef: SmartFactory – Towards a factory-of things. In: Annual Reviews in Control, 34, 1, 2010, S. 129 – 138
[2] Stephan, Peter; Flörchinger, Florian: Das Produkt als Informationsträger – Digitale Produktgedächtnisse als Medium zur Kommunikation in heterogenen Wertschöpfungsketten. In: Konferenzband Automation 2010,VDI-Berichte 2092, 2010
[3] Ollinger, Lisa; Schlick, Jochen; Hodek, Stefan: Konzeption und praktische Anwendung serviceorientierter Architekturen in der Automatisierungstechnik. In: Konferenzband Automation 2011, VDI-Berichte 2143, 2011
[4] Heck, Ines; Stephan, Peter: Optimierung von Fabrikprozessen durch die Nutzung räumlicher Kontextinformationen am Beispiel der Instandhaltung. In: Lecture Notes in Informatics, Nr. P-163, 2010, Seiten 188-194
[5] Dominic Gorecky; Simon F. Worgan; Gerrit Meixner : COGNITO – A Cognitive Assistance and Training System for Manual Tasks in Industry. In: Proceedings of the 29th European Conference on Cognitive Ergonomics. European Conference on Cognitive Ergonomics (ECCE-11), Designing Collaborative Activities, August 24-26, Rostock, Germany, 2011.
Jochen Schlick, Peter Stephan, Detlef Zühlke