Plastik auf Kredit
Die Revolution des globalen Plastiksystems
Im Gespräch mit Christian Rühlmann, precycle
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Kurz & Bündig
Das Plastikkreditsystem von precycle ermöglicht es Unternehmen sowie Privatpersonen, den Plastikfußabdruck zu kompensieren und so einen wirkungsvollen Beitrag zur Beseitigung des globalen Plastikproblems zu leisten. Das Start-up verfolgt damit einen dreifachen Ansatz: ökologisch, ökonomisch sowie sozial. Denn neben der Beseitigung von Plastikmüll aus der Umwelt unterstützt precycle Unternehmen der Abfallwirtschaft im globalen Süden und legt besonderen Wert auf faire Arbeitsbedingungen bei seinen Projektpartnern.
Die Müllberge im globalen Süden, wo der Abfall des globalen Nordens entsorgt wird, wachsen, denn die Plastikproduktion steigt unaufhaltsam an. Noch stellt Plastik für viele Industriezweige eine unverzichtbare Ressource dar. Das multinationale Start-up precycle hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Plastiksystem neu zu denken und tragfähige Strukturen und Prozesse in der Abfallwirtschaft des globalen Südens zu etablieren, um der Plastikverschmutzung unseres Planeten entgegenzuwirken. Über die Mission des Start-ups sprach Christian Rühlmann, CEO von precycle, mit der IM+io.
Herr Rühlmann, was ist precycle? Und wie ist die Idee dazu entstanden?
CR: precycle macht es Privatpersonen und Unternehmen einfach, Verantwortung für ihren Plastikfußabdruck zu übernehmen und gemeinsam gegen die Plastikverschmutzung zu kämpfen. Dafür entwickeln wir Software, die Plastic Action so einfach und transparent wie möglichmacht.
Die Idee entstand in einem interaktiven Prozess. Als Industriedesigner habe ich mich im Arbeitsalltag viel mit Plastik beschäftigt. Irgendwann reifte die Erkenntnis, dass ich mit Designmethoden nicht nur über Produkte und ästhetische Herausforderungen nachdenken, sondern diese Methoden auch zur Lösung von sozialen und ökologischen Problemen einsetzen kann. Es folgten ein intensiver Rechercheprozess um das globale Plastikproblem zu verstehen, eine Synthese und schließlich die Entwicklung eines Lösungsansatzes.
Das Team von precycle besteht derzeit aus 9 Personen. Sie arbeiten zusammen, sind jedoch teilweise auf verschiedenen Kontinenten zuhause. Wie haben Sie zusammengefunden und haben Sie ganz bewusst nach Mitstreitern und Unterstützern für Ihre Idee in anderen Ländern und auf anderen Kontinenten gesucht?
CR: Die Idee entstand während der ersten Covid-19-Welle. Zusammenarbeit war also sowieso nur digital möglich. Ich habe viel in digitalen Netzwerken über meine Idee gesprochen und aktiv nach Mitstreiter:innen gesucht. Die Anfangszeit eines solchen Projektes ist immer turbulent, und entsprechend hatten wir eine recht große Fluktuation in den ersten Monaten. Mit der Zeit hat sich ein Kernteam herauskristallisiert und professionalisiert, welches in den letzten Monaten durch gezieltes Recruiting gewachsen ist. Unsere geografische und kulturelle Diversität ist dabei ein echter Mehrwert und extrem wichtig. Nur so können wir die Arbeits- und Denkweise unserer Partnerprojekte sowie die Herausforderungen vor Ort wirklich verstehen!
Sie alle eint eine Mission. Wie sieht diese Mission genau aus?
CR: Wir wollen das Plastiksystem neu denken und dafür sorgen, dass möglichst viele Plastikabfälle unter fairen Arbeitsbedingungen aus der Umwelt gesammelt werden. Aktuellen Prognosen zufolge wächst die Plastikproduktion exponentiell, und demzufolge werden wir in Zukunft auch mit deutlich größeren Mengen an Plastikabfällen umgehen müssen – vor allem in den Ländern des globalen Südens. Was wir aktuell sehen, ist nur ein Vorgeschmack auf das, was kommt! Unsere Mission ist es, in der Abfallwirtschaft des globalen Südens tragfähige Strukturen und Prozesse für die Zukunft aufzubauen.
Sie sprechen von einem dreifachen Impact Ihres Startups: ökologisch, sozial und ökonomisch. Wie sehen die Auswirkungen Ihrer Arbeit ganz konkret aus? Wo hilft precycle?
CR: Unser Umgang mit Plastik wird aktuell vor allem als Problem betrachtet – was völlig richtig ist! Aber in jedem Problem steckt auch eine Chance. Wir sehen in Plastik das Potential , um vielschichtigen Wandel anzustoßen, und sprechen immer wieder über unseren Triple Impact. Die ökologische Komponente ist naheliegend: wir sammeln Plastikmüll aus der Umwelt und etablieren Strukturen, die verhindern, dass weiterer Plastikmüll in die Umwelt gelangt. Dabei ist es wichtig, dass dies unter fairen Arbeitsbedingungen geschieht – also dass Waste Worker durch feste Arbeitsverträge mit fairer Bezahlung, Arbeitsschutz, Krankenversicherung und Bildung wertgeschätzt werden. Die dritte Komponente ist die ökonomische Wirkung. Wir unterstützen bestehende Unternehmen darin zu wachsen oder bauen neue Organisationen an Orten auf, an denen es aktuell keine Abfallwirtschaft gibt. Dadurch entstehen neue Arbeitsplätze und regional ausstrahlende Effekte.
Hinter precycle steckt ein Plastikkreditsystem, ähnlich wie wir es für CO2-Emissionen, sog. Carbon Credits, beispielsweise kennen. An wen richtet sich dieses Plastikkreditsystem?
CR: Plastic Credits werden in letzter Zeit immer heißer diskutiert und bereits in Pilotprojekten vor allem von großen Konzernen eingesetzt. Wir verringern die Eintrittshürde und machen plastic credits für Privatpersonen und Unternehmen aller Größe zugänglich.
Und wie sieht der Prozess für ein
Unternehmen aus, welches sich entscheidet mit precycle seinen Plastikfußabdruck zu kompensieren?
CR: An erster Stelle steht das Erfassen des Status Quo. Wo fällt welche Menge an Plastikmüll im Unternehmen und der Lieferkette an? Danach entwickeln wir gemeinsam eine Plastikstrategie. Wahrscheinlich können sofort kleine Veränderungen in Abläufen vorgenommen werden, die direkt große Wirkung zeigen! An vielen Stellen ist Plastik als Werkstoff heute aber noch unersetzlich. In diesen Fällen ist Kompensation das Mindeste, was getan werden kann!
Wie sieht das Geschäftsmodell von precycle aus? Und wie schaffen Sie Transparenz für Ihre Partner?
CR: precycle kombiniert Software as a Service (SaaS) und Subscription-Modelle in den unterschiedlichen Geschäftszweigen. Transparenz schaffen wir durch eine Kombination aus sehr präziser Trackingtechnologie auf Blockchain- Basis und regelmäßigen Audits durch unabhängige Gutachter:innen. So können wir hochaufgelöst Auskunft darüber geben, wo zu welchem Zeitpunkt welche Mengen an Plastikmüll gesammelt wurden, welche Arbeiter:innen konkret von dem System profitieren und welches Projekt in welchem Umfang finanziell unterstützt wurde. Plastik hat dabei gegenüber CO2 den Vorteil, dass es ein greifbares Material ist und konkrete Mengen gemessen und nachverfolgt werden können. Und genau das machen wir mit einer Kombination aus Blockchain, Big Data und speziellen Algorithmen. Außerdem entwickeln sich aktuell mehrere Plastikstandards, die einheitliche Richtlinien für das Messen, Reduzieren und Kompensieren von Plastik sowie das Sichern der Wirkung vor Ort anbieten. Das verfolgen wir sehr aufmerksam, und sobald sich ein starker Standard etabliert, werden wir diesen auch nutzen. Bis dahin arbeiten wir mit unserem eigenen Anforderungskatalog, den wir von unabhängigen Auditor:innen überprüfen lassen.
Precycle arbeitet mit verschiedenen Projekten zusammen. Um welche Projekte handelt es sich? Und wie wählen Sie Projektpartner aus?
CR: Aktuell arbeiten wir eng mit dem Unternehmen Saahas Zero Waste in Bangalore/Indien zusammen. Ich selber befinde mich aktuell in Südostasien, um weitere Partnerschaften aufzubauen – persönliche Beziehungen und Besuche, um uns ein Bild von den Realitäten vor Ort zu machen, sind uns extrem wichtig! Wenn wir neue Partnerprojekte ansprechen, achten wir vor allem auf ein gemeinsames Wertekonstrukt, uns ist wichtig, dass wir in Sachen Umweltverschmutzung und sozialer und ökologischer Wirkung dieselbe Sprache sprechen und dieselben Ansprüche haben. Die Arbeit mit Plastik darf nicht nur ein Weg sein, um Geld zu verdienen, sondern sollte als eine echte Chance für sozialen Wandel und die Unterstützung benachteiligter Bevölkerungsgruppen betrachtet werden.
Sie wollen mit precycle die Müllproblematik im globalen Süden, wo der Plastikmüll des globalen Nordens entsorgt wird, angehen und einen Lösungsansatz bieten. Wie werden Sie in den Ländern, in denen Sie aktiv werden, wie etwa Sri Lanka oder Indien, wahrgenommen, beziehungsweise wie ist dort das Feedback zu Ihrem Vorhaben?
CR: In der Regel rennen wir offene Türen ein! Letztendlich bieten wir lokalen Akteuren an, sie bei Wachstum und Formalisierung zu unterstützen, nicht nur mit Worten, sondern mit Ressourcen, und bieten Anreize, um fair mit den Arbeitskräften umzugehen. Da wir keine Abfallwirtschaftsbetriebe selbst führen wollen, entsteht kein Konkurrenzverhältnis. Es gibt ab und an einige Zweifel, ob das Ganze denn wirklich funktioniert, aber die werden wir in den kommenden Monaten mit unseren Pilotprojekten ausräumen.
Wo liegen aktuell die Herausforderungen für Ihr Unternehmen?
CR: Als Unternehmen, welches soziale und ökologische Wirkung fest im Geschäftsmodell integriert hat, werden wir oft skeptisch beäugt, vor allem von Investor:innen. Auch wenn es in der Greentech und Social Entrepreneurship Nische gerade viel Bewegung gibt und sehr laute Versprechen gemacht werden, sehen wir in der Realität dann doch Erwartungen, die nur mit veralteten, lediglich auf puren Profit ausgelegten Geschäftsmodellen erfüllt werden können.
Wenn Sie 30 Jahre in die Zukunft blicken: Wo sehen Sie precycle?
CR: Mein favorisiertes Szenario wäre, dass wir in 30 Jahren den Übergang zu einer echten Kreislaufwirtschaft geschafft haben und es keinen Bedarf mehr für Kompensationslösungen gäbe! Das ist eine große Utopie, von der ich hoffe, dass sie eines Tages Realität wird. Bis dahin sehe ich ein riesiges Potential in der Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette von der Produktion von neuem Plastik bis zum Handling von Abfällen und der Rückführung in die Produktion – vor allem in der Kombination mit aktualisierter Gesetzgebung! Und da sind wir zur Stelle und werden in den kommenden Jahren spannende Produkte entwickeln – da ist einiges in der Pipeline!