Made in Germany 4.0: Wer braucht denn noch Qualität?
Wie sich Produkte verändern, wenn Vorhersagbarkeit zum primären Qualitätsindikator wird
MehrWerth: die Kolumne von Dirk Werth, Chefredakteur IM+io
Qualität ist ganz ohne Zweifel eine wichtige Produkteigenschaft und auch ein Kaufkriterium. Gerade aus deutscher Sicht steht Qualität für eines der wesentlichen Markenzeichen der Deutschland AG: Qualität ist das symbolisierte Kernelement von „Made in Germany“. Insofern ist es mehr als interessant, zu untersuchen, was passiert, wenn Digitalisierung und künstliche Intelligenz mit aller Konsequenz auf dieses Markenzeichen treffen. Zuletzt hatte ich einen hochinteressanten Austausch mit einem Komponentenhersteller. Wenig überraschend war, dass das Unternehmen sich weg vom klassischen Produktgeschäft, hin zu einem Dienstleistungsgeschäft entwickeln will – Servicification lässt grüßen: Kaeser verkauft Druckluft statt Kompressoren, Rolls-Royce Triebwerksschub statt Flugzeugturbinen. Demgegenüber war es aber mehr als spannend zu hören, dass das Unternehmen die klare Maßgabe an seine Produktentwicklung gegeben hat, die Produkte zukünftig anders auszulegen, nämlich nicht mehr auf Haltbarkeit, sondern nunmehr auf Vorhersagbarkeit. Was sich nach einem kleinen Change anhört und was vielleicht in anderem Kontext untergegangen wäre, ist nicht weniger als eine veritable Revolution: Die Aufgabe der Entwicklungsabteilung eines Herstellers, der auf dem Weltmarkt durch seine qualitativ hochwertigen Produkte reüssiert, ist es nicht länger, die weltweit besten Produkte zu entwickeln. Das nenne ich mal eine Ansage! Vielmehr ist die Produktentwicklung nun aufgerufen, die Produkte so zu designen, dass diese einer vorhersagbaren Abnutzung bzw. einem vorhersagbaren Ausfall unterliegen. Klingt gut und macht natürlich geschäftlich auch vollkommen Sinn: Wenn ich das Funktionieren meiner Produkte als Dienstleistung verkaufe, ist für mich die Optimierung dieses Funktionierens mein Primat. Insofern ist es gar nicht erfolgsentscheidend, ob die Komponente möglichst lange hält. Viel kritischer ist, dass ich ein ungeplantes Versagen unter allen Umständen vermeide. Insofern ist Vorhersagbarkeit eine sehr nachvollziehbare Ausrichtung. Aber was bedeutet das konkret? Ich sehe drei unmittelbare Konsequenzen: Zum einen wird das Produkt plötzlich mehr. Das Produkt ist nicht länger nur ein Stück Hardware, sondern es wird auch ein Stück Algorithmus. Nämlich jeder Algorithmus, der die Abnutzungs oder Ausfallwahrscheinlichkeiten berechnet – in Abhängigkeit von einer Vielzahl von Parametern. Zum zweiten erfordert eine Vorhersagbarkeit fast zwangsläufig eine digitale Instrumentierung der Produkte. Ohne eine umfangreiche Sensorik, die in das Produkt und seine Anwendungsumgebung eingebettet ist, wird die Berechnung der Abnutzung nur sehr eingeschränkt funktionieren. Ein Motor lebt eben länger, wenn er schonend behandelt wird, als wenn er im Null-auf Vollgas-Modus betrieben wird. Zum dritten ändert sich auch die Zusammensetzung der Entwicklungsabteilungen: Qualität zu optimieren ist sicher eine der Kernkompetenzen deutscher Ingenieurskunst. Mittels Deep Learning Prognosealgorithmen zur Vorhersage von Abnutzungswahrscheinlichkeiten zu entwickeln, gehört vermutlich weniger dazu. Hier schlägt eher die Stunde der Informatiker bzw. eigentlich der Data Scientists. Wie auch immer die Zukunft „Made in Germany“ aussehen wird, es scheint klar, dass sich die Alleinstellungsmerkmale ändern werden. Alte Tugenden werden durch neue ersetzt, aber bleiben irgendwie auch gleich. Denn auch eine digitale Qualität 4.0, wie ich sie zu skizzieren versucht habe, hat letztendlich das gleiche Ziel: Bestmöglichen Kundennutzen durch Zuverlässigkeit und Verlässlichkeit. Irgendwie eine beruhigende Perspektive.