Jenseits des technologischen Mittelfelds
Datenstrom trifft Leistungskurve
Im Gespräch mit Timo Gross, TSG Hoffenheim
(Titelbild: ©TSG Hoffenheim/Hasan Bratic)
Kurz und Bündig
Für den Fußballbundesligist TSG Hoffenheim ist moderne Technologie nur ein, wenn auch wichtiger, Baustein zur Leistungsoptimierung seiner Profis. Expertenwissen und zielgruppengerechte Kommunikation sind weitere essenzielle Komponenten, um gesetzte Ziele für einzelne Spieler und das gesamte Team zu erreichen.
Fitnesstracker, Leistungsdiagnostik, Videoanalyse – Leistungssportler werden heute mit dem Ziel der Leistungsförderung lückenlos digital analysiert. Dies gilt auch für den Fußball. Der Bundesligist TSG Hoffenheim ist stolz da auf, sich in den vergangenen Jahren konsequent zum Innovationsführer im deutschen Fußball entwickelt zu haben. Dabei geht man einen ganz eigenen Weg und setzt auf Systeme, die zur physischen und mentalen Leistungsdiagnostik, Leistungsentwicklung und Leistungssteuerung eingesetzt werden. Mehr dazu haben wir im Gespräch mit Timo Gross, dem Leiter Spielanalyse und Co-Trainer Analyse der TSG, erfahren.
IM+io: Herr Gross, zum Hoffenheimer Erfolgskonzept gehört unter anderem das ResearchLab. Welches Konzept steht hinter dieser Forschungseinrichtung und was kann in der Helix-Arena, einem Tool aus diesem Lab, trainiert werden?
TG: Wir können stolz behaupten, dass sich die TSG über die vergangenen Jahre im deutschen Fußball konsequent zum Innovationsführer entwickelt hat. Dabei muss man aber klar trennen, dass das TSG ResearchLab eine gemeinnützige Tochter der GmbH ist, die es sich zum Ziel gesetzt hat, Wissenschaft und Forschung zu zukünftigen Themen in Sport und Gesellschaft zu betreiben. Es geht um zwei verschiedene Aspekte, einerseits um den wissenschaftlichen Ansatz und andererseits den praktischen Bezug. Die wissenschaftlichen Möglichkeiten des Research Lab sind nicht nur auf den Sport ausgerichtet, sondern bestehen in der Hauptsache, um gemeinnützige Ziele zu verfolgen. Auch wenn wir im sportlichen Bereich von den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Labs profitieren, so geht es dort aber vorrangig um Studien, die sich beispielsweise mit Schlaganfallpatienten oder Feuerwehrleuten beschäftigen, die auch im ResearchLab betreut werden. Im Sport rücken kognitive Funktionen als potenziell erfolgskritische Faktoren zunehmend in den Fokus von Wissenschaft und Praxis. In vielen Sportarten müssen die Athleten unter Zeitdruck visuelle Informationen aus einer komplexen 360°-Umgebung extrahieren und schnelle Entscheidungen in dynamischen Situationen
treffen. Um die Lücke zwischen den kognitiven Anforderungen von sportlichen Situationen und psychologischen Testverfahren schließen zu können, sind Aufgaben mit komplexen, kontextspezifischen Anforderungen notwendig. Mit Hilfe der Helix-Arena (Abbildung 1), einem modernen Diagnostik- und Trainingstool, das im TSG ResearchLab zur Verfügung steht, können kognitionspsychologische Verfahren in einer dynamischen 360°-Umgebung durchgeführt werden. Forschungsschwerpunkte betreffen hierbei die wissenschaftlichen Gütekriterien dieser neuartigen Verfahren, die kognitiven Profile von Sportlern unterschiedlicher Sportarten, Altersgruppen und Performance Level sowie die Effekte von systematischem kognitivem Training in einer anregenden 360°-Umgebung auf sportliche Leistung.
IM+io: Ist auch der Footbonaut als Trainingselement eine Entwicklung des ResearchLab? Worum geht es dabei?
TG: Der Footbonaut steht bereits seit 2014 bei uns, das Lab wurde erst fünf Jahre später gegründet
und die beiden Systeme stehen auch komplett für sich allein. Das ResearchLab betreibt aber durch die Nutzung des Footbonaut diverse Forschungsprojekte. Im Footbonaut geht es um Handlungsschnelligkeit. Hier handelt es sich um eine Anlage, die auch physische Belastung bedeutet.
Dort steht der Spieler auf einem Feld von 14×14 Metern und hat um sich herum Quadrate an jeder Wand. Diese Quadrate sind mit Leuchtmitteln bestückt. An jeder der vier Wände gibt es die Möglichkeit einer Ballschussanlage. Das heißt, von überall kann ein Ball aus jeder Richtung, mit jeder möglichen Rotation geschossen werden. Der Spieler muss nun auf unterschiedliche Signale hin den Ball annehmen und in einen bestimmten Zielraum, also in eines dieser Quadrate, spielen. So habe ich viele Möglichkeiten, die Handlungsschnelligkeit zu trainieren. Das trainiert den jeweiligen Fußballer für das reale Spiel, wo auch in Sekundenschnelle solche Entscheidungen getroffen werden müssen.
IM+io: Die TSG setzt auf die Lösung SAP Sports One, um mit Echtzeitanalysen Einblicke in einzelne Spieler und das Team zu erhalten. Welchen konkreten Mehrwert generieren Sie dabei?
TG: Wir haben eine sehr enge Verbindung zur SAP, und dabei geht es nicht nur um den rein sportlichen Bereich. Es geht auch um Marketing, Finanzen, Ticketing und viele weitere Bereiche. Für mich, der ich aus dem Sport komme, ist es natürlich besonders wichtig, SAP Sports One zu nutzen. Das Produkt wurde ursprünglich mit der TSG entwickelt und bei ihr erprobt, es war ein gemeinsamer Baustein der Kooperation mit SAP. Unterdessen ist es aber ein Standard-Tool, das mittlerweile auch von anderen Bundesligisten genutzt wird. SAP Sports One ist für mich wichtig bei der Spielanalyse, aber genauso wesentlich ist, dass ich dort eine umfassende Teammanagement-Lösung finde. Da geht es um Spielerakten mit Informationen zum medizinischen Bereich, zur physischen Belastungssteuerung der Spieler und zur mentalen Steuerung. Das sind Themen, die den Menschen
betreffen, genauso wie die Stamm- und Vertragsdaten der Spieler. Ich kann so den Kontext für einen
Spieler aus ganz verschiedenen Bereichen zusammensetzen. Im sportlichen Bereich geht es um
die Analyse taktischer und physiologische Parameter, auf die ich bei den Spielern direkt Einfluss nehmen kann. Das Tool bekommt aus allen Bereichen seine Daten zugesteuert, in weiten Teilen über automatisierte Prozesse, bei denen es über Schnittstellen geht. Ich habe immer alle Daten aus einem aktuellen Training oder Spiel zur Verfügung, auf deren Basis ich meine Entscheidungen treffen kann. So erhalte ich z.B. während eines Trainings über Sensoren an den Spielern deren Werte zur Position, Pulsfrequenz und andere Vitaldaten. Für mich wird das Ganze spannend, wenn ich diese Informationen in einen Kontext setzen kann, z.B. mit der Position des Balls. Das gibt mir wichtige Grundlagen, um mich mit den taktischen Fragestellungen zu befassen. Aber mit den Daten allein kommt man nicht zum Ziel. Mir ist wichtig zu betonen, dass der Trainer und das gesamte Trainerteam
nur von einem vernünftigen Zusammenwirken eigener Eindrücke mit den vorliegenden Daten profitieren. Mit Daten versucht man zwar zunehmend, eine Objektivierung der Meinung herzustellen. Das Ganze ist aber mit Vorsicht zu genießen. Auch in naher Zukunft wird es nicht möglich sein, die menschlichen Faktoren zu erfassen. Das Auge und die gesamte Wahrnehmung des Trainers sind am
Ende der Kette unbedingt entscheidend, die Daten auf dem Weg dorthin bilden aber eine enorme Unterstützung.
IM+io: Es gibt jedoch immer wieder Hinweise aus der Wissenschaft, dass es am Ende nicht funktioniert, das erzielte analytische Wissen an Trainer, Coaches und Spieler so weiterzuleiten, dass die Erkenntnisse auch umgesetzt werden…
TG: Wir müssen davon wegkommen, Technik nur um der Technik Willen einzusetzen. Das Ziel ist die Antwort auf eine bestimmte Fragestellung. Da geht es manchmal um den Einsatz von digitalisierten Mitteln und manchmal auch nicht. Ich sehe den Weg darin, die Frage zu beantworten, was will ich dem Spieler vermitteln, und welche Möglichkeiten eignen sich am besten dafür? Diese Denkweise leben uns derzeit in einem ganz anderen Feld die skandinavischen Länder vor. Sie gelten als Vorbild beim Einsatz von Technologie im schulischen Lernprozess. Unterdessen kann man aber feststellen, dass in Skandinavien ein Paradigmenwechsel stattfindet. Die Technologie stellt keinen Eigenwert an sich mehr da, im Mittelpunkt steht die Frage: Was will ich und was kann ich durch und mit dieser
Technologie effizient lernen – und was nicht. Das ist auch mein Ausgangspunkt. Man braucht ganz
sicher Expertenwissen, um die Daten richtig zu lesen und für ein gewünschtes Ziel einzusetzen. Ein Beispiel: Wir haben die Passquote eines Spielers. Damit habe ich aber noch keine Aussage zur Qualität der Pässe. Ich weiß nur, ob er ankam oder nicht. Ich muss also viel tiefer in die Daten
hineingehen. Ich brauche das erwähnte Expertenwissen als Vorwissen, das als Baustein ganz am Anfang der Kette steht. Dann kommt es auf die zielgruppenspezifische Vermittlung an. Wichtig ist die enge Bindung zum Empfänger der Information. Dann können die Informationen auch ankommen. Ich kann einem Spieler am Spielfeldrand keine große Exceltabelle mit Daten hinhalten, wenn ich möchte, dass er seine Spieltaktik verändert. Ich muss ihm auf der Basis meiner Erkenntnisse auf der Tonspur Tipps geben, wie er das erreichen kann. Es geht also um praxisnahe Informationen. Das setzen wir
bei der TSG auf unterschiedliche Weise um. Wir haben z. B. auf unserem Trainingsplatz eine große
Videoleinwand, so groß wie im Kino. Sie wird genutzt, um Spielern schnell visuell ein Feedback zu geben. Der Spieler sieht auf der Leinwand einen Ablauf auf dem Trainingsplatz, unmittelbar nachdem dieser erfolgt ist. Wir können ihm konkret aufzeigen, wo Verbesserungspotentiale sind, und der Spieler kann die Szene im angepassten Ablauf noch einmal unmittelbar erleben. Das ist ein Erklärungstool, das die Information von der Abstraktionsebene in die unmittelbare Praxis überführt. Es ist mein Job, u.a. solche Vermittlungswege zu finden und zu nutzen.
IM+io: Daten lügen nicht, Spieler können Fehler und Fehlverhalten nicht mehr verstecken. Wie gehen Spieler mit der quasi Totalüberwachung von psychischer und physischer Verfasstheit um?
TG: Daten lügen zwar nicht, aber Daten geben nur einen Anhaltspunkt, sie enthalten keine komplett verbindliche und somit umfassende Aussage. Im Fußball haben wir viele Einflussfaktoren, die wir berücksichtigen müssen, um die Daten beurteilen zu können. Wenn wir uns als Team ein Spielfeldszenario ansehen, gibt es trotz der Daten Diskussionen und unterschiedliche Bewertungen, weil unterschiedliche Perspektiven zusammenkommen. Daten sind keine absoluten Werte, sie zeigen Wege auf, wo man genauer hinschauen sollte. Wenn es bei Daten darum geht, sich potenziell „nackt zu machen“, ist auch eine andere Perspektive interessant: Spieler fragen sich eher, wie helfen mir diese Bausteine? Spieler können mit diesen Leistungsdaten ihre Alleinstellungsmerkmale herausstellen und für Vertragsgespräche nutzen. Sie können auch ihre Leistungen unter die Lupe nehmen, um zu identifizieren, wo sie ihre weiteren Potenziale haben. Ich sehe die Spieler offen für die Datenerhebung. Das sind alles Wettkämpfer, die übrigens auch untereinander ihre Daten im internen
Wettkampf im Training rund um ihre eigene Performance vergleichen.
IM+io: Eine rein sportliche Frage: Die TSG Hoffenheim verharrt nach einem kometenhaften
Durch- und Aufstieg seit längerem nur im Mittelfeld der 1. Bundesliga. Wo sehen Sie Ihre Perspektiven?
TG: Wenn wir die Fakten genauer betrachten, sieht die Bilanz eigentlich sehr erfreulich aus: In
den letzten sechs Jahren haben wir drei Mal europäisch gespielt. Und wir spielen in der 16. Bundesligasaison hintereinander. Unsere Perspektiven sehen wir zudem verknüpft mit unseren grundlegenden Zielen. Dazu gehört unser Ansatz, Spieler so weit zu entwickeln, dass sie in den Profikader wechseln können. Es sind diese Entwicklungsbausteine, die uns im sportlichen Kontext wichtig sind. Wir haben derzeit elf Spieler im Kader, die in unserer Akademie groß geworden sind. Dabei muss man im Blick haben, dass Faktoren wie Leistungsschwankungen bei solchen jungen Spielern eingerechnet werden müssen. Neben der Entwicklung der Spieler geht es auch um die Ausbildung von Mitarbeitern. Zu denen, die hier ihre Karriere begonnen haben, gehören unter anderem der aktuelle deutsche Bundestrainer, Julian Nagelsmann, oder auch Domenico Tedesco, der heute Cheftrainer der belgischen Nationalmannschaft ist. Auch beispielsweise Timmo Hardung, Sportdirektor von Eintracht Frankfurt, hat wie viele weitere erfolgreiche Menschen im Fußballbereich eine Prägung durch die TSG erhalten. Erfreulicherweise gelingt es der TSG auch heute noch, viele dieser vom Hoffenheimer Weg geprägten Personen im Verein zu halten. Wir haben uns in der bisherigen Saison eine Ausgangsposition erspielt, die es uns ermöglicht, bis zum Saisonende um die europäischen Plätze mitspielen zu können. Es ist sportlich noch einiges drin in dieser Saison. Wir bleiben also in Bewegung und haben Ziele, uns kontinuierlich zu verbessern.