Aus Spaß wird Ernst?
Videospiele als neue Arena der Außen- und Sicherheitspolitik
Manouchehr Shamsrizi, Humboldt Innovation Group for Gaming in International Relations, Adalbert Pakura, RetroBrain R&D
Kurz & Bündig
Extended Gaming Literacy ist mehr als die Summe ihrer Teile: Über die Expertise im Umgang mit Gaming-Technologien (KI, VR, Blockchain, etc.) und die persönliche und/ oder organisationale Erfahrung mit den Kulturtechniken des Gamings hinaus beschreibt sie die Fähigkeit, Chancen und Risiken, die sich aus dem Leitmedium „Game“ des frühen 21. Jahrhunderts für Geschäftsmodelle und politischen Interessen ergeben, erkennen und verstehen zu lernen. Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung, die damit verbundenen Ziele entsprechend ihrer Gewichtung umsetzen zu können. Damit wird Extended Gaming Literacy zur Voraussetzung erfolgreicher Außenpolitik.
Videospiele sind weit mehr als Unterhaltung, sie vermitteln Werte und Weltbilder, disruptieren benachbarte und vermeintlich weit entfernte Branchen gleichermaßen und ermöglichen globale Begegnungen im digitalen Raum. Sie sind ein neues und wirkungsvolles Instrument in den internationalen Beziehungen zwischen staatlichen und auch nichtstaatlichen Akteuren. Doch um Chancen und Risiken des Leitmediums des 21. Jahrhunderts richtig einordnen zu können, sind Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik auf Kooperationen angewiesen und auf eine Extended Gaming Literacy.
Gaming als Leitmedium der Digitalisierung
Von Pokémon GO auf dem Smartphone über League of Legends am PC bis zur Fußballsimulation FIFA auf Konsolen: mehr als drei Milliarden Menschen weltweit spielen heute regelmäßig Videospiele. Den typischen Gamer gibt es dabei mittlerweile nicht mehr, denn praktisch jeder greift in der Freizeit zu Videospielen, egal ob jung oder alt, männlich, weiblich oder divers. Und selbst anderen Videospielern beim „Zocken” online zuzuschauen gewinnt an Bedeutung: Während immer weniger Menschen lineares Fernsehen schauen, verfolgen in den USA mittlerweile circa 40 Millionen Menschen im Monat auf Streaming-Plattformen wie Twitch Liveübertragungen von Videospielen [1], insbesondere des E-Sports. Insgesamt ist die Gaming-Industrie inzwischen umsatzstärker als Hollywood und die Musikindustrie zusammengerechnet [2].
Videospiele sind aber in Zeiten der Digitalen Transformation auch weit über verwandte Branchen hinaus ein zentraler Innovationstreiber und Wirtschaftsfaktor: Künstliche Intelligenz [3], Cloud Computing [4] oder Quantum Computing [5], Virtual Reality [6], Blockchain [7] und viele weitere Technologien werden von der Videospielindustrie/-community seit vielen Jahren vorangetrieben oder entspringen ihr sogar ursprünglich. Dieser Impact macht Videospiele aber nicht nur kultur- und innovationspolitisch interessant, sondern birgt sowohl Chancen als auch Risiken für die Sicherheits- und Außenpolitik.
Was Gaming mit Außenpolitik zu tun hat
Als Heiko Maas im vergangenen Jahr die (digitale) Gamescom offiziell eröffnete [8], war nicht nur bei branchenfremden Beobachtern die Überraschung groß. Was will der Bundesaußenminister auf der weltweit größten Messe für Videospiele? Auf den ersten Blick vielleicht eine berechtigte Frage, aber: Die große Bühne der internationalen Beziehungen betraten Videospiele schon früher. Vor über einem Jahrzehnt staunte die Weltpresse nicht schlecht, als dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama bei seiner Europareise das offizielle Gastgebergeschenk Polens überreicht wurde, die Videospielreihe „The Witcher” vom polnischen Entwicklerstudio CD Projekt S.A. Dieses hat überraschend im ersten Quartal 2020 mit einer Marktkapitalisierung von neun Milliarden Euro sogar den Status des wertvollsten Unternehmens in Polen übernommen [9]. Das Interesse an der Kulturtechnik Gaming durch Akteure in der Außenpolitik steigt und beeinflusst heute alle „drei Säulen” der (deutschen) Außenpolitik. Entlang dieser drei Säulen multilateraler Friedens- und Sicherheitspolitik, Außenwirtschaftspolitik sowie Auswärtiger Kultur- und Bildungspolitik sollen diese Chancen und Risiken, insbesondere auch aus Sicht von Unternehmen, verdeutlicht werden.
Außenwirtschaftspolitik: Gaming ist globaler Einflussfaktor von verändertem Konsumverhalten
Den Status als dominierende Entertainmentindustrie baut die Gaming Branche jedes Jahr stärker aus: Weltweit wurden 2020 knapp 175 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Allein mit der Sparte der sogenannten Mobile-Games (Videospiele für Handys und Smartphones) werden in Deutschland jährlich 2,2 Milliarden Euro umgesetzt, und 20 Millionen Deutsche können sich sogar Konzertbesuche in Games vorstellen [10]. Wohl auch deswegen hat das Wacken Open Air bereits 2019 das „Gaming Village” eingeführt. Gleichzeitig gehören Videospiele, wie eingangs beschrieben, zu den größten Innovationstreibern in äußerst relevanten Technologiefeldern. Die Auswirkungen erstrecken sich (nicht nur deswegen) von DAX-Konzernen über mittelständische Familienunternehmen bis hin zu Start-ups. So ist der game – Verband der deutschen Games-Branche e.V. inzwischen Mitglied des Bundesverbands der deutschen Industrie. Selbst die Autoindustrie setzt auf Partnerschaften mit der Gamingcommunity. Für die diesjährige IAA MOBILITY (ehemals Internationale Automobil Ausstellung (IAA)) ist Gaming vom ausrichtenden Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA) und der Messe München als eines von 17 „Zukunftsthemen” identifiziert worden. Gemeinsam mit der Group for Gaming in International Relations der Humboldt-Universität zu Berlin werden insbesondere Fragen des Wissens- und Technologietransfers zwischen den Branchen, aber auch die Nutzbarmachung der mit Videospielen verbundenen Kulturtechniken und Phänomene, wie beispielsweise des E-Sports für Employer Branding, virtuelle Teamarbeit oder die Aus- und Weiterbildung untersucht.
Es gibt aber auch nicht unwesentliche Herausforderungen: Dazu gehören im außenwirtschaftspolitischen Kontext gegenwärtig insbesondere solche der Standortpolitik: Der Umsatzanteil heimischer Games-Entwicklungen ist weiterhin unter der 5-Prozent-Marke, von den 3,4 Milliarden Euro Umsatz verbleiben lediglich 168 Millionen Euro bei deutschen Unternehmen [11].
Internationale Ordnung: Videospiele vermitteln politische Narrative und haben hohes Missbrauchspotenzial
Die für internationale Kulturpolitik verantwortliche Staatsministerin stellte bereits 2018 fest, dass wir „uns mitten in einem Wettbewerb der Narrative etwa mit den USA, Russland oder China“ befinden [12]. Für diesen Wettbewerb zwischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnungen kann die Relevanz des Mediums Videospiel nicht hoch genug eingeschätzt werden, ist es doch die primäre Freizeitbeschäftigung von jungen Wählerinnen und Wählern in allen genannten Regionen. Der zu Videospielen forschende Historiker Eugen Pfister arbeitete heraus, dass zwar nicht alle Videospiele eine intendierte politische Botschaft haben, gleichwohl vermitteln sie immer politische Werte und Weltbilder. Dieses Potenzial wird in Deutschland und Europa aktuell noch im Sinne der „Serious Games” eingesetzt. So wurde das Handyspiel “Pathways” im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft entwickelt, um die Themen Vielfalt, Frieden und Zusammenhalt als zentrale europäische Stärken zu vermitteln. Aber auch für Kernbereiche der Sicherheitspolitik sind Videospiele von zunehmender Bedeutung: 2018 erkannte das britische Verteidigungsministerium die Gefahren von künstlichen Intelligenzen, die durch Strategie-Videospiele wie StarCraft II im Fällen taktischer Kampfentscheidungen geschult werden. Solche vergleichsweise günstig trainierbaren Programme könnten dann von nichtstaatlichen Akteuren für Cyber-Attacken auf kritische Infrastruktur genutzt werden. Vorbereitet seien staatliche Sicherheitsbehörden aktuell auf entsprechende Angriffe nicht [13].
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und Gaming
Das Potenzial für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik und Gaming lässt sich nachvollziehbar am Beispiel der “Deutsch-Türkischen Jugendbrücke” (DTJB) beschreiben, einer vom Auswärtigen Amt und der Stiftung Mercator unterstützen Jugendaustauschorganisation, die sich seit 2020 intensiv im Gaming-Kontext engagiert. Durch die globale Covid-19-Pandemie der Möglichkeiten beraubt, ihre primären Projektziele, sprich Programme für den (analogen) Schüler- und Jugendaustausch in Deutschland und der Türkei, umzusetzen, hat sie sich schon früh mit virtuellen Alternativen beschäftigt. Eine in Auftrag gegebene Studie konnte gleich mehrere Szenarien dazu entwickeln, wie die Verwendung von Videospielen vergleichbare virtuelle Schüler- und Jugendaustausche befördern kann. Gegenwärtig befinden sich zwei dieser Szenarien in der weiteren Konzeptionsphase und sollen noch in diesem Jahr umgesetzt werden. Weiterentwickelt werden die beiden Szenarien partizipativ mit Jugendlichen aus Deutschland und der Türkei, denen nicht nur die Technologien und Kulturtechniken des Mediums vertraut sind, sondern die darüber hinaus bei dieser Gelegenheit bereits gemeinsam arbeiten, mit- und voneinander lernen und sich für die MINT-relevanten Aspekte des Gamings begeistern können. Es gilt als nachgewiesen, dass gerade Mädchen profitieren: Spielen sie regelmäßig Videospiele, studieren sie mit dreimal höherer Wahrscheinlichkeit MINT-Fächer [14].
Fazit: Notwendigkeit einer Extended Gaming Literacy
Videospiele als Kulturgut und Kulturtechnik prägen wesentlich unsere Gesellschaft. Um den Chancen, aber auch den Risiken von Gaming als wesentlichem Leitmedium des 21. Jahrhunderts angemessen begegnen zu können, plädieren die Autoren für eine “Extended Gaming Literacy”. Was ist damit gemeint? Während der Begriff der Gaming Literacy in der Wissenschaft oft mit den nötigen Kompetenzen in Verbindung gebracht wird, um
1. Videospiele als kulturelle Artefakte zu verstehen,
2. sie im Kontrast zu anderen Videospielen zu interpretieren
3. im Kontext ihrer technologischen Plattform einzuordnen und
4. ihre Komponenten und ihr Zusammenspiel nachzuvollziehen,
bleiben politische und Implikationen noch außen vor.
Eine Extended Gaming Literacy sollte also mehr leisten und ein fundiertes Verständnis für den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und mittlerweile politischen Impact von Gaming im weltweiten Wettbewerb der Narrative etablieren. Erste Empfehlungen für Akteure der Außen- und Sicherheitspolitik legten kürzlich Gaming-Expertinnen und Experten der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik vor [15]. Da Videospiele aber nicht nur politische Deutungsrahmen und Narrative vermitteln, die junge wie alte Spielerinnen und Spieler als tägliche Angebote erhalten und anschließend auf ihre Lebensrealität übertragen, sondern auch Technologie- und Innovationstreiber sind, ist eine Extended Gaming Literacy auch für Fach- und Führungskräfte in Unternehmen und Entscheidungsträger der Wirtschaft von großer Bedeutung. Umgekehrt sind Hochschulen und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen angehalten, geeigneten Wissenstransfer von Extended Gaming Literacy anzubieten. Sie alle werden in naher Zukunft zunehmend mit den Auswirkungen von Gaming auf gesellschaftliches, politisches und unternehmerisches Handeln konfrontiert werden.
(Bildquelle: Share America (2021): Connecting students in the US and Middle East through video games (State Dept./D. Thompson))