1. Mega-Trends für die Handelswelt der Zukunft
„Der klassische Einzelhandel ist tot. Oder doch nicht?“ – so titelte die Wirtschaftswoche Anfang des Jahres und zeigt deutlich die Ambivalenz bezüglich der Herausforderungen und Potenziale im Einzelhandel [1]. So häufig die Phrase „Handel ist Wandel“ bereits genutzt wurde, neue Themen mit großem Veränderungspotential sind als Modewörter wie „Big Data“, „Mobile Payment“ oder „Multichannel“ auch heute in aller Munde. Nicht nur Unternehmen des klassischen Einzelhandels, sondern auch Großhändler und aufstrebende E-Commerce Unternehmen stellen sich daher die Frage, wie die neuen Entwicklungen das eigene Geschäftsmodell beeinflussen und wie zu reagieren ist. Weg von den Modebegriffen identifiziert der Handelsmonitor 2012/2013 “Mega-Trends 2020+“ mithilfe von hochrangigen Praktikern und Wissenschaftlern 15 Mega-Trends für die Handelswelt der Zukunft [2]. Mega-Trends bezeichnen hierbei starke, umfassende und tiefgreifende Veränderungen, die sich auf alle Teilnehmer des Marktes auswirken und über einen langen Zeitraum wirken. Aus Sicht des IT-Managers lassen sich diese 15 Mega-Trends, wie in Abbildung 1 zu sehen, in die Gruppen Digitalisierung, steigender Wettbewerb und zunehmende Komplexität der IT-Systeme unterteilen.
Ein Beispiel für die erfolgreiche Reaktion auf die drei Mega-Trends beim Wandel von Betriebstypen, Zielgruppen und Sortimenten ist der Singapore Changi Airport [3]. An diesem hochfrequentierten Ort mit über 50 Mio. Passagieren pro Jahr finden sich mehr als 330 Ladengeschäfte mit insgesamt über 70.000m² Verkaufsfläche und über 120 Restaurants. Eindrucksvoll ist insbesondere, dass mehr als 50% der Kunden dieser Ladengeschäfte noch nie geflogen sind. Dies ist ein eindeutiges Indiz dafür, dass der Flughafenbetreiber sehr erfolgreich das Konzept des Erlebnisshoppings umsetzt. So wird durch Digital Signage, moderne multimediale Displays, die zunehmend technikaffine junge Käuferschaft angesprochen. Am Beispiel zeigt sich zudem, dass die Entwicklungen auch durch den demografischen Wandel geprägt sind, der große Auswirkungen auf Kaufkraft und Mobilität der Kunden hat. Auch werden Dienstleistungen in der alternden Gesellschaft weiter an Relevanz gewinnen. Diese Änderungen betreffen jedoch nicht nur die Kunden, sondern auch das Personal. Ob geschultes Fachpersonal zur Beratung des Kunden im Ladengeschäft, Mitarbeiter in den Fachabteilungen der Zentrale oder Mitarbeiter in den IT-Abteilungen, der Wettbewerb um die Ressource Personal – „Human Capital“ – hat gerade erst begonnen.Getrieben durch den Erfolg von Onlinehändlern wird das Thema Multichannel derzeit auf vielen Fachtagungen diskutiert. Hierbei geht es um die Integration der unterschiedlichen Absatzkanäle eines Unternehmens und insbesondere um die Integration der „Brick and Mortar“ Welt des Einzelhandels mit einer entsprechenden Onlinepräsenz des Unternehmens. Ziel ist ein durchgehendes Kundenerlebnis, beispielsweise in Form von „Click & Collect“, Fernseher online bestellen, aber direkt in der nächsten Filiale abholen oder die Retoure von online bestellter Ware im Markt um die Ecke. Ein nahtlos integriertes Informationssystem und klar abgestimmte Prozesse sind zwingend erforderlich, um diese Herausforderung erfolgreich zu meistern. Diese Entwicklung wird zudem dadurch getrieben, dass die zunehmende Digitalisierung fast vollständige Transparenz in der gesamten Lieferkette ermöglicht und vom Gesetzgeber zunehmend auch gefordert wird. So ist die Rückverfolgung von Lebensmitteln vom Bauernhof bis an die Theke dank Technologien wie RFID, Barcodes und QR-Codes sowie verschiedener GS1-Standards wie GLN, GTIN, NVE und SSCC keine Zukunftsmusik mehr. Gleichermaßen nimmt die Transparenz auch zur Kundenseite immer stärker zu. Dank ausgefeilter CRM-Systeme und öffentlich zugänglichen Informationsquellen im Bereich Social Media ist der Kunde gläsern wie nie zuvor, auch durch den zunehmend digitalisierten Point of Sale (POS). Insbesondere sei hier auf mobiles Bezahlen mit dem Smartphone verwiesen, dass erst durch die zunehmend auf der Fläche verfügbare neue Generation von Kassen ermöglicht wird. Hieran gebunden ist eine Vielzahl von weiteren mobilen Lösungen, wie beispielsweise digitale Kundenbindungsprogramme, ortsabhängige Werbung, aber auch Navigation im Laden für große Kaufhäuser. Aber nicht nur der Kunde profitiert von der digitalisierten Welt. Dem Händler tuen sich ebenso viele Möglichkeiten auf, den Kunden besser kennenzulernen und zu führen. Heat-Maps, welche die Kundenaktivität im Laden visualisieren, können für das Layout genutzt werden. Der Kommissioniervorgang durch den Kunden kann mit modernen Einkaufswagen erleichtert und geführt werden. All diese Entwicklungen führen dazu, dass die Informationsmenge im Handel immer schneller steigt. Es ist unbestritten, dass die Auswertung dieser Informationen großes strategisches Potential bietet. Die Zahl dieser „Big Data“ Anwendungsszenarien, bei denen entscheidungsrelevante Erkenntnisse aus den vorhandenen Informationsmengen gewonnen werden und zu messbaren Ergebnissen führen, ist derzeit jedoch eher gering [4].
Die steigende Informationsmenge durch Digitalisierung klassisch analoger Geschäftsprozesse wie dem Bezahlvorgang führt jedoch auch zu einer zunehmenden Komplexität der IT-Systeme. Dies ist insbesondere problematisch im Hinblick auf die zunehmende Konzentration durch Fusionen und Übernahmen, bei denen auch die IT-Systeme vereinheitlicht werden müssen. Gleichermaßen ergeben sich jedoch völlig neue Möglichkeiten zur Prozessintegration durch die vertikale Integration von Industrie und Handel, beispielsweise durch Beteiligung von Handelsunternehmen an ihren Lieferanten. Durch den hohen Wettbewerbsdruck auf die Beschaffung findet sich im Einkauf zudem der bekannte Trend zu mehr global agierenden Lieferanten. Die Logistik wird zudem mehr als zuvor als Kostentreiber wahrgenommen. Dies ist neben steigendem Bewusstsein für Corporate Social Responsibility einer der Gründe für die augenscheinlich gegensätzliche Entwicklung hin zu mehr regionaler Beschaffung.
2. Anforderungen an Handelsunternehmen
Das Resultat dieser Mega-Trends ist ein breites Spektrum an Anforderungen, die von Kunden, Lieferanten und Dienstleistern an Handelsunternehmen herangetragen werden. Grundlage für die dynamische Reaktion auf externe Veränderungen ist in großem Maße die Transparenz der eigenen Prozesse [5]. Nur so kann diesen Anforderungen schnell und kostengünstig begegnet werden. Dies beinhaltet auch explizit den Abgleich von Aufbau- und Ablauforganisation mit der IT-Infrastruktur, oftmals als Business/IT-Alignment bezeichnet. Neben den klassischen IT-Komponenten ERP beziehungsweise Warenwirtschaftssystem betrifft dies explizit auch Komponenten wie Customer Relationship Management (CRM), Supplier Relationship Management und weitere Schnittstellen zu externen Dienstleistern. Das Management der eigenen Geschäftsprozesse umfasst dabei neben der klassischen prozessorientierten Reorganisation auch die Dokumentation einer Organisation, beispielsweise zu Schulungszwecken, Zertifizierung für Qualitätsstandards wie die ISO 9000 Familie, Benchmarking mit anderen Unternehmen oder die Auswahl von Softwareprodukten wie zum Beispiel eines ERP Systems.
Die Erhebung und Modellierung der eigenen Prozesslandschaft ist die Voraussetzung für eine prozessorientierte Herangehensweise an diese Einsatzszenarien. Dabei muss unbedingt darauf geachtet werden, dass die erstellten Modelle anschließend auch auswertbar und damit nutzbar sind. Die Prozesse sollten nicht für jedes Einsatzszenario neu erhoben werden müssen, sondern eine Basis für verschiedene Anwendungen bieten, beispielsweise, indem die gleiche Modellbasis zur Auswahl eines ERP-Systems und anschließend für die Schulung neuer Mitarbeiter genutzt wird.
3. Prozessmanagement und semantische Prozessmodellierung
Im Handel oft genutzte Prozessmodellierungssprachen, wie die Ereignisgesteuerte Prozesskette (EPK) oder Business Process Model and Notation (BPMN), sind auf die rein syntaktische Darstellung fokussiert. Weder Zusatzinformationen noch die Bezeichnungen der Modellierungselemente sind standardisiert. Eine Auswertung und Wiederverwendung der Modelle wird dadurch stark erschwert. Aufwändige und kostenintensive Nachbearbeitung durch Experten oder externe Berater sind das Resultat. Der initiale Aufwand zur Prozessmodellierung kann erheblich reduziert werden, indem domänenspezifische Referenzmodelle als Ausgangsbasis genutzt werden. Ein Beispiel hierfür ist das Handels-H Referenzmodell, das alle Aufgabenbereiche eines Handelsunternehmens abdeckt und in einem Ordnungsrahmen gliedert [6]. Die spezifische Prozesslandschaft eines Unternehmens kann aus diesem Referenzmodell heraus durch Hinzufügen, Verändern oder Löschen von Prozessen erstellt werden.
Eine weitere Möglichkeit, Vergleichbarkeit, Verständlichkeit und Lesbarkeit der Modelle zu erhöhen und so Kosten zu sparen sind einheitliche Abstraktionsniveaus. Wie in Abbildung 2 zu sehen, kann ausgehend von dem Ordnungsrahmen auf einer ersten Unterebene (grün) der Prozessablauf grob unterteilt werden. Jedes der Teilelemente kann anschließend weiter verfeinert werden (blau). Um die Auswertung dieser Prozesse zu ermöglichen, sollte jedes der Elemente mit strukturierten Attributen hinterlegt werden können. Beispiele hierfür sind Organisationseinheiten, unterstützende IT-Systeme und Kennzahlen wie Bearbeitungszeit oder Kosten. Um Besonderheiten hervorheben zu können, sollten jedoch auch unstrukturierte Informationen wie Freitext oder Dokumente hinterlegt werden können. So ist es möglich, besonders relevante Prozessschritte im Rahmen dieser Ebenen in einem beliebig hohen Detaillierungsgrad zu beschreiben.
Um auch die Beschriftungen der Modellelemente auswerten zu können, müssen Modellierungsstandards definiert werden [7]. Hierfür können beispielsweise schriftlich dokumentierte Modellierungskonventionen in sogenannten Modellierungshandbüchern genutzt werden. Die Erfahrung aus vielen Prozessmanagementprojekten zeigt jedoch, dass die Einhaltung dieser Konventionen nicht erzwungen werden kann. Sollen die Konventionen implizit während des gesamten Prozessmanagementprojekts eingehalten werden, müssen sie sowohl in der gewählten Modellierungssprache als auch im verwendeten Werkzeug integriert sein. Neben unstrukturierten und beliebig langen und kurzen Bezeichnungen bereiten auch Synonyme wie Faktura und Rechnung bei Auswertung und Verständnis der Modelle große Probleme. Als besonders verständlich hat sich eine Bezeichnung der Elemente in der Form „Geschäftsobjekt Tätigkeit“ herausgestellt, beispielsweise „Artikel einlagern“ statt „Artikel wird eingelagert“ oder „Lagere Artikel ein“. Eine Lösung zur semantischen Standardisierung der Prozesse ist daher ein Glossar, bestehend aus Geschäftsobjekten, Tätigkeiten und deren sinnvollen Kombinationen (siehe Abbildung 3).
4. Zusammenfassung
Die Mega-Trends der Digitalisierung, des steigenden Wettbewerbs und der zunehmenden Komplexität der IT-Systeme stellen hohe Herausforderungen an das Handelsunternehmen der Zukunft. Im Zuge der Big Data Entwicklung werden auswertbare und verständliche Prozessmodelle daher in Zukunft eine ähnliche Relevanz wie die Diskussion um hochwertige Stammdaten entwickeln. Semantische Modellierungsmethoden helfen dabei, ein transparentes und strukturiertes Prozessmanagement umzusetzen und die Kontrolle über die Unternehmensprozesse zu behalten.
LITERATUR
[1] Hansen, N.: Die fünf Dogmen des Internethandels. http://www.wiwo.de/. Zugriff: 11.10.2013
[2] Zentes, J., Schu, M., Steinhauer, R., Morschett, D.: Handelsmonitor 2012/2013; Mega-Trends 2020. Frankfurt am Main. 2012
[3] Changi Airport Group: Who we are. http://www.changiairport.com/corporate/about-us.html. Zugriff: 16.12.2019[4] BITKOM: Leitfaden Big Data im Praxiseinsatz – Szenarien, Beispiele, Effekte. 2012
[5] Becker, J., Kugeler, M., Rosemann, M.: Prozessmanagement; Ein Leitfaden zur prozessorientierten Organisationsgestaltung. 7. Auflage. Berlin. 2012
[6] Becker, J., Schütte, R.: Handelsinformationssysteme. 2. Auflage. Frankfurt am Main. 2004
[7] Becker, J., Probandt, W., Vering, O.: Grundsätze ordnungsmäßiger Modellierung; Konzeption und Praxisbeispiel für ein effizientes Prozessmanagement. Berlin. 2012
Jörg Becker, Justus Holler, Johannes Püster