Der digitale Dopingkontrolleur
Chancen und Risiken von künstlicher Intelligenz in der Anti-Doping-Arbeit
David Müller, Nationale Anti-Doping Agentur Austria GmbH (NADA Austria)
(Titelbild: ©Adobe Stock | 539676888 | Sasha_Brazhnik)
Kurz und Bündig
Die Integration von KI-Systemen bietet erhebliche Chancen, um die Arbeit für den sauberen Sport zu stärken. Jedoch müssen diese Chancen gegenüber den potenziellen Risiken und Herausforderungen sorgfältig abgewogen werden, um sicherzustellen, dass die Integrität des Sports gewahrt bleibt und gleichzeitig die Rechte und Privatsphäre der Sportler:innen und Betreuungspersonen geschützt werden.
Die Welt des Sports ist zunächst zweckfrei und sportliche Leistung als überwiegend prozessorientiert, nicht ergebnisfixiert zu sehen. Trotz der internen „Sinnlosigkeit“ des Sports gibt es eine ganze Reihe unterschiedlicher externer Zwecküberlegungen, die durch Kommerzialisierung, Ökonomisierung, Medienorientierung und Professionalisierung – um nur einige der Entwicklungen zu nennen – an den Sport herangetragen wurden und eine Vielzahl von Risiken bergen. Um einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten und die Integrität des Sports zu schützen, spielt die Anti-Doping-Arbeit eine entscheidende Rolle.
Hand in Hand mit diesen Zwecküberlegungen geht die immer weiter voranschreitende Vermessung des Sports. Die anfänglich trivialen Messungen von Weiten, Höhen und Zeiten wurden mittlerweile abgelöst von der Analyse von leistungsrelevanten Biomarkern und optimalen Körperhaltungen und -bewegungen. Echtzeitanalysen von Wettkämpfen beeinflussen Strategie und Taktik. Die klassische Stoppuhr findet immer weniger Verwendung, die Smartwatch ist dagegen allgegenwertig. Die zugrundeliegende Motivation ist nicht immer die Leistungssteigerung oder -optimierung an sich, sondern oftmals auch die Verletzungsprophylaxe. Die Vermessung im großen Stil hat aber auch Auswirkungen auf den „Marktwert“ von Sportler:innen, wenn es etwa im Fußball-Scouting um Torchancenwahrscheinlichkeiten, Pressing-Anfälligkeit, Anzahl der gespielten Pässe in die
Schnittstelle oder Prognosen über zukünftiges Entwicklungspotenzial geht. Um vor diesem Hintergrund einen fairen Wettbewerb zu gewährleisten und die Integrität des Sports zu schützen, ist die Anti-Doping-Arbeit zu einem entscheidenden Faktor geworden. In den letzten Jahren hat sich die
künstliche Intelligenz (KI) zum mächtigen Werkzeug entwickelt, um die Effektivität und Effizienz dieser Bemühungen zu steigern. KISysteme bieten zahlreiche Chancen, es entstehen aber wie bei jeder neuen Technologie auch Risiken und Herausforderungen.
Chancen von KI in der Arbeit für sauberen Sport
Chancen bieten sich vor allem in den Bereichen Kontrolle, Analyse und Prävention. Doping ist zwar vielen ein Begriff, vor allem wenn es aufsehenerregende Fälle in die Nachrichten geschafft haben. Eine Definition von Doping können aber die wenigsten Sportfans liefern. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da es keine exakte Definition gibt. Nachdem man Jahrzehnte lang an einer Wesensdefinition gescheitert war, wurde in den 1960ern eine pragmatische Lösung gewählt: Doping ist alles, was auf einer Verbotsliste steht. Die taxative Norm wurde allerdings mit der Formulierung aufgeweicht, dass nicht nur die Substanzen (und Methoden), die explizit in der Verbotsliste genannt sind, verboten sind, sondern auch solche, die eine ähnliche biologische Wirkung oder chemische Struktur haben. Daraus ergeben sich zwei Herausforderungen:
• Die international vernetzten Expert:innen, die im Auftrag der Welt-Anti-Doping-Agentur an der Weiterentwicklung der Verbotsliste arbeiten, können nur jene Substanzen und Methoden aufnehmen, die sie auch kennen, beziehungsweise deren leistungssteigernde Wirkung evident ist.
• Die Feststellung, ob eine Substanz oder Methode eine ähnliche biologische Wirkung oder chemische Struktur hat, ist ebenfalls von Fachwissen abhängig.
Durch die kontinuierliche Überwachung von Informationen aus verschiedensten Quellen können KI-Systeme dazu beitragen, neue Dopingsubstanzen oder -methoden frühzeitig zu identifizieren. Dadurch können Entscheidungsgrundlagen für die Aufnahme in die Verbotsliste geliefert werden. Zudem können KI-Systeme bei Fragen der ähnlichen biologischen Wirkung oder chemischen Struktur behilflich sein.
Zielgerichtete Dopingkontrollen
Derzeit basieren die Planungen von Dopingkontrollen auf Expert:innenwissen. International vernetzte fachkundige Mitarbeiter:innen der Anti-Doping Organisationen versuchen, die richtigen Sportler:innen zur richtigen Zeit zu testen, um eine möglichst abschreckende Wirkung zu erzielen beziehungsweise Betrü-ger:innen zu überführen.
Neben dem direkten Nachweis von Dopingsubstanzen sind mittlerweile auch indirekte Nachweismethoden etabliert. So liefert der biologische Sportler:innenpass auf der Basis von mehreren Urin- oder Blutwerten eine gewisse Dopingwahrscheinlichkeit. Diese Auffälligkeiten werden dann für gezielte Dopingkontrollen genutzt beziehungsweise können bereits die Grundlage für eine Sanktion bilden. Der biologische Sportler:innenpass fußt allerdings auf mathematischen Berechnungen und der weltweiten vorhandenen Expertise weniger Spezialist:innen.
Während andere Bereiche des Sports bereits seit Jahren auf KI-Systeme setzen (zum Beispiel zur Analyse von großen Datenmengen im Motorsport oder Schach), findet diese Möglichkeit im Anti-Doping-Bereich derzeit noch vergleichsweise wenig Verwendung, obwohl die Anti-Doping-Organisationen selbst neben den Analyseergebnissen der Dopingproben über eine ganze Reihe von Daten verfügen. So müssen Spitzensportler:innen beispielsweise für jeden Tag ihre Aufenthaltsinformationen wie Übernachtungsadresse, Trainings und Wettkämpfe bekannt geben. Die Verwendung von verbotenen Substanzen und Methoden aus medizinischen Gründen muss ebenso deklariert werden, wie die behandelnden Ärzt:innen. In den letzten Jahren wurde zudem der Bereich Intelligence & Investigations, also die Ermittlung von Indizien und Beweismitteln, deutlich ausgebaut. Auch diese Daten können in eine ganzheitliche Betrachtung einbezogen werden. Interessant ist vor allem die Verknüpfung mit Daten, die im Sport generiert werden. Die Nutzung von öffentlich zugänglichen Informationen (zum Beispiel Wettkampfergebnisse) ist dabei ein kleiner Baustein, wesentlich erfolgsversprechender erscheint die Einbeziehung von Daten zur individuellen Entwicklung, die viele Verbände im Rahmen ihrer Betreuung (beispielsweise bei Leistungstests, zur Trainingssteuerung et cetera) erheben. Denkbar ist auch der Zugriff auf (öffentliche) Social Media Profile, wobei sich dabei – wie bei den anderen genannten Informationen – immer auch die Frage des Datenschutzes und der ethischen Herausforderungen stellt.
KI-Systeme könnten diese großen Daten-mengen analysieren und dabei Muster, Trends und Anomalien erkennen, die auf potenzielles Doping hinweisen. Sobald es gelingt, Faktoren, die sich auf das Wettkampfergebnis auswirken können (beispielsweise technische Gebrechen, Krankheiten und Verletzungen oder der Einfluss des Wetters bei Outdoorsportarten), in die Analyse einzubeziehen, bieten KI-Systeme eine wertvolle Möglichkeit, Sportler:innen oder Wettkämpfe zu identifizieren, die ein höheres Risiko für Doping aufweisen, um zielgerichtet zu kontrollieren. Auch eine Automatisierung der Dopingkontrollplanung in größerem Umfang ist denkbar.
Verbesserte Analysemethoden
Wie die Definition von Doping und die Planung von Dopingkontrollen, so basiert auch die Entwicklung neuer Analysemethoden derzeit auf Expert:innenwissen. Dabei wird meist auf bekannte Forschungsfelder zurückgegriffen. Zwar ist über die internationale Zusammenarbeit der Forscher:innen eine globalisierte Wissensbasis geschaffen worden, es gibt aber wenig Vernetzung mit anderen Wissenschaften, deren Forschungen möglicherweise interessante Ansätze liefern können. Über die Vergabe von Forschungsgeldern für aussichtsreiche Projektanträge entscheiden wiederum Expert:innen. Die Analyse von Dopingproben ist mitunter aufwendig und kostenintensiv. Dopingproben müssen, teilweise gekühlt, über weite Strecken in spezialisierte Labore transportiert werden, um dort mit aufwändigen Methoden analysiert zu werden. Die Ergebnisse dieser Analysen sind im besten Fall – je nach Transportweg – wenige Stunden nach der Abnahme verfügbar, es gibt aber derzeit keine Schnelltests, die bereits vor Ort Hinweise auf einen möglichen Verstoß gegen die Anti-Doping-Bestimmungen liefern könnten. In all diesen Bereichen können KI-Systeme hilfreich sein, wodurch die Genauigkeit der Dopingkontrollen erhöht und falsch negative sowie falsch positive Ergebnisse reduziert werden. Besonders interessant sind Ansätze, die dazu beitragen, die Bedeutung der Dopingkontrollen außerhalb von Wettkämpfen zu reduzieren und die Sportler:innen somit von der herausfordernden Verpflichtung entbinden, ihre Aufenthaltsinformationen bekanntzugeben. Plausibilitätsprüfungen von Aussagen und deren Verifikation in Echtzeit (beispielsweise anhand von Biofeedback oder Stimmanalysen) könnten dazu ebenso genutzt werden wie die systematische Analyse von Veränderungen in aktivierten Genen (zum Beispiel RNA – „Transcriptomics, Proteine – „Proteomics“ oder Metabliten „Metabolomics“). Dadurch könnte es möglicherweise auch gelingen, juristische Fragestellungen wie Vorsatz und Fahrlässigkeit im Falle von unabsichtlichen Verstößen gegen die Anti-Doping-Bestimmungen umfassender zu betrachten. Bei all diesen Möglichkeiten soll allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass einige davon einen starken Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der betroffenen Personen bedeuten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob dies vor dem Hintergrund der bereits jetzt etablierten und dann möglicherweise obsoleten Maßnahmen
(zum Beispiel direkter Sichtkontakt bei der Urinabgabe, Bekanntgabe von Übernachtungs- und Trainingsorten, Beweislastumkehr) nicht das geringere Übel darstellen würde.
Information, Aufklärung und Bewusstseinsbildung
Auch im Bereich der Präventionsarbeit basiert die Entwicklung von geeigneten Programmen derzeit auf dem Wissen und der Erfahrung von international vernetzten Expert:innen. KI-Systeme können nicht nur bei der Entwicklung von Konzepten und der zielgerichteten Planung von Kampagnen und Maßnahmen behilflich sein, sondern auch bei der Generierung von Inhalten. Bereits jetzt können über spezialisierte Chat-Bots zielgerichtete Fragen beantwortet werden. Individualisierte Avatare können dabei helfen, die Vermittlung von Informationen und Fertigkeiten zu erleichtern. Generative KI-Systeme ermöglichen die Erstellung von Animationen und Videos aus wenigen Worten zu einem Bruchteil der Kosten traditioneller Produktion. Viele weitere Anwendungsfelder sind denkbar, etwa die Individualisierung von Szenarien und Simulationen in der Virtual Reality oder Entscheidungshilfen im Bereich der Augmented Reality. Wie bei vielen neuen Technologien sind die möglichen Einsatzfelder aber noch nicht absehbar, da die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist und in kurzen Zeitabschnitten neue Innovationen auf den Markt drängen.
Risiken und Herausforderungen von KI für den sauberen Sport
Diese Feststellung gilt insbesondere auch für die Risiken und Herausforderungen, die KI-Systeme
für den sauberen Sport erzeugen können. Einige davon sind aber bereits jetzt absehbar:
Entwicklung von Dopingsubstanzen
Etablierte Analysemethoden stehen oftmals vor dem Problem, dass bereits geringfügige Änderungen einzelner Moleküle dazu führen können, dass die Dopingsubstanz nicht oder nur schwer erkannt wird. Zwar zielt der oben beschriebene biologische Sportler:innenpass darauf ab, nicht die Substanz selbst nachzuweisen, sondern deren Auswirkung auf den Organismus, dieses hängt aber sehr von der Auswahl der richtigen Kontrollzeitpunkte und der Kontrollfrequenz ab. Bereits jetzt werden KI-Systeme genutzt, um herauszufinden, ob die Veränderung von wenigen Atomen dazu geeignet ist, bei gleichbleibender Wirkung gültige Medikamentenpatente zu umgehen. Dies könnte dazu benutzt werden, potente Dopingsubstanzen zu verändern, um deren Nachweis zu erschweren. Wenn es über KISysteme gelingt, Dopingsubstanzen zu finden, die derzeit nicht explizit oder implizit (als Substanzen mit ähnlicher biologischer Wirkung oder chemischer Struktur) in der Verbotsliste gelistet
sind, dann hätten die Anwender:innen sogar einen legitimen Vorteil – zumindest bis zur nächsten
Aktualisierung der Verbotsliste.
Heterogenisierung der Anti-Doping-Arbeit
Die Einführung von KI-Systemen in der Anti-Doping-Arbeit erfordert fortgeschrittene technologische
Infrastrukturen und Fachkenntnisse, die möglicherweise nicht überall verfügbar sind. Bereits jetzt gibt es eine deutliche Kluft zwischen entwickelten und weniger entwickelten Anti-Doping-Programmen, durch KI-Systeme könnte es zu einer weiteren Heterogenisierung der Anti-Doping-Arbeit kommen.
Fehlinterpretation von Daten und Fälschungen
Von den insgesamt elf Verstößen gegen die Anti-Doping-Bestimmungen, die der Welt-Anti-Doping-Code definiert, hängen nur drei mit der Durchführung von Dopingkontrollen und allfälligen positiven Analysen zusammen. Besitz, Handel und Weitergabe von Dopingsubstanzen sind mitunter auch strafrechtlich relevant. In Österreich sind rund die Hälfte aller Sanktionen auf „Intelligence and Investigations“ zurückzuführen. Aufgrund der österreichischen Rechtslage können staatliche Ermittlungsstellen bei entsprechendem Anfangsverdacht und richterlicher Bewilligung das gesamte Register der Ermittlungsarbeit (Observationen, Kommunikationsüberwachung, Kontoöffnungen, Hausdurchsuchungen
et cetera) ausschöpfen. Whistleblowing und Zeug:innenaussagen spielen in vielen Fällen eine wesentliche Rolle. Mit generativen KI-Systemen können Stimmen, Bilder und Videos erzeugt werden,
die auf einen vermeintlichen Dopingverstoß hinweisen sollen. Dies könnte einerseits dazu missbraucht werden, Konkurrent:innen zu Unrecht in den Fokus zu rücken oder andererseits bei entsprechender Häufigkeit der Meldungen dazu genutzt werden, die Kapazität der Meldesysteme und der dahinterliegenden personellen Ressourcen zu überlasten, damit diese weniger
Zeit für proaktive Ermittlungsarbeit haben. Je häufiger diese Art der Fälschungen auftreten, desto einfacher kann es für Sportler:innen oder Betreuungspersonen werden, legitime Vorwürfe zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung zu entkräften. Selbst Straftaten, die per Video aufgezeichnet wurden, könnten mit der Behauptung, es handle sich um KI-generierte Inhalte, weggewischt werden.
Sollte trotzdem eine Sanktion oder Verurteilung erfolgen, können sich die betroffenen Personen
als Opfer eines Sabotageaktes gerieren. Zudem sind KI-Algorithmen anfällig für
Fehlinterpretationen von Daten, insbesondere wenn diese unvollständig oder ungenau sind. Dies könnte zu falschen Anschuldigungen gegenüber unschuldigen Sportler:innen führen und das Vertrauen in die Anti-Doping-Arbeit untergraben.
Datenschutz und Ethik
Die Verwendung von KI-Systemen in der Anti-Doping-Arbeit wirft wichtige Fragen im Hinblick auf Datenschutz und Ethik auf. Die Integration von KI-Systemen in bestehende Anti-Doping-Richtlinien erfordert möglicherweise umfangreiche regulatorische Anpassungen und Richtlinien, um sicherzustellen, dass sie fair und transparent eingesetzt wird. Die Sammlung und Analyse sensibler Daten erfordert strenge Richtlinien und Sicherheitsvorkehrungen, um Missbrauch zu verhindern und die Privatsphäre zu wahren. Auch wenn die Teilnahme am organisierten Sport in der Regel freiwillig erfolgt, darf der Zweck nicht die Mittel heiligen.
Ausblick
Insgesamt bietet die Integration von KI-Systemen erhebliche Chancen, um die Arbeit für den sauberen Sport zu stärken. Jedoch müssen diese Chancen sorgfältig abgewogen werden gegenüber den potenziellen Risiken und Herausforderungen, um sicherzustellen, dass die Integrität des Sports gewahrt bleibt und gleichzeitig die Rechte und Privatsphäre der Sportler:innen und Betreuungspersonen geschützt werden. Es ist entscheidend, dass Anti-Doping-Organisationen und Regulierungsbehörden eng zusammenarbeiten, um klare Richtlinien zu entwickeln und sicherzustellen, dass KI-Systeme
verantwortungsvoll und ethisch vertretbar eingesetzt werden.