„Der ERP-Monolith muss in kleinere Servicebausteine aufgebrochen werden“
Im Gespräch mit Frank Termer, Bereichsleiter Software beim Digitalverband Bitkom
Kurz und bündig
Die steigende Bedeutung digitaler Plattformen wirkt sich direkt auf den ERP-Markt aus. Zum einen wandelt sich die Architektur von ERP-Systemen grundlegend. Zum anderen stehen viele ERP-Anbieter nun vor tiefgreifenden Anpassungen ihrer Geschäftsmodelle. Wichtig für alle ist, vor dieser Entwicklung nicht die Augen zu verschließen und sich frühzeitig Gedanken darüber machen, welche Rolle sie in dem neuen Ökosystem spielen möchten.
Die Relevanz der digitalen Plattformen für Unternehmen steigt immer weiter. Dies wirkt sich auch auf den Markt von Enterprise-Ressource-Management (ERP) aus. Wir fragten Dr. Frank Termer, Bereichsleiter Software vom Digitalverband Bitkom, welche Bedeutung die digitalen Plattformen für Anbieter und Nutzer von ERP-Lösungen haben.
IM+io: Herr Dr. Termer, der Digitalverband Bitkom hat ein Positionspapier zur Bedeutung von Digitalen Plattformen für den ERP-Markt vorgelegt. Wird hier nur ein aktuelles Buzz-Wort in Verbindung mit ERP gebracht oder handelt es sich vielmehr um eine Weiterentwicklung der bestehenden ERP-Systeme durch digitale Plattformen?
FT: Digitale Plattformen werden für Unternehmen immer relevanter und damit haben sie auch direkte Auswirkungen auf ERP-Systeme und den Markt der ERP-Anbieter. Zum einen wandelt sich die Architektur von ERP-Systemen grundlegend. Zum anderen geht es jetzt für viele ERP-Anbieter auch um den Wechsel im Geschäftsmodell. Die Art und Weise, wie ERP-Software zukünftig bereitgestellt und genutzt wird, unterscheidet sich signifikant von der guten alten Zeit, wo Standard-Anwendungssysteme von der Stange gekauft wurden.
IM+io: Können Sie kurz erklären, wie die bestehenden ERP-Systeme aufgebaut sind?
FT: Als vor beinahe einem halben Jahrhundert die ersten Softwarehäuser mit der Idee für die Entwicklung von standardisierten Unternehmensanwendungen entstanden, da war die Vorstellung revolutionär, Geschäftsprozesse in ihren Basisfunktionen so zu verallgemeinern, dass sie für viele Unternehmen nützlich sein konnten. Das gelang vor allem in der Buchhaltung und der Produktionsplanung. Um die Software gruppierten sich nach und nach standardisierte Lösungen für Einkauf, Verkauf, Logistik, so dass praktisch die gesamten Unternehmensressourcen Gegenstand einer integrierten Komplettlösung wurden. Diese – meist großrechnerorientierten – Lösungen für das Enterprise-Resource-Planning haben nach und nach jede Abteilung im Unternehmen in einen Gesamtzusammenhang gebracht. Sie hatten – und haben – nur einen Nachteil: sie sind vollkommen monolithisch aufgebaut. Das heißt, sie vereinen Datenhaltung, Business Logik und Visualisierung in einem Gesamtsystem. Und sie sind für Anwender in der Regel eine Entscheidung auf Lebenszeit. Wer sich für ein ERP-System entscheidet, entscheidet sich damit auch für den Entwicklungspfad des Anbieters.
IM+io: Und was ändert sich nun durch digitale Plattformen?
FT: Mit der Digitalisierung steigt die Notwendigkeit, dass Unternehmen mit anderen zusammenarbeiten und Daten austauschen. IT-Systeme werden zwar nach wie vor intern eingesetzt, doch sie erhalten Schnittstellen nach außen, um Daten über Unternehmensgrenzen hinweg auszutauschen. Damit lassen sich aber neue IT-Systeme in die eigenen Geschäftsprozesse auch viel einfacher als noch vor wenigen Jahren einbinden. Digitale Plattformen übernehmen in diesem Fall die Integration dieser Systeme und sorgen für ein reibungsloses Zusammenspiel. Ein großer Enabler für diese Entwicklung ist das Cloud Computing, wodurch eine ungeahnte Dynamik entsteht.
IM+io: Cloud Computing gibt es ja bereits länger, wodurch entsteht heute diese Dynamik, von der Sie sprechen?
FT: In dem Maße, in dem Funktionen als Services oder Apps über die Cloud angeboten werden, erhalten Anwender die Freiheit, zusätzliche Fach- oder Branchenfunktionen über Schnittstellen zur bestehenden Unternehmenslösung hinzuzufügen. Ja mehr noch: die Unternehmenslösungen selbst bewegen sich aus der Installation vor Ort in die Cloud und werden dort als kombinierbare Cloud-Services „defragmentiert“. Digitale, cloudbasierte Plattformen sind danach die Lösungs-Mall der Zukunft, die es Anwendern erlaubt, unterschiedliche Funktionsbausteine miteinander zu kombinieren. In den App-Stores für Smartphones sehen wir, wie das funktioniert. Anwender laden sich dabei unterschiedlichste Funktionen als App herunter, die sie auf mehr oder weniger komfortable Weise miteinander integrieren.
IM+io: Smartphones sind aber nicht unbedingt mit klassischen IT-Systemen vergleichbar…
FT: Richtig. Allerdings sind die Nutzer von betrieblichen Anwendungssystemen so an den Umgang mit Smartphones und Apps gewöhnt, dass Sie diese Erfahrungen als neue Erwartungshaltung auch auf betriebliche IT-Systeme übertragen. Insofern sind Smartphone und klassische IT-Systeme nun doch wieder vergleichbar, da sich die Anforderungen und Erwartungshaltung in der User Experience ähneln. Damit betriebliche IT-Systeme entsprechend genutzt werden können, stellen digitale Plattformen eine notwendige Voraussetzung dar. Sie erfordern aber IT-Systeme, die modular aufgebaut sind und deren kleinsten Bausteine über Schnittstellen ansprechbar sind. Damit sind sie das exakte Gegenmodell zu monolithischen Systemen, wie sie heute existieren. Modulare IT-Systeme sind offen für Entwicklungen Dritter und für die Integration bei Dritten. Sie lassen sich frei kombinieren und einbetten.
IM+io: Und was hat der Kunde eines ERP-Systems von dieser Entwicklung?
FT: Digitale Plattformen eröffnen neue Freiheitsgrade für Unternehmen. Sie können sich endlich nach optimalen Lösungsansätzen umschauen und sind nicht mehr auf das Angebot eines Anbieters angewiesen. Zukünftig werden immer mehr Funktionalitäten für Systeme durch Services von Drittanbietern bereitgestellt. Denken Sie etwa an Services für Künstliche Intelligenz oder Machine Learning. Diese müssen sich in die bestehende Systemlandschaft über eine Plattform anbinden lassen. Die Integrationsmöglichkeiten spielen auch im Kontext des Internet of Things (IoT) oder der Industrie 4.0 eine entscheidende Rolle.
IM+io: Wenn die Anwender künftig auch bei ERP-Systemen auf die Cloud und auf Plattformen setzen, welche Weichen müssen die Anbieter dieser Software dann heute stellen?
FT: Es läuft heute mehr und mehr Geschäft über Plattformen. ERP-Systeme müssen daher zum einen modularisiert werden, das heißt der Monolith muss in kleinere Servicebausteine aufgebrochen werden. Zum anderen brauchen diese Bausteine „Standard-Stecker“, um eine Anbindung an Plattformen zu ermöglichen. Einige Plattformen stellen ergänzende Services für ERP-Anwenderunternehmen bereit, wie Dienste rund um Künstliche Intelligenz oder Schnittstellen zu IoT-Geräten. Diese müssen sich in die ERP-Prozesse einbinden lassen.
IM+io: Empfehlen Sie also jedem ERP-Anbieter, eine eigene Plattform zu entwickeln? Und wenn ja, würde das dem Plattform-Gedanken, bei dem ja an einer Stelle Anbieter und Kunden zusammenkommen sollen, nicht widersprechen?
FT: Die Plattformstrategie eines ERP-Anbieters ist stark abhängig von den Fähigkeiten, Ressourcen und finanziellen Möglichkeiten, selbst als Plattformanbieter agieren zu können. Alternativ können ERP-Unternehmen die eigenen Lösungen in unterschiedlichen Konstellationen auf fremden Plattformen anbieten. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Plattformtypen und -betreiber sowie der Anforderungen des Marktes sind multiple Strategien notwendig.
IM+io: Das klingt eigentlich ganz einfach. Wo sind die Herausforderungen auf diesem Weg hin zu einem Plattform-Markt bei ERP-Systemen?
FT: Es geht um nicht weniger, als dass sich die bestehenden Geschäftsmodelle der ERP-Anbieter komplett verändern. Gartner prognostiziert, dass sich das Geschäftsmodell für Softwareanbieter bis zum Jahr 2020 deutlich ändern wird: Mehr als 80 Prozent der Anbieter werden dann das Modell „Lizenz plus Wartung“ zugunsten von Subskriptionsmodellen abgeschafft haben. Anwender suchen nach einer Vereinfachung und Flexibilisierung der gängigen Lizenzmodelle und finden dabei Vorbilder in anderen Branchen, beispielsweise die verbrauchsabhängige Abrechnung von Wasser und Energie, Abo-Modelle im Mobilfunk oder Rabattstaffeln nach Laufzeit bei Medienabonnements.
IM+io: Ist es für ERP-Anbieter nicht unerheblich, auf welche Weise sie ihr Geld verdienen?
FT: Das ist nicht so einfach, wie es vielleicht klingt. An erster Stelle steht dabei sicherlich der direkte Einfluss auf Umsatz und Gewinn. Darüber hinaus müssen der Kundenservice ausgebaut und die Vergütung des Vertriebs angepasst werden. Zudem gilt es, den Spagat zwischen Neukundenumsatz und Ausbau des Bestandskundengeschäfts zu schaffen. Und nicht zuletzt sind Fragen zur Umstellung der Bestandskunden auf das neue Modell zu klären und Preisfindungsstrategien zu ändern.
IM+io: Was empfehlen Sie einem ERP-Anbieter konkret, der vor der Entscheidung steht, auf digitale Plattformen zu setzen?
FT: ERP-Anbieter sollten vor dieser Entwicklung nicht die Augen verschließen und sich frühzeitig Gedanken darüber machen, welche Rolle sie in diesem Ökosystem spielen möchten – ob als Betreiber einer eigenen Plattform oder als Teil einer bestehenden. Grundsätzlich bieten sich drei Vorgehensweisen an, die Lizensierung umzustellen: Erstens: Bei einem vollständigen Wechsel auf Subskriptionsabrechnung werden auch die Bestandskunden auf einen Schlag umgestellt. Das hinterlässt einmalig deutliche Spuren in der Umsatz- und Gewinnrechnung, dafür vermeidet der ERP-Anbieter den Betrieb unterschiedlicher Geschäftsmodelle. Zweitens: Bei einem schrittweisen Ansatz werden dagegen zuerst die neuen, gefragtesten und sich am schnellsten ändernden Produkte umgestellt. Erst danach folgen die übrigen Produkte, in der Regel im Rahmen des nächsten Releasewechsels. Schließlich besteht drittens auch die Möglichkeit, das Subskriptionsmodell nur Neukunden anzubieten. Bestandskunden werden erst im letzten Jahr ihres Wartungsvertrages umgestellt.
IM+io: Was glauben Sie, wie wird der ERP-Markt in zehn Jahren aussehen? Und werden wir dann noch von digitalen Plattformen sprechen?
FT: Der ERP-Markt wird sich durch die Digitalisierung und durch Digitale Plattformen massiv verändern. Klar ist, dass nicht alle ERP-Anbieter den Weg gehen können, eine eigene Plattform aufzubauen und zu betreiben. Und es ist gut möglich, dass Digitale Plattformen in einigen Segmenten bestehende ERP-Anbieter bedrängen oder sogar verdrängen werden. Dann bleibt dem Anbieter vielleicht nur noch übrig, sein ERP als eine App unter vielen anderen auf Plattformen anzubieten. Damit werden sich ERP-Anbieter massiv verändern und eher als Branchenexperten oder als Systemintegratoren auftreten. Das Konzept der digitalen Plattformen wird dann nach wie vor präsent sein. Allerdings werden wir hier eine Konsolidierung im Markt erleben und es wird spannend zu beobachten sein, wie ERP nach der Digitalen Transformation aussehen wird.