Im Zentrum der Diskussion steht die Frage nach dem Wandel der Arbeit in der Industrie 4.0. Die technischen Entwicklungspotenziale der Smart Factory haben erhebliche Auswirkungen auf Arbeitsinhalte, Arbeitsprozesse und Arbeitsumgebungen. Voraussetzung für die erfolgreiche Realisierung des Zukunftsprojekts Industrie 4.0 ist die Fähigkeit der Beschäftigten, die technischen Innovationsimpulse zu absorbieren. Gefragt ist eine intelligente Arbeitsorganisation mit partizipativen Entscheidungs- und Kooperationsprozessen, die somit die Innnovationskompetenzen der Beschäftigten fördert. Der Ansatz der IG Metall „Besser statt billiger“ liefert für diese soziotechnisch inspirierte Gestaltungsperspektive guter Arbeit wichtige Orientierungspunkte – mit positiven Effekten für die Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit, Standorten und Beschäftigung.
1. Einleitung
Das Projekt Industrie 4.0 zielt darauf ab, die Potenziale der Produktionstechnologie mit denen der der Informations- und Kommunikationstechnik in neuer Qualität zu verbinden. Medium dieser Verknüpfung sind intelligente Systeme (Cyber-Physical-Systeme) mit eingebetteter Software, die in Echtzeit Daten erfassen, speichern und auswerten und sowohl mit der physikalischen Welt (der Maschine) als auch mit der digitalen Welt (des Internet) interagieren können.
Man muss kein Prophet sein: Sollten Cyber-Physical-Systeme breitflächig in der industriellen Welt zum Einsatz kommen, sind in einem Zeitraum von fünf bis zehn Jahren erhebliche qualitative Veränderungen der Industriearbeit zu erwarten.
Zu den arbeitsrelevanten Auswirkungen liegen bislang keine gesicherten empirischen Befunde oder Prognosen vor. Mit Blick auf die hochautomatisierten Bereiche in der Halbleiter- und Automobilproduktion lässt sich indes fundiert spekulieren, dass mit einer verstärkten informationstechnischen Durchdringung und sensorgestützten Vernetzung des Wertschöpfungsprozesses umfassende Mensch-Maschine- und System-Interaktionen an Bedeutung gewinnen werden: Multimedia-, Social-Media- und Cloud-Technologien, Endgeräte aus der Bürowelt (iPads, Smart Phones, Ethernet) und neuartige, adaptive Assistenzsysteme werden zunehmend Verbreitung in den industriellen Arbeitssystemen finden. Durch eine fortschreitende Integration interaktiver, virtueller Arbeitsschritte und Inhalte verändern sich die Aufgabenzuschnitte. In kurz- bis mittelfristiger Perspektive wird sich der Arbeitsprozess im beständigen Wechsel virtueller und realer Werkbänke oder Schreibtische vollziehen. In langfristiger Perspektive werden Produktentwicklung und Produktion durchgängig virtuell gestaltet sein.
2. Ambivalente Folgen für Tätigkeitsprofile, Kompetenzen und Beschäftigung
Für die Mehrzahl der Beschäftigten in der Fertigung produzierender Unternehmen ist zu vermuten, dass regulierende Tätigkeiten der Steuerung und Programmierung sowie der Störungs- und Fehlerbehebung weiter an Bedeutung gewinnen. Für Ingenieurinnen und Ingenieure in den Entwicklungsabteilungen ist im Verlauf des Zusammenwachsens von Produktions- und Informationstechnologie mit steigenden Anforderungen besonders an die interdisziplinäre Zusammenarbeit zu rechnen. Anders gesagt: Wenn der Softwareanteil in klassischen mechanischen Produkten und Produktionsprozessen steigt, wächst auch der Bedarf an fachübergreifendem Wissen und Fähigkeiten, an Verständnis für die Arbeits- und Denkweisen korrespondierender Disziplinen und Fakultäten.
Die Arbeit wird an alle Beschäftigten deutlich erhöhte Komplexitäts-, Abstraktions- und Problemlösungsanforderungen stellen („Denken in übergreifenden Prozessen“, „Komplexitätsreduzierung erlernen“). Darüber hinaus wird den Beschäftigten ein sehr hohes Maß an selbstgesteuertem Handeln, kommunikativen Kompetenzen und Fähigkeiten zur Selbstorganisation abverlangt. Kurzum: Die subjektiven Fähigkeiten und Potenziale der Beschäftigten werden noch stärker gefordert sein. Das bietet Chancen auf qualitative Anreicherung, interessante Arbeitszusammenhänge, zunehmende Eigenverantwortung und Selbstentfaltung. Indes implizieren die Anforderungen der neuen, virtuellen Arbeitswelt auch Gefahren für Erhalt und Sicherung des Arbeitsvermögens. Je mehr sich der Arbeitsalltag verdichtet und das technische Integrationsniveau in sich ständig flexibel ändernden Netzwerken ansteigt, können Arbeitsintensivierung, ein Verlust an Zeitsouveränität und eine steigende Spannung zwischen Virtualität und eigener Erfahrungswelt Raum ergreifen. Der Verlust an Handlungskompetenz, die Erfahrung der Entfremdung von der eigenen Tätigkeit durch eine fortschreitende Dematerialisierung und Virtualisierung von Geschäfts- und Arbeitsvorgängen wären die Folgen. Nicht auszuschließen ist, dass sich „alte“ und „neue“ Gefährdungen für das Arbeitsvermögen in neuer Qualität – sowohl in der Bedeutungs- als auch der Vernutzungsdimension – überlagern und Formen der Selbstausbeutung befördern. Deshalb kann man die Industrie 4.0 nicht mit Arbeitsverbesserungen gleichsetzen. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, Lösungen zu finden, mit denen die Beschäftigten dafür gewonnen werden können, Stärken und Leistungen, Wissen und Kompetenzen in das Produktionssystem 4.0 einzubringen.
Last but not least stellt sich die Frage, welche quantitativen Beschäftigungseffekte die fortschreitende IT-Durchdringung insbesondere in der industriellen Fertigung nach sich zieht. Diese Frage kann derzeit nicht beantwortet werden. Die Arbeitswissenschaft hat sich mit diesem Thema noch nicht befasst, verlässliche Prognosen liegen nicht vor, womit zugleich dringlicher Forschungsbedarf signalisiert ist.
Gleichwohl ist davon auszugehen, dass sich der Abbau einfacher, manueller Tätigkeiten fortsetzen wird. Deshalb ist die Entwicklung von umfassenden Qualifizierungsmaßnahmen, die an der ganzen Breite der Belegschaften ansetzen, d.h. auch An- und Ungelernte einbeziehen. Alle Beschäftigten müssen eine Chance auf aktive Teilhabe und berufliche Entwicklungsmöglichkeiten in der Industrie 4.0 haben, sonst droht die soziale Deklassierung ganzer Beschäftigtengruppen und der Ausschluss von (nicht olympiareifen) Teilen der Belegschaften. Das ist weder für die Beschäftigten, noch mit Blick auf den gesellschaftlichen Anspruch der sozialen Integration akzeptabel.
3. Nicht die Technik, sondern der Mensch entscheidet
Ob und inwieweit die „dunklen Seiten“ der Industrie 4.0 den Arbeitsalltag bestimmen werden, ist derzeit (noch) offen. Die Smart Factory enthält ein Potenzial für eine neue Arbeitskultur, könnte Wege zu einem intelligenten, an den Interessen der Beschäftigten orientierten Verständnis „guter Arbeit“ eröffnen. Indes wird sich dieses Potenzial nicht im Selbstlauf realisieren. Entscheidend dafür sind neben Weiterbildung, Organisations- und Gestaltungsmodelle von Arbeit, die ein hohes Maß an selbstverantwortlicher Autonomie mit dezentralen Führungs- und Steuerungsformen kombinieren, die „loslassen“ und den Beschäftigten erweiterte Entscheidungs- und Beteiligungsspielräume sowie Möglichkeiten zur Belastungsregulation zugestehen.
Aus gewerkschaftlicher Perspektive geht es darum, ob Arbeit als Störgröße oder als lebendiges Potenzial in der Industrie 4.0 gefasst sein wird. Die Technik bietet Optionen in beide Richtungen. Die Systemauslegung kann sowohl als restriktive, kontrollierende Mikrosteuerung als auch als offenes Informationsfundament konfiguriert werden, auf dessen Basis der Beschäftigte entscheidet. Anders gesagt: Über die Qualität der Arbeit und der Arbeitsbedingungen entscheiden nicht die Technik oder technische Sachzwänge, sondern Wissenschaftlerinnen und Manager, die Cyber-Physical- Systeme entwickeln und umsetzen. Woran es in diesem Zusammenhang vielfach fehlt und zugleich Forschungsbedarf besteht: eine sozio-technische Gestaltungsperspektive, in der Arbeitsorganisation, Technik- und Softwarearchitekturen in enger wechselseitiger Abstimmung, „aus einem Guss“ mit dem Fokus darauf entwickelt werden, intelligente, kooperative, selbstorganisierte Interaktionen zwischen den Beschäftigten und/oder den technischen Operationssystemen entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu ermöglichen.
4. „Besser statt billiger“ als Chance und Orientierungsmaßstab im industriellen Wandel
Dass solche arbeitsorientierten Gestaltungsansätze gegenwärtig in der Industrie nur rudimentär verbreitet sind, verdeutlicht ein Blick auf die arbeitssoziologischen Befunde zum Ist-Zustand der Industriearbeit. Mit dem Ziel der Standardisierung und Optimierung von Arbeitsvollzügen werden heute in vielen Unternehmen so genannte Ganzheitliche Produktionssysteme (GPS) in den Fertigungen und Büros der industriellen Kernsektoren eingeführt. Diese Systeme sind vielfach sehr restriktiv im Aufgabenzuschnitt ausgelegt und allzu häufig mit einem Verlust von Beteiligungsmöglichkeiten, Handlungsspielräumen sowie Dequalifizierung verbunden. Ein erstarkender Neo-Taylorismus muss aber keine zwangsläufige Begleiterscheinung Ganzheitlicher Produktionssysteme sein. Dies zeigen Beispiele insbesondere aus (hoch)automatisierten Fertigungsabschnitten, in denen auch unter Standardisierungsbedingungen kompetentes, auf Beteiligung ausgerichtetes Arbeits- und Innovationshandeln möglich ist – gestützt auf intelligente Organisations- und Qualifizierungskonzepte.
Damit ist die Entwicklungsrichtung für die Industrie 4.0 klar: Es ist schwer vorstellbar, dass dieses auf intelligente Informationsvernetzung ausgerichtete Zukunftsprojekt auf Basis eines Taylorismus 4.0 reüssieren kann. Eine weitere Radikalisierung des tayloristischen Gestaltungsansatzes kann nicht als aussichtsreicher Weg gelten, um die Smart Factory im Einvernehmen mit den Beschäftigten realisieren und damit neue Effizienzvorteile erschließen zu können. Gerade weil die Industrie 4.0 ein hochkomplexes, virtuelles System ist, braucht sie den Menschen als „Sensor“, Entscheider und Steuerer. Und dafür braucht es faire Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen.
5. Gewerkschaftliche Innovationsstrategie
An dieser Stelle will die gewerkschaftliche Innovationsstrategie „Besser statt billiger“ tragfähige Standards und Handlungskorridore für eine „gute Arbeit“ und sichere Zukunft von Standorten und Beschäftigung aufzeigen. Diese Strategie umfasst einerseits arbeitspolitische Belange wie eine arbeitsorientierte Organisationsgestaltung, umfassende Beteiligung, Mitbestimmung und Qualifizierung. Anderseits ist sie mit globalen Wettbewerbsanforderungen kompatibel. „Besser statt billiger“ zielt auf Technologieführerschaft als Weichenstellung für die industrielle Zukunft Deutschlands. Es geht also nicht nur um das „Wie“, sondern auch um das „Was“ industrieller Aktivitäten, um die Entwicklung neuer, ressourcenschonender Prozesse, Produkte und Dienstleistungen, um die Förderung nachhaltiger Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten, also um Sicherung und Ausbau der Innovationsfähigkeit von Betrieben und Branchen und damit gesellschaftlicher Wohlfahrt.
6. Fazit
Technologische, soziale und gesellschaftliche Entwicklung gehören bei „Besserstrategien“ zusammen. An die Stelle einer rigorosen Privilegierung der Förderung und Entwicklung von Zukunftstechnologien tritt ein Verständnis von Innovation, das verstärkt auf gesellschaftlichen Impulsen beruht und darauf abzielt, bisher brachliegende, aktivierbare Innovationsressourcen der Beschäftigten als wichtige Produktivitätsquelle zu erschließen. In dieser Perspektive stellen gute Arbeit, technologische Innovation und Mitbestimmung beim Projekt 4.0 keinen Widerspruch, sondern eine in die Zukunft weisende Kompasseinstellung bei der Suche nach technologisch effizienten und sozial ausgewogenen Lösungen dar. Aktive Zusammenarbeit von Betriebsräten, Gewerkschaften und Arbeitgebern sichert auch zukünftig die Pole-Position für Produkte „Made in Germany“.
Constanze Kurz