ZerrissenheIT
Die ukrainische Technologiebranche im Krieg
John Adam, Krusche & Company GmbH
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Kurz und Bündig
Der ukrainische IT-Sektor hat sich als äußerst resistent bewiesen. Trotz des anhaltenden Krieges auf dem Staatsgebiet der Ukraine bieten IT-Fachkräfte weiterhin Dienstleistungen für Firmen im Westen an. Nicht nur für diese ist es entscheidend, sondern auch für die Ukraine selbst: Der IT-Sektor ist ein wichtiger Bestandteil der eigenen Wirtschaft.
Trotz vieler Herausforderungen, zu denen auch eine fehlende Stromversorgung oder die immer wiederkehrenden Fliegeralarme gehören, hat sich der ukrainische IT-Dienstleistungssektor als bemerkenswert widerstandsfähig erwiesen – sehr zur Erleichterung der digitalen Wirtschaft des Westens. Im ganzen Land gibt es Hunderttausende von ukrainischen IT-Fachkräften, die Web- und Softwareanwendungen für hauptsächlich westliche Unternehmen und Organisationen entwickeln oder verwalten.
Eine endlose Reihe überfüllter Autos staute sich Ende Februar dieses Jahres von der polnischen Grenze zurück in die Ukraine. Unzählige Familien, die meisten ohne Väter oder Söhne im Alter zwischen 18 und 60 Jahren – die zu diesem Zeitpunkt durch das Kriegsrecht innerhalb der ukrainischen Grenzen eingeschlossen waren – bahnten sich mühsam, oft frierend und hungernd, ihren Weg in die Sicherheit.
Die ukrainischen Straßen, die in Richtung Polen und Slowakei im Westen sowie nach Moldawien im Südwesten führen, waren überfüllt – und zwar nur in einer Richtung: weg von den einmarschierenden russischen Truppen sowie den auf die Flüchtenden fallenden Bomben, Raketen und Granaten.
Russland hatte eine tödliche Invasion des kompletten Landes gestartet. Es war der Überzeugung, dass es die Ukraine schnell und entschlossen in ihre politische Einflusszone zurückführen oder ganz verschlucken könnte.
Russland lag falsch. Die ukrainische Armee und der ukrainische Zivilschutz, bestehend aus Freiwilligen mit sehr unterschiedlichem militärischem Ausbildungsstand, haben der Invasion mit all ihren Möglichkeiten standgehalten. Als in den ersten Tagen und Wochen jedoch große Teile des Landes von Invasionskräften besetzt wurden, deren Ziel es war, die Regierung rasch zu stürzen, sah die Lage düster und extrem gefährlich aus.
Innerhalb eines Monats verließen vier Millionen Flüchtlinge, zumeist Frauen und Kinder, die Ukraine und brachten sich in befreundeten Nachbarländern wie Polen oder in Westeuropa in Sicherheit. Dies entspricht einem Zehntel der Vorkriegsbevölkerung von 41 Millionen Menschen.
Ein Großteil der ukrainischen IT-Fachkräfte befindet sich noch im Land - und arbeitet
Seither haben noch mehr Ukrainer ihr Land verlassen; Anfang Mai waren es schätzungsweise über fünf Millionen. Hinzu kommen acht Millionen Ukrainer, die innerhalb des Landes vertrieben wurden und aus den unmittelbar von den Kämpfen betroffenen oder als gefährdet geltenden Städten weggezogen sind.
Unter der ukrainischen Kriegsbevölkerung von etwa 36 Millionen Menschen gibt es zehntausende, möglicherweise hunderttausende von Softwareentwicklern sowie weitere IT-Fachkräfte. Im Jahr 2021, vor dem Einmarsch Russlands, verfügte die Ukraine über schätzungsweise 289.000 IT-Fachkräfte und damit über einen der höchsten Bestände an Softwareentwicklern in Europa. Direkt oder indirekt über IT-Outsourcing- Dienstleister sind zahlreiche westeuropäische und nordamerikanische Unternehmen auf Softwareentwickler und andere IT-Experten aus der Ukraine angewiesen.
Branchenberichten zufolge sind 75 Prozent der Fachkräfte Männer, von denen sich die große Mehrheit noch in der Ukraine aufhält. Einige von ihnen sind in den aktiven Militärdienst eingetreten, entweder in die reguläre Armee oder in die zivilen territorialen Verteidigungsdienste. Die meisten aber arbeiten normal weiter.
IT-Dienstleistungen – eine Wachstumsindustrie
Laut dem Bericht „Tech Ukraine 2021“ führte das Land im Jahr vor der Invasion IT-Dienstleistungen im Wert von schätzungsweise sieben Milliarden Dollar aus. Das entspricht etwa den doppelten Einnahmen des Gasübertragungsnetzes, das durch das Land verläuft und russisches Gas in den europäischen Raum transportiert.
Die Exporte von IT-Dienstleistungen waren außerdem zweimal so hoch wie der Gesamtwert des ukrainischen Maschinenbausektors und entsprachen einem Viertel der Agrarexporte, des größten Wirtschaftszweigs des Landes.
Öffentliche Informationsquellen schätzen das Wachstum der ukrainischen IT-Dienstleistungsexporte allein in den ersten drei Quartalen im Jahr 2021 auf 35 Prozent. Der Export von IT-Dienstleistungen trug in den letzten Jahren entscheidend zum allgemeinen Wirtschaftswachstum der Ukraine bei. Das schnelle Wachstum hat zu einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen westlichen Unternehmen und ukrainischen IT-Fachkräften geführt, wobei viele dieser Unternehmen dringend auf diese Fachkräfte angewiesen sind.
In einer vom Krieg zerrütteten Wirtschaft, in der viele Sektoren, insbesondere die Landwirtschaft, schwer geschädigt sind – die Weltbank prognostiziert einen Rückgang der ukrainischen Wirtschaft um 45 Prozent in diesem Jahr – , ist das Fortbestehen des IT-Dienstleistungssektors außerdem absolut essenziell sowohl für die Steuereinnahmen des Landes als auch für die lokale Wirtschaft.
Die Einkommen ukrainischer IT-Fachkräfte (6.000 bis 8.000 Euro pro Monat sind für erfahrene leitende Softwareentwickler keine Seltenheit, selbst wenn sie remote arbeiten) und die Steuern, die sie zahlen, sind für die ukrainische Wirtschaft in Kriegszeiten unverzichtbar. Viele von ihnen unterstützen derzeit ihre Familien, weil andere Erwerbstätige in weniger anpassungsfähigen Sektoren ihre Arbeit verloren haben. Die Tech-Community leistet beeindruckende finanzielle Unterstützung und sammelt Geld für Wohltätigkeitsorganisationen, um die Kriegsanstrengungen sowie humanitäre Projekte zu unterstützen.
Nicht alle haben die Möglichkeit, mobil zu arbeiten, sobald ihnen ein ruhiger Raum, ein Laptop und ein Internetanschluss zur Verfügung gestellt werden. Der IT-Sektor der Ukraine, der vor dem Krieg absolut florierte, bietet jedoch diesen Vorteil. Er hat sich im Umgang mit der Kriegsrealität auf dem Territorium des Landes als ebenso „agil“ erwiesen wie die Fachkräfte bei der Entwicklung digitaler Produkte, welche nach wie vor einen Motor der lokalen und globalen Wirtschaft darstellen.
Ukrainische IT-Fachkräfte sind auch für die digitale Wirtschaft des Westens absolut unverzichtbar. Snap, Lyft, Microsoft, Cisco und Google sind nur eine Handvoll Tech-Giganten aus den Vereinigten Staaten von Amerika, die ukrainische Arbeitskräfte beschäftigen. Viele, wenn nicht sogar die Mehrheit der europäischen Blue Chips, kleinen und mittleren Unternehmen sowie Start-ups stützen sich entweder direkt oder indirekt über IT-Outsourcing-Partner auf das technische Talent der ukrainischen Arbeitnehmer.
Obwohl die Unternehmen im Silicon Valley in letzter Zeit mit Personalabbau Schlagzeilen machten, gibt es international immer noch einen großen Mangel an Softwareentwicklern und IT-Experten. Für die meisten westlichen Unternehmen ist es nach wie vor besonders schwierig, erfahrene Fachkräfte einzustellen und zu binden. Im Jahr 2022 gibt es nur sehr wenige wachsende Unternehmen, die keine Softwareentwickler beschäftigen, wobei viele von ihnen an Nearshore-Standorten am Rand Europas ansässig sind.
Hätten die hunderttausende ukrainischen IT-Fachkräfte den internationalen Arbeitsmarkt verlassen, hätte dies ein großes Problem für westliche Banken, Maschinenbauer, Automobilhersteller, Tech-Start-ups und viele andere Unternehmen dargestellt, denn die Aufgabe dieser Spezialisten besteht darin, die nötige Software zu entwickeln beziehungsweise zu warten, um die Unternehmen in der modernen Wirtschaft konkurrenzfähig zu machen.
Zu ihrem Glück und zum Glück der ukrainischen Wirtschaft hat sich der IT-Dienstleistungssektor des Landes als bemerkenswert robust erwiesen. Möge dies auch weiterhin so bleiben.