„In Talkshows eine gute Figur zu machen, reicht nicht“
Welche Qualifikationen Politiker heute brauchen
Im Gespräch mit August-Wilhelm Scheer, Scheer Holding
(Titelbild: © AdobeStock | 386737207| jirsak)
Kurz und Bündig
Kopernikus wurde im 16. Jahrhundert angesichts seines heliozentrischen Weltbildes belächelt. Galileo Galilei, der wissenschaftlich belegte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, musste vor der Inquisition der römisch-katholischen Kirche der angeblichen Irrlehre abschwören. Wissenschaft und Macht beziehungsweise Wissenschaft und Politik standen oft in einem problematischen Spannungsverhältnis. Heute gestaltet sich das Spannungsverhältnis weniger dramatisch, aber es bleibt die Frage, wie die Politik mit wissenschaftlichen Erkenntnissen umgehen sollte, um den modernen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen.
Heute tut sich selbst in demokratischen und meinungsfreiheitlichen Gesellschaften die Politik schwer, Erkenntnisse der Wissenschaft in politisches Handeln umzusetzen, gerade wenn es um unpopuläre Maßnahmen geht. Wie wissenschaftsoffen sollte Politik sein? Darüber haben wir mit Wissenschaftler und Unternehmer Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer gesprochen.
Herr Prof. Scheer, es ist genau 50 Jahre her, dass der Club of Rome als internationaler Zusammenschluss von Experten verschiedener Disziplinen seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlichte und dabei deutlich vor den Folgen des drohenden Klimawandels warnte. Erst heute, da Polkappen abschmelzen und auch Europa von Wetterkatastrophen heimgesucht wird, werden ernsthafte Maßnahmen zur CO2-Reduktion angegangen. Warum fällt es der Politik so schwer, wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechende Taten folgen zu lassen?
AWS: Politiker wollen gewählt werden, insofern müssen ihre Entscheidungen auch mit der Stimmung in der Bevölkerung abgestimmt sein. Sich konsequent gegen eine vorhandene Meinungswand zu stemmen, ist in unserem System nur schwer möglich. Auf der anderen Seite braucht man auch die Akzeptanz der Bevölkerung, wenn man zu Grundsätzlichem aufruft. Insofern kann man nicht einfach den Politikern die Schuld zuweisen, wenn sie nicht sofort den Erkenntnissen der Wissenschaft folgen. Sie müssen zunächst die Bereitschaft der Bevölkerung für Änderungen aufbauen. Das heißt, eine Problemstellung muss zum Kernthema gemacht werden, um dann für entsprechende Aktionen und Konsequenzen zu werben.
Ein weiterer Punkt liegt darin, dass die Wissenschaft sich ihrer Sache auch nicht immer ganz sicher ist. Für viele wissenschaftliche Erkenntnisse gibt es auch Gegenargumente. Aus diesem Grunde muss auch die Wissenschaft dicke Bretter bohren und nachweisen, dass ihre Erkenntnisse nicht auf einzelnen Ergebnissen beruhen, sondern dauerhaft Bestand haben. Also, die Angelegenheit ist nicht ganz so einfach, wie sie auf den ersten Blick aussieht.
Es gibt eine Vielzahl von wissenschaftlichen Gremien, die schon seit Jahrzehnten die Politik beraten – angefangen von den Wirtschaftsweisen bis hin zum Ethikrat. Teilen Sie die Wahrnehmung, dass diese Wissenschaftler jetzt auch in der Öffentlichkeit deutlich mehr Beachtung finden?
AWS: Ich bin nicht sicher, ob das so ist. Wir haben während der Pandemie durchaus beobachten können, dass zwischen den Wissenschaftlern fast Streit ausgebrochen ist, etwa wegen unterschiedlicher Analysen und Ergebnisse. Es ist eben nicht so einfach, bei komplexen Themen einfache Antworten und Lösungen zu finden. Eine größere Bereitschaft der Bevölkerung, wissenschaftliche Erkenntnisse wahrzunehmen, begrüße ich dabei ausdrücklich. Das muss allerdings auch einhergehen mit der Einsicht, dass Wissenschaft nicht unangreifbar ist und dass nicht alle Erkenntnisse in Stein gemeißelt sind. Wenn Einstein die newtonschen Gesetze als unumstößlich erachtet hätte, dann hätte er seine Relativitätstheorie nicht entwickelt. Auch wissenschaftliche Erkenntnisse sind im Fluss.
Ich finde es gut, wenn beide Seiten sich öffnen, aber es muss mit einer entsprechenden Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen der Wissenschaft einhergehen.
Sie selbst mahnen als Wissenschaftler seit rund 40 Jahren, dass Deutschland wichtige technologische Entwicklungen auf dem Weg zur Digitalisierung verschläft. Auch heute ist Deutschland noch ein digitales Entwicklungsland. Viele Fehler wurden von etablierten Unternehmen gemacht, aber wo hat die Politik versagt?
AWS: Man muss nicht Wissenschaftler sein, um den Nachholbedarf in Deutschland zu erkennen. Hier liegen die Erkenntnisse auf der Hand. Man braucht nur bei einer Urlaubsreise im Ausland einmal darauf zu achten, wie weit andere nicht so hoch industriell entwickelte Länder sind, um zu sehen, wie weit wir im Bereich der Digitalisierung hinterherhinken.
Die Politik hat dieses nicht wahrgenommen, weil es unbequem gewesen wäre, entsprechende Maßnahmen durchzusetzen. Man hätte bei sich selbst anfangen und die öffentliche Verwaltung ändern müssen. Faktoren wie das Beamtenrecht, Lebenszeitstellungen und starke Mitarbeitervertretungen sind nicht förderlich für große Änderungen in Arbeitsform und Organisation. Hinzu kommen die gesplitteten Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden. All dies sind hemmende Faktoren gewesen. Außerdem war das Thema auch nicht populär. Digitalisierung wurde häufig mit Ängsten verbunden, mit Arbeitsplatzverlust, auch das Datenschutzthema wurde überbetont. Die Politik hat nicht versucht, Bedenken zu zerstreuen, sondern hat teilweise diese Bedenken durch die Betonung von Besorgnissen noch verstärkt. Die unter Bundeskanzlerin Merkel eingerichteten IT-Gipfel beziehungsweise später Digitalisierungsgipfel waren eher ein Schaulaufen der Ministerien und ihrer Minister, als dass hier wirklich grundlegende Anstrengungen verkündet wurden. Für den IT-Gipfel 2017 haben zum Beispiel Prof. Dr. Wolfgang Wahlster als Direktor des Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz und ich federführend einen Aufruf veröffentlicht, um die Digitalisierung in Deutschland stärker voranzubringen. Wir hatten uns mit weiteren Experten sehr viel Mühe für diesen Aufruf gegeben und dabei Forderungen an die Protagonisten unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche herausgearbeitet – dabei geht es ja nicht nur um die Politik, sondern auch um die Wirtschaft, die Verbände und die Bevölkerung.
Die Politik hat aber unseren Aufruf nicht als Anregung oder Unterstützung angesehen, sondern eher als Einmischung. Man war eher verschnupft, als dass hier Hinweise durch Fachleute gerne gehört worden wären. Es wurde eine Chance vertan, die Politik war hier nicht aufgeschlossen genug.
Teilen Sie den Eindruck, dass unsere Welt aktuell so komplex geworden ist, dass die Politik bei ihren Entscheidungsfindungen überfordert ist?
AWS: Das ist ein heißes Thema. Es geht an die Grundsätze unseres politischen Systems. Die Karrieren von Politikern werden nicht primär durch ihre fachlichen Kenntnisse bestimmt, sondern durch den Einsatz innerhalb ihrer Parteien, ihre Rhetorik, ihre Medienwirkung. Dies alles ist durchaus wichtig, damit Politiker die Bevölkerung mit ihren Aussagen erreichen können. Dafür brauchen sie eine gute Kommunikationsfähigkeit. Wir merken aber, dass bei vielen Fragen heute die fachliche Frage dominiert und nicht mehr beiseitegeschoben und allein den Experten der zweiten und dritten Ebene überlassen werden kann. Zum Schluss müssen die Politiker auf der ersten Ebene die Entscheidungen treffen und auch gegenüber den verschiedenen Gruppen der Bevölkerung und deren unterschiedlichen Interessen vertreten. Hier sehen wir, dass blamable Situationen auftreten, wenn Politiker kurzfristig getroffene Entscheidungen aufgrund späterer besserer Einsicht revidieren müssen. Ich glaube, dass man dieses Problem von zwei Seiten angehen muss. Politiker müssen sich zum einen selbst fachlichen Themen stärker öffnen. Ein abgebrochenes Studium ist aus meiner Sicht dafür in der Regel nicht ausreichend. Sie sollten auch Ergebnisse der Wissenschaft nicht als Legitimation ihrer schon vorher gefassten Entscheidung nutzen, sondern sich wirklich der fachlichen Diskussion stellen.
Zum anderen muss sich aber auch die Wissenschaft mit ihren Ergebnissen der praktischen Umsetzung in politischen Szenarien zuwenden. Sie muss sich zudem einer Sprache bedienen, die für die Kommunikation mit der Politik und anschließend mit der Bevölkerung geeignet ist, und sie muss sich zu klaren Aussagen bekennen. Eine ständige Einerseits-andererseits-Argumentation, also ein ständiges Abwägen, ist für die Politik nicht hilfreich. Wissenschaftler müssen sich zu klaren Aussagen durchringen, auch im Wissen, dass es Gegenargumente gibt. Kluges Abwägen ist also gefragt.
Manche Kritiker warnen, dass der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik zu groß werden könnte. Einerseits seien wissenschaftliche Erkenntnisse oft noch gar nicht belastbar, andererseits müsse die Forschung, wenn sie Maßnahmen anmahnt, nicht die Verantwortung für die Folgen tragen – die Politik hingegen schon…
AWS: Die Kritik ist absolut berechtigt, am Ende hat die Politik die Verantwortung und muss die Aussagen der Wissenschaft beurteilen können. Das setzt, wie erwähnt, die entsprechende Fachkompetenz oder auch Erfahrung im Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen voraus. Politiker müssen den Dialog mit der Wissenschaft lernen, dies muss zu einem Routinevorgang werden. Sie müssen lernen, die Belastbarkeit von Aussagen zu erkennen. Es gibt durchaus gute Ansätze. Es existiert ein guter Kontakt zwischen der Politik und einigen Wissenschaftsorganisationen. So sind Acatech und die Leopoldina ausgesprochen auf die Beratung der Politik ausgerichtet. Aber auch Organisationen wie Max Planck, Helmholtz oder Fraunhofer finden in den Beratungsgremien der Politik Gehör.
Ein Problem ist, dass die Organisationen sehr stark auf die Finanzierung durch die Politik, zum Beispiel durch das Bundesforschungsministerium, angewiesen sind. Hier muss dafür gesorgt werden, dass dies die Aussagen der Wissenschaftler nicht zu stark beeinflusst. Da ich selbst Wissenschaftler war und bin, haben wir häufig bewusst den Unterschied betont zu jenen Wissenschaftlern, die vor allem Geldjäger sind, also den Fördertöpfen hinterherhecheln. Sie tun dies, weil sie ein großes Institut finanzieren müssen oder innerhalb ihrer Organisation nach der Einwerbung von bestimmten Projektmitteln beurteilt werden. Dann ist es verlockend, in die von der Politik vorgegebene Richtung und Wertung von Themen hineinzuspielen. Das kann die Unabhängigkeit der Wissenschaft gefährden.
Welche Rolle spielt der sogenannte mündige Bürger in dem Spannungsverhältnis zwischen Politik und Wissenschaft?
AWS: Dieser mündige Bürger ist der Wähler. Er bestimmt, welche Politiker an die Machtinstrumente gelangen. Insofern kann man den Politikern nur eingeschränkt Vorwürfe machen, da es den Wählerinnen und Wählern bislang relativ gleichgültig war, wie gut die fachliche Qualifikation der gewählten Politiker ist. Ich würde mir wünschen, dass die Wählerinnen und Wähler selbst erkennen, dass hier fachliche Kenntnisse in der komplexer werdenden Welt eine größere Bedeutung haben und neben der Eigenschaft in den Talkshows eine gute Figur zu machen, eine wichtige Rolle spielen. Die Entscheidung liegt in der Demokratie bei dem mündigen Bürger. Nur so kann unser System bestehen. In China etwa ist die Auswahl von Politikern viel stärker von Erfolgsfaktoren aus der jeweiligen individuellen beruflichen Vita abhängig. Wir dürfen nicht zulassen, dass autokratische Systeme am Ende erfolgreicher sind als unser demokratisches System!