Viel Wind um nichts
Ein Erfahrungsbericht aus der Politikberatung
Im Gespräch mit Andreas Weigend, Experte für Big-Data, Social-Mobile Technologie und Konsumerverhalten
(Titelbild: © AdobeStock | 146723712 | VRD)
Kurz und Bündig
In der Frage der wissenschaftlichen Politikberatung sieht Andreas Weigend Verbesserungspotenzial aus seiner Erfahrung im Digitalrat der Bundesregierung: Es brauche hier informellere Wege, die mehr erreichen als Gremienarbeit. Den Stand der Digitalisierung in Deutschland sieht Weigend auch bei weitem nicht so negativ, wie er oft dargestellt wird. Jedoch stehe der Deckmantel der Privatsphäre anders als in den USA zu oft im Wege. An den Deutschen hafte ein Mentalitätsproblem diesbezüglich.
Im Jahr 2018 rief die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Digitalrat der Bundesregierung ins Leben, um ihr Kabinett von Expert:innen aus dem digitalen Feld beraten zu lassen. Andreas Weigend war bis zu seinem freiwilligen Ausscheiden im Jahr 2019 Mitglied des Digitalrats. Im Gespräch mit der IM+io berichtet Weigend nicht nur von seiner Arbeit im Digitalrat der Bundesregierung, sondern auch über die Unterschiede bei der Digitalisierung zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika und macht einen Vorschlag zur effektiveren Politikberatung durch Expert:innen.
Herr Weigend, während eine digitale Wahl in Estland seit 2005 möglich ist, sind wir in Deutschland bereits froh, wenn die Briefwahl digital beantragt werden kann. Wie bewerten Sie den Stand der Digitalisierung in Deutschland?
AW: Das ist eine gute Frage, auf die ich wahrscheinlich gar keine passende Antwort habe. Denn als deutscher Staatsbürger, der schon seit 30 Jahren im Ausland lebt, verfolge ich das Tagesgeschäft in Deutschland nicht mehr so genau. Trotzdem fällt mir natürlich das Eine oder Andere auf, was ich gerne einmal schildern kann.
Während wir hier gerade sprechen, kommt eine Message rein, von der Digital Concert Hall. Das ist eine Plattform, die von den Berlinern Philharmonikern bespielt wird und ganz klare Weltspitze ist. Nicht nur, dass die Berliner Philharmoniker das beste Orchester sind – auch die Digital Concert Hall ist Weltklasse. Nirgendwo auf der Welt gibt es Vergleichbares. Hier haben wir also ein positives Beispiel in Sachen Digitalisierung in Deutschland. Das möchte ich vorausschicken, um nicht in das übliche Muster zu verfallen und nur herauszustellen, was nicht funktioniert. Es gibt Dinge, die in Deutschland aus Auslandssicht extrem gut funktionieren.
Wenn es nun aber um digitalisierte Strukturen und Angebote in der öffentlichen Verwaltung geht, weil Sie die Wahlorganisation angesprochen haben, stellt sich natürlich die Frage, warum Formulare und so weiter nicht elektronisch verfügbar sind? Welche Gründe gibt es dafür? Denn heutzutage kann jeder ein Google Form erstellen. Es kann nicht an fehlendem spezifischen Wissen liegen.
Aus meiner Zeit im Digitalrat der Bundesregierung kann ich sagen, dass die Deutschen sich immer wieder gerne hinter dem Deckmäntelchen der Privatsphäre und des Datenschutzes verstecken.
Ist das in den USA anders?
AW: Meine Beobachtung ist, dass in den USA eher alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, während man in Deutschland weiß, was theoretisch möglich wäre, aber viele Hindernisse in der Umsetzung sieht.
Sie würden demnach sagen, es sei eine Mentalitätssache der Deutschen?
AW: Ja, es ist eine Mentalitätssache. Wenn wir uns die großen Digitalunternehmen anschauen, wird das schnell deutlich. Facebook ist ein Unternehmen aus Menlo Park, Kalifornien. Auch Google ist eine Firma aus Kalifornien. Das kann man jetzt weiter exerzieren: Apple, Amazon, Life360… Die Deutschen sagen dann immer gerne, wir haben ja auch DuckDuckGo. – Die Tochter meines Bruders war zum Beispiel ganz begeistert, dass sie nicht Google als Suchmaschine verwendet, sondern DuckDuckGo. Leider hat sie nicht gefunden, was sie gesucht hat. – Der Fakt ist also, die großen Digitalunternehmen sind hier in den USA, und es gibt in Deutschland kaum Alternativen.
Deutschland hat den Star SAP, welcher die Wirtschaftsprozesse abbildet, und dominiert damit die Welt. All die anderen Softwares, die die Menschen im alltäglichen Leben nutzen kommen nicht aus Deutschland. Aber früher hatte Siemens zum Beispiel auch Handys hergestellt. Es ist nicht so, dass Deutschland immer schon dort war, wo es jetzt steht in Sachen Digitalisierung. Deutschland war bei der Digitalisierung einmal vorne mit dabei.
Sie sind beratend für internationale Konzerne tätig. Die deutsche Lufthansa gehört dazu genauso wie das chinesische Amazon Alibaba. Aber sie waren auch, wie Sie vorhin bereits erwähnt haben, im Digitalrat der Bundesregierung tätig. Was sind Ihre Beobachtungen hier? Ist Deutschland auch in diesem Bezug spürbar anders?
AW: Deutschland ist McKinsey hörig. Der Digitalrat zum Beispiel wurde mehr oder weniger durch McKinsey ins Leben gerufen und die Positionen darin wurden entsprechend besetzt. Mich einmal ausgenommen. Ich war da der Problemfall, weil ich viele Dinge kritisch gesehen habe.
Ich habe absolut nichts gegen das Unternehmen. Meine Beobachtung ist nur, dass sich in Deutschland eine Hörigkeit etabliert hat, die ich in keinem anderen Land der Welt bisher feststellen konnte. Das lässt sich objektiv untersuchen: Wie viele Berater, Euro, Dollar oder Stunden pro Staatsbürger werden für die Beratung ausgegeben? Wie auch immer Sie es normieren wollen: Deutschland ist Nummer eins.
Wozu führt diese McKinsey-Hoheit im deutschen Beratungsmarkt?
AW: Das Ziel eines Unternehmensberaters ist es natürlich, weiter Beratung zu verkaufen. Und nicht etwa, eine Firma zu gründen, die danach keine Strategie- und Unternehmensberatung mehr braucht. Es ist ein Dilemma, und ich glaube, man sollte einmal danach fragen, wie Deutschland da hingekommen ist.
Was üblicherweise gesagt wird, ist, dass der Mut zum Unternehmertum fehlt und die Angst vor dem Scheitern überbetont wird.
Ich bin damals mit Cello und Koffer in einem Billigflieger von Brüssel – das war das Günstigste – nach San Francisco geflogen. Ich würde sagen, dass 90 Prozent meiner Freunde hier aus der gleichen Kategorie sind. Es gab kein Rückflugticket. Diese Mentalität ist in einem Land wie der Bundesrepublik Deutsch- land, in dem es den Leuten im Prinzip relativ gut geht, allerdings eher selten.
Anders ist das zum Beispiel in der Volksrepublik China. Ich spreche dabei gar nicht von politisch verfolgten Menschen. Der Unterschied ist, dass dort die Wahrscheinlichkeit, eine gute Universität zu besuchen, verglichen mit Deutschland, geringer ist. Mit dieser Lebensperspektive packt man eher seine Sachen zusammen und versucht es einmal ohne Rückflugticket.
Und würden Sie sagen, dass dieses Ziel erreicht werden konnte?
AW: Der Gedanke war gut, aber ich glaube, dass das Format nicht das richtige war. Etwas weniger Offizielles, eher Privates hätte sie wahrscheinlich eher ans Ziel gebracht als ein Zusammenkommen der üblichen Koryphäen.
Für Sie war Ihr Ausscheiden aus dem Digitalrat demnach nur konsequent, weil Sie gesehen haben, dass man damit nichts bewirkt?
AW: Man bewirkt nichts! Und ich meine, alle anderen Mitglieder waren lokal. Für mich war das jedes Mal ein Flug von zehn Stunden mit anschließender Zugfahrt. Und dann die verschiedenen Zeitzonen. Der Aufwand stand nicht in Relation. Ich glaube, ich habe es ehrlich versucht, habe dann aber für mich den Entschluss gefasst auszusteigen, da es nicht das Richtige sein kann. Ich weiß auch nicht, was aus dem Digitalrat geworden ist.
Sie mussten jedes Mal mehr als zehn Stunden anreisen. Es gab im Digitalrat also nicht die Möglichkeit einer digitalen Sitzung?
AW: Der Gedanke daran existierte damals gar nicht. Sie haben recht, es wäre möglich gewesen, so ein Gespräch über Zoom zum Beispiel abzuhalten. Aber das ist ja auch eine amerikanische oder chinesische Firma. Man hätte dann ein deutsches Äquivalent finden müssen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Sie haben den Digitalrat seit Ihrem Ausscheiden nicht weiter verfolgt?
AW: Nein. Ich weiß gar nicht, ob er noch existiert, ob Herr Scholz einen neuen aufgelegt hat oder Ähnliches. Weil ich eben hinterfragt habe, ob in der Essenz so etwas das Richtige ist.
Ich hatte mich zur Vorbereitung für den Digitalrat mit vielen meiner Bekannten aus den USA getroffen, die hauptsächlich für Obama damals etwas Ähnliches gemacht haben. DJ Patil war Chief Digital Officer unter Obama. Der riet mir, konkrete Sachen zu machen. Es darf sich nicht in Schwafeln ergehen, da wird nie etwas draus. Man braucht ein ganz konkretes Projekt. Er riet mir, etwas zu überlegen und es dann einfach zu machen. Aber das ist eben eine ganz andere Denkweise in den USA im Vergleich zu Deutschland.
Aus Ihrer Erfahrung heraus funktioniert die wissenschaftliche Politikberatung durch solche Gremien also nicht?
AW: Nein, und ich glaube, wir sollten uns überlegen, wie wir, die mehr über das Thema wissen als der Durchschnitt, unser Wissen weitergeben können. In meinem Fall also über Daten und ganz besonders über Geolocation und Ortungsdaten. Wir müssen uns fragen, wie wir die Politik zielführend beraten können, damit wir gehört und Dinge verbessert werden.
Eine effektivere Art der Beratung könnten beispielsweise informelle Treffen zwischen Experten eines Themenfeldes, die verschiedene Perspektiven einbringen, und Politikern sein. Das kann ein Abendessen oder auch eine Party sein. Solche kleineren ungezwungenen Treffen können einen größeren Impact auf Denkweisen und Ansichten haben als groß aufgezogene Expertenräte. Davon bin ich überzeugt.