„Wozu ist man hier, wenn man nichts verändern will?“
Dirk Werth im Gespräch mit Herausgeber und Gründer der IM+io August-Wilhelm Scheer
Kurz & Bündig
Ein Mann, vier Leben. Das ist Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer, Gründer und Herausgeber der IM+io. Dem Chefredakteur des Magazins Dr. Dirk Werth erklärt er im Interview das Geheimrezept seines Erfolgs.
Kaum ein anderer Softwarepionier in Deutschland kann auf eine so erfolgreiche und lange Karriere blicken wie der Gründer und Herausgeber der IM+io Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer. In dieser Jubiläumsausgabe zu seinem 80. Geburtstag erklärt er im Interview mit dem Chefredakteur Dr. Dirk Werth das Geheimrezept seines Erfolgs und wagt einen visionären Blick auf das, was kommt.
DW: Herr Prof. Scheer, wie Sie selbst in Ihrem neusten Buch „Timing“ schreiben, leben Sie vier Leben gleichzeitig. Als Unternehmer, als Wissenschaftler, als Musiker und als Innovator/Politikberater. Was, würden Sie sagen, hat Sie am meisten geprägt?
AWS: Mein Lieblingsberuf war sicherlich Universitätsprofessor. Als ich als Student mit der Forschung in Berührung kam, ich war damals studentische Hilfskraft in Hamburg am Institut für Operations Research – also für mathematische Entscheidungsforschung –, habe ich als einer der ersten Studenten das Programmieren gelernt. Das war natürlich toll, an neuen Dingen mitarbeiten zu können. Daraus entstand dann auch das Ziel, hinterher als Wissenschaftler und am Ende als Universitätsprofessor zu arbeiten. Wenn ich ehrlich bin, war natürlich auch das hohe Prestige, das damals mit dem Universitätsprofessorentitel verbunden war, auch schon ein gewisser Anreiz. Aber wenn ich zurückblicke, betrachte ich heute das Wissenschaftssystem nicht nur positiv, sondern auch ein bisschen kritisch.
Die größte Entfaltungsmöglichkeit meiner Fähigkeiten habe ich sicherlich als Unternehmer erfahren. Deswegen glaube ich, dass diese Seite mich am stärksten geprägt hat. Wobei das kein Widerspruch zum Wissenschaftler ist: Auch Unternehmer müssen innovativ sein, müssen neue Ideen entwickeln. Wenn sie nur das weiter tun, was schon da ist, gibt es keinen Grund, ein neues Unternehmen zu gründen. Ich glaube, dass dieser kreative Teil von Unternehmertum für mich am attraktivsten war und auch meine Fähigkeiten am meisten gefordert hat.
DW: Würden Sie auch sagen, dass es Ihre Leidenschaft ist, etwas auf der Welt zu verändern?
AWS: Ja klar, wozu ist man hier, wenn man nichts verändern will? Man will doch einen Fußabdruck hinterlassen. Ich habe zu meinem Geburtstag einen Brief von Hasso Plattner bekommen. Darin schrieb er: „Wir beide haben das Wissen der Welt etwas bereichert.“ Wenn ich dazu beitragen konnte, dann ist es das, was mir die größte Befriedigung gibt.
DW: Ich glaube, es ist auch schon mehr als beachtlich, was Sie erreicht haben. Und vermutlich hat auch genau dieses Miteinander aus Wissenschaft und Unternehmertum sehr stark dazu beigetragen. Wenn Sie nochmal zurückgehen: Als Sie das erste Unternehmen, die IDS Scheer, gründet haben, würden Sie aus heutiger Sicht sagen: Das war reine Kopfsache oder eher eine Herzensangelegenheit?
AWS: Es war sicher beides. Vorher hatte ich fast zehn Jahre lang brav als Universitätsprofessor gearbeitet, Vorlesungen gehalten und meine Bücher geschrieben. Ich habe dann gemerkt, dass ich eben nur immer bis zum Prototypen in der Forschung gekommen bin, und konnte nie sicher sein, dass die Ideen, die ich zusammen mit meinen Assistenten entwickelt hatte, hinterher in der Praxis wirklich funktionieren würden. Dazu braucht man Produkte, die in der Praxis eingesetzt werden. Ich hatte bis dahin zwar schon Kontakt zur Praxis gehabt, aber da habe ich auch immer nur Papier erzeugt, also Gutachten geschrieben oder irgendwelche Vorschläge gemacht. Aber ich konnte nie sicher sein, dass diese auch umgesetzt werden. Und das waren die Anstöße zu sagen: Ja, verdammt nochmal, wenn ich da nicht weiterkomme, dann muss ich eben den nächsten Schritt gehen. Aus der Forschung in die Umsetzung hinein. Und dazu braucht man ein Unternehmen.
DW: Gründung ist momentan auch in der Politik so etwas wie „the golden bullet“, also die goldene Kugel, mit der man alle Probleme zu erschlagen versucht. Jetzt wissen Sie vermutlich aus eigener Erfahrung, dass das nicht ganz so einfach ist. Wenn ein junger Gründer zu Ihnen kommt und sagt: „Was müsste ich denn machen, um Erfolg zu haben?“ Was würden Sie ihm aus Ihrer Erfahrung heraus raten?
AWS: Das Erste wäre, und das finde ich im Augenblick auch an der Gründungsszene nicht gerade sympathisch, dass er nicht nur auf das Geld gucken sollte. Es gibt dort Haie, die investieren und eigentlich nur das Ziel haben, dieses Geld sehr schnell zu vermehren. Unabhängig davon, was hinterher mit dem Unternehmen passiert. Wenn ich in Start-ups investiere, gucke ich bei den Personen genau hin. Wem glaube ich, dass er mit dem Herzen dabei ist, eine Idee zu realisieren? Oder wer hat nur das Ziel, möglichst schnell etwas aufzubauen, um es dann weiterverkaufen zu können? Es ist natürlich nicht unbedingt so, dass man sagen kann, dass dieser zweite Weg ganz falsch sei, aber aus einer unternehmerischen Perspektive würde ich diese Akteure doch sehr kritisch betrachten.
DW: Wenn Sie in die Vergangenheit und in die Gegenwart blicken, gab und gibt es Situationen, in denen Sie an Ihre Frustrationsgrenze gestoßen sind? Wenn ja, wie gehen Sie damit um?
AWS: Ich bemühe mich natürlich, den Kopf immer oben zu behalten. Ich versuche, die Situation zu analysieren. Man muss sehen, dass viele Situationen einfach auf einen zukommen, die man gar nicht beeinflussen kann. Also wenn eine besondere Börsenbewegung entsteht, wie das Platzen der Internetblase im Jahr 2000 oder dann 2008/2009 nochmal mit der Finanzkrise. Das hat man nicht selber zu vertreten, sondern das passiert unabhängig von einem. Man ist nur dafür verantwortlich, dass man in so einer Situation richtig handelt. Und deswegen ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu haben, möglichst emotionslos die Dinge zu betrachten, um sich dann auch richtig zu verhalten. Das ist aber leichter gesagt als getan: „Emotionen beiseite zu schieben“. So ganz gelingt einem das nicht, weil man Emotionen auch braucht. Wenn ich völlig kalt wäre, könnte ich Mitarbeiter nicht motivieren oder begeistern, könnte ich auch Kunden nicht überzeugen. Das heißt also, man muss das Gleichgewicht zwischen Emotionalität und Analysefähigkeit in sich selber austarieren. Das ist, glaube ich, eine sehr große Herausforderung, die man als Unternehmer bewältigen muss.
DW: Ich glaube, einer der größten oder der bewegendsten Momente war sicher im Jahr 2009 der Verkauf der IDS Scheer an die Software AG. Als sie damals die Unterschrift geleistet haben und klar war, dass es kein Zurück mehr gibt: Wie haben Sie in der Nacht geschlafen? Wie war die Gefühlswelt, als Sie aufgewacht sind?
AWS: Ja, das war mit Sicherheit ein großer Einschnitt, und die Situation verfolgt mich eigentlich noch immer. Und das unterscheidet mich, glaube ich, auch ein bisschen von diesem anderen Vorgehen, dass man Unternehmen gründet, um sie gut verkaufen zu können.
Die Vision war damals, durch den Zusammengang mit der Software AG ein zweites großes internationales IT-Unternehmen in Deutschland zu entwickeln, das sofort einen Sprung auf eine Umsatzgrenze von über eine Milliarde machen würde. Auch die Produkte passten sehr gut zueinander. Mit dem Aris-Produkt hatten wir die betriebswirtschaftliche Ebene, wie man Prozesse gestaltet, wie man sie von der fachlichen Seite optimiert, und von der Software AG gab es eben Produkte der Middleware, mit denen die Prozesse umgesetzt werden. Das war also auf dem Papier eine sehr gute Vision. Leider hat diese Version nicht geklappt. Das Aris-Produkt war bei der Software AG ein Produkt unter vielen und bekam nicht die nötige Fokussierung. Das hat dann Platz gegeben für neue Konkurrenten, die sich in den letzten 10 Jahren etablieren konnten. Das heißt, wir haben dadurch bei unseren eigenen Ideen Platz gelassen für neue Anbieter.
DW: Wie würden Sie denn aus heutiger Sicht entscheiden, mit dem Wissen, das Sie heute haben? Würden Sie nochmal verkaufen?
AWS: Die Situation war damals so, dass ich verkaufen musste, und zwar nicht aus wirtschaftlichen Gründen, sondern wegen der Angebote, die man nicht ablehnen konnte. Das klingt zwar nach Mafiafilm, aber so dramatisch war es natürlich nicht. Bei meiner Analyse und Entscheidung musste ich allerdings an das gesamte Umfeld denken. Wie ist es für die Mitarbeiter, den Bestand des Unternehmens, die Aktionäre? Aus diesen Kriterien heraus war es die richtige Entscheidung.
DW: Sie haben mit Aris das geschafft, wovon viele in der Wissenschaft träumen. Das heißt, eine Idee, die in einem akademischen Umfeld entstanden ist, erfolgreich zu einem internationalen Produkt zu entwickeln und dieses zu kommerzialisieren. Was würden Sie sagen, ist das etwas, das wiederholbar ist?
AWS: Natürlich kann man das wiederholen, und wir haben auch im Augenblick tolle Beispiele, wenn Sie nur an BioNTech denken. Auch dort ist die Idee aus einem Forschungsprojekt entstanden. Aber es müssen dafür die Power und der Wille da sein, solche Ergebnisse unternehmerisch umzusetzen. Und das ist in Deutschland noch zu gering. Das liegt, glaube ich auch an dem Typus Wissenschaftler, den wir hier erziehen. Nicht die deutsche Betriebswirtschaftslehre hat die Welt bestimmt, sondern die Praxis und auch die Softwarehäuser, die der Praxis gefolgt sind.
DW: Software ist ein schönes Stichwort, weil sich da gerade sehr große Veränderungen abzeichnen. Wir hatten in den 80er Jahren bis in die 90er rein klassisch-funktional ausgerichtete Software-System-Applikationen, die sich an den einzelnen Abteilungen orientierten. Dann kam die große Welle mit den ERP-Systemen, wo Software integriert wurde. Das große Schlagwort waren damals die Informationssysteme, die bis in die Dotcom-Zeit Bestand hatten. Mit der Plattform-Ära haben wir dann nochmal eine sehr starke Zentralisierung erlebt und erleben jetzt mit dem Einzug des Cloud-Zeitalters eine vollständige Funktionsorientierung. Provokativ gefragt: Haben wir die letzten 20 Jahre verloren?
AWS: Nein. Ich glaube, dass von der Prozessorganisation und dem Integrationsbedarf noch sehr viel übrig bleiben wird. Auch wenn ich isoliert ein Vertriebssystem einführe, brauche ich die Integration in die Buchführung und auch in die Produktion hinein, um den Auftrag bearbeiten zu können. Das heißt, diese inhaltliche Integration ist ja weiterhin da, wird durch die Logik der betriebswirtschaftlichen Prozesse begründet und nicht durch Technologie. Aber natürlich hat sich auch die Entwicklung weiterbewegt, wie ich integrieren kann, ob ich das unbedingt über eine einheitliche Datenbank machen muss oder auch durch ein API-Management.
DW: In Ihrer Zeit als Bitkom-Präsident haben Sie den Satz geprägt: “Weniger Villa Hügel und mehr Silicon Valley“. Und das ist eingetreten, vielleicht ein bisschen später als Sie es sich gewünscht hätten, aber wenn Volkswagen jetzt zu postulieren beginnt, dass es ein Software-Unternehmen werden möchte, ist das genau diese Entwicklung. Sehen Sie das mit Genugtuung oder eher mit Bedauern?
AWS: Mit Bedauern natürlich nicht. Mit Genugtuung schon eher. Aber ich bin eigentlich nicht der Typ, der sich ständig auf die Schulter klopft und sagt: „Ja, da hab ich recht gehabt.“ Sondern eher: „Was soll‘s!“ Der Satz zu Villa Hügel bezog sich darauf, dass wir ein großes Exportland sind, dass wir die Industrialisierung mit anführen. Aber wir haben eben die neue Welt nicht mit angeführt. Die Digitalisierungsunternehmen sitzen woanders.
Die Software hat die Hardware übernommen. Das müssen jetzt die Maschinenbauer, die Elektrounternehmen und die Automobilunternehmen lernen, wie wichtig Digitalisierung ist. Aber das ist leichter gesagt als getan.
DW: Wie sehen Sie den zukünftigen Trend? Glauben Sie, dass die Dominanz auf der Software-Seite, also einer SAP aus der IT-Branche, sein wird? Oder diffundiert das jetzt immer mehr in die „klassischen“ Unternehmen? Wird der Digitalchampion 2035 ein Volkswagen sein?
AWS: Oder es kommen neue Unternehmen. Das Dritte könnte der Content sein. Man muss vom Nutzen des Kunden ausgehen. Hardware hat bereits einen gewissen Nutzen. Aber eigentlich funktioniert sie nur, wenn eben auch die Software läuft. Das heißt, selbst in einem ganz normalen Automobil sind heute dermaßen viele Computer eingebaut. Und wir sehen, wenn die Software nicht fertig ist, dann stehen plötzlich die Autos auf der Halde, können nicht exportiert oder verkauft werden, weil sie nicht funktionsfähig sind. Also dort ist die Bedeutung der Software definitiv wahnsinnig gestiegen.
Aber wir müssen weiter an den Content denken, gerade in Richtung des Infotainment, was das Internet im Wesentlichen bieten kann. Hier kann man Dienste benutzen, um etwas zu kaufen, sich unterhalten zu lassen, sich informieren zu lassen oder zu arbeiten. Der Content spielt eine immer größere Rolle. Das heißt also, die dritte Welle, die jetzt anlaufen könnte, wäre das Content-Angebot. Welche Unternehmen überleben auf Dauer? Die Hardware-Produzenten haben sicher noch ihre Berechtigung. Nur langfristig glaube ich, dass Software und Content dominieren werden und das Auto dann von der materiellen Seite einfach zum „Me too“-Produkt wird.
DW: Zum Schluss noch einmal zum Menschen August-Wilhelm Scheer. Sie haben in einem anderen Zusammenhang gesagt, dass Beethoven seine Sinfonien nicht im Team geschrieben hat. Gleichwohl ist man sowohl als Unternehmer als auch als soziale Person natürlich umgeben von anderen Menschen. Wie würden Sie sich selbst in Ihrem Leadership beschreiben? Sie haben viele Unternehmen geführt. Was war für Sie da immer das Wichtigste?
AWS: Der zitierte Satz ist ein bisschen eine Provokation. Mir wird der Teamgedanke teilweise überzogen dargestellt. Nicht immer ist derjenige, der in einem Team das große Wort schwingt, auch derjenige mit den besten Ideen. Manchmal ist auch derjenige, der still im Hintergrund ist, der wichtigste. Und für einen Leiter ist es ganz wichtig, in einem Team die Beiträge der Einzelnen wirklich zu beurteilen. Man muss deshalb auch diejenigen fördern, die etwas zurückhaltender wirken. Die Bedeutung von Individuum und Team zeigt auch unsere eigene Industrie. Wir haben die „Beethovens“ mit Bill Gates, Steve Jobs und Mark Zuckerberg, die die Welt verändert haben. Wir reden nicht vom Team Mark Zuckerberg, auch nicht vom Team Bill Gates oder Team Steve Jobs. Aber man braucht auch die Mitstreiter und Umsetzer, die sich von der Vision begeistern lassen. Also man braucht beides. Man braucht die Einzelnen, die Visionen haben, die den Ball mal weit nach vorne werfen auch mutig sind dranzubleiben, aber auch diejenigen, die mitziehen.
DW: Eine abschließende Frage: Welche Eigenschaft haben Sie an sich immer vermisst, hätten Sie gern gehabt?
AWS: Ich hätte gerne ein besseres musikalisches Gedächtnis. Ein fotografisches Gedächtnis muss es nicht gerade sein. Aber so muss ich mir viele musikalische Fähigkeiten hart erarbeiten.