„Wir sind immer noch der Industriealisierer der Welt“
Im Gespräch mit Sigmar Gabriel, Mitglied des Deutschen Bundestages
Kurz und bündig
Ex-Bundesminister Sigmar Gabriel sieht in der Digitalisierung viele Chancen, die nicht verpasst werden dürfen. Dazu sei es notwendig zu lernen, mehr in die Zukunft und nicht nur in die Gegenwart zu investieren. Das gilt für die traditionelle wie auch für die digitale Infrastruktur. Bildung und Qualifizierung sieht er dabei als wesentliche Schlüssel zum Erfolg.
Die Bundesregierung hat Mitte November 2018 beschlossen, die Digitalisierung über massive Investitionen voranzutreiben. Staatliche Gelder sollen am Ende vergleichbare Investitionen aus der Wirtschaft generieren. Wo stehen wir in Deutschland wenn es um die Automatisierung von Produktion und Dienstleistung geht und wieviel Innovationskraft hat die deutsche Wirtschaft? Darüber haben wir mit dem ehemaligen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel gesprochen, der heute neben seinem Bundestagsmandat auch alsJournalist auf Recherchetouren Impressionen aus Wirtschaft, Verwaltung und Forschung sammelt.
IM+io: Glaubt man der jüngsten Studie von Ernst&Young zur Digitalisierung im deutschen Mittelstand, so wird in diesem Marktsegment die Digitalisierung als Chance verstanden. Andererseits hört man aus der Politik und Verbänden, der Mittelstand müsse bei diesem Thema stärker unterstützt werden, weil er sonst den Anschluss verliere. Kann der Mittelstand in einer von neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz (KI) geprägten Wirtschaft weiterhin als konjunkturelle Zugmaschine fungieren?
SG: Er muss es sogar, sonst wird er in einer globalen, datengetriebenen Wirtschaft keine Chance haben. Tatsache ist, dass die deutschen Mittelständler beim Thema Digitalisierung sehr aufgeholt haben in den letzten fünf Jahren. Es ist noch nicht so lange her, da beantworteten weit mehr als die Hälfte der Unternehmen z.B. im Maschinenbau, dass die Digitalisierung bei Ihnen nicht zum Kerngeschäft gehöre. Das hat sich durch viel Aufklärungsarbeit aber auch eine große Zahl an Förderungsmöglichkeiten Gott sei Dank geändert.
IM+io: Es ist immer wieder zu hören, dass uns die Mischung von Großindustrie und Mittelstand auch im Bereich IT stark macht. Ist das Wunschdenken oder trifft es die Realität?
SG: Deutschland und auch Europa werden keine Chance haben, ein zweites Google oder Amazon aufzubauen. In diesen Sektoren sind uns die fünf amerikanischen Datenkonzerne inzwischen zu weit voraus. Wir aber sind immer noch der Industriealisierer der Welt und können das auch im Zeitalter von Industrie 4.0 bleiben. Und der Trend zur Industriealisierung wird sich ja weiter fortsetzen, denn das ist ja nichts anderes, als die Fähigkeit, Güter so oft zu reproduuzieren, dass sie preiswerter werden. So preiswert, dass sich das möglichst viele Menschen leisten können. Das wollen Milliarden von Menschen erreichen, die heute noch weit entfernt sind von unserem Wohlstand. Wir werden das gewiss mit anderen Rohstoffen und anderen Technologien machen müssen, weil unser Planet bereits heute überlastet ist. Exakt das ist aber die Chance eines Technologieführers wie Deutschland. Und das sind bei uns eben nicht nur einige große Konzerne, sondern tausende mittlere und kleinere Betriebe, die hochgradig forschungsintensiv sind, global tätig und in denen langfristig investiert wird, weil sie im Familienbesitz sind. In einer datengetriebenen Ökonomie allerdings werden wir mehr beherrschen müssen, als die Fortentwicklung der Robotik, der Automatisierungsprozesse mittels Künstlicher Intelligenz, 3D-Druck oder E-Mobility. Neben den Produkten und Prozessen müssen wir auch die Plattformen beherrschen, die den Innovationsdruck vorantreiben und Wertschöpfung vom Produkt auf die Datenplattform ziehen. Die Wertschöpfungsketten ändern sich dramatisch und schnell. Ein Auto bauen zu können, wird in Zukunft nicht ausreichen. Man muss auch die Mobilitätsplattformen beherrschen, sonst ist das Automobil schnell ein Commodity.
IM+io: Renommierte Forscher wie Prof. Dr. Wolfgang Wahlster sehen Deutschland in der KI dann langfristig vorne, wenn es gelingt, konkrete Anwendungsfälle erfolgreich in der Praxis zu etablieren. Wie offen ist die deutsche Wirtschaft hier für Experimente?
SG: Ich kann ja nicht für „die deutsche Wirtschaft“ sprechen, dazu ist sie viel zu vielfältig. Mein Eindruck aber ist, dass die Offenheit auch für Experimentierfreude sehr gewachsen ist – im Feld der KI und der Digitalisierung. In meiner Zeit als Wirtschaftsminister haben wir regionale Experimentierzentren dafür in Zusammenarbeit mit Wissenschaft und Wirtschaft aufgebaut, damit Mittelständler dort das ausprobieren können, was sie später vielleicht im eigenen Unternehmen machen werden. Das wurde und wird gut angenommen.
IM+io: Die Chancen der Digitalisierung eröffnen sich unmittelbar im Maschinen- und Anlagenbau durch neue Geschäftsmodelle mit Smart Services und Smart Production. Dem gegenüber stehen gleichzeitig harte globalen Herausforderungen durch zunehmenden Protektionismus und politische Instabilität. Was bedeutet das für den Standort Deutschland?
SG: Die globalen Fragen hängen natürlich davon ab, ob es den liberalen Demokratien gelingt, die autoritären Angriffe auf den Welthandel und die regelbasierte Ordnung der Märkte aufrecht zu erhalten. Das wird sehr davon abhängen, ob Menschen sie als effizient und vor allem als fair empfinden. Was wir heute erleben, ist oft das Entstehen von dauerhaften Gewinnern und dauerhaften Verlierern in der Globalisierung. Das ist Öl ins Feuer der Gegner freier Märkte. Welche sozialen Spielreglen sind wir bereit und in der Lage in der Welt durchzusetzen: davon wird viel abhängen.
Was unsere eigenen nationalen Fähigkeiten angeht, bin ich dabei sehr optimistisch. Man muss zuerst darauf schauen, welchen Bedingungen unser Land seinen Aufstieg verdankt. Vier Elemente scheinen mir dabei historisch besonders wichtig gewesen zu sein: Zum Einen der hoch innovative und weltweit aktive und erfolgreiche Mittelstand. Dann das Vorhandensein qualifizierter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern auf allen Ebenen. Zum Dritten eine gut funktionierende und staatlich getragene Infrastruktur. Und nicht zuletzt verdanken wir unseren Aufstieg dem sozialen Frieden in Deutschland. Noch nämlich wird in diesem Land mehr Zeit für überflüssige Grußworte verschwendet als für Streiks (lacht).
Wenn es uns gelingt, diese Grundlagen unseres Erfolges zu erneuern und auf höherem Niveau weiter zu entwickeln, mache ich mir keine allzu großen Sorgen. Allerdings: das muss man auch aktiv tun. Wir sind stolz auf unseren Forschungsanteil am Bruttoinlandsprodukt von zwei Prozent, weil alle anderen in Europa dieses Ziel nicht erreichen. Unsere Wettbewerber aber sitzen in Südost-Asien und investieren vier oder sogar fünf Prozent. Wir müssen also lernen, mehr in die Zukunft und nicht nur in die Gegenwart zu investieren. Das gilt auch für die traditionelle und die digitale Infrastruktur. Bildung und Qualifizierung sind bei uns oft noch zu statisch und Weiterbildung wird vom Staat erst gefördert, wenn man arbeitslos ist. Besser wäre es, die Qualifizierung im Job zu ermöglichen, bevor man ihn verliert. Also eine Arbeitsversicherung statt einer Arbeitslosenversicherung. Überhaupt stellt die Digitalisierung und Plattformisierung unsere traditionellen sozialen Sicherungssysteme vor eine enorme Herausforderung. Die bauen nämlich immer noch auf einem klassischen und mehr als hundert Jahre alten Arbeitnehmerbegriff auf und knüpfen an die Lohnquote an. In Zukunft werden aber immer mehr Beschäftigungsformen entstehen, die exakt diese Anknüpfung schwer machen. Es gibt eine Entbetrieblichung der Arbeit. Wo knüpfen unsere sozialen Sicherungssysteme in Zukunft an? Wie flexibilisieren wir die starren staatlichen Regulative im Arbeitsrecht, ohne dass wir dabei allen Schutz für die Beschäftigten aufgeben, die in 150 Jahren erkämpft wurden? Wie sichern wir also den sozialen Frieden in Zukunft? Die Erfolgsbedingungen unseres wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegs sind also prinzipiell durchaus auch in Zukunft ähnlich. Aber wir werden sie mit anderen Instrumenten und auf anderen Wegen sichern müssen.
IM+io: Wenn Menschen gemeinsam mit Robotern in der Produktion arbeiten, ist es im besten Sinne des Wortes offensichtlich, wie sich die Arbeitswelt verändert. Wie aber verändert sich die Arbeit im Dienstleistungssektor durch Softwareroboter und Sensorik?
SG: Die Vorteile der Sensorik, der Bildgebung und Diagnose scheinen mir ohnehin sehr einsichtig. Ansonsten bin ich bin relativ sicher, dass auch in den personenbezogenen Dienstleistungen die stark repetitive Tätigkeiten und vor allem die Datenerfassung, etwa von Krankheits-, Pflege- und Behandlungsdaten automatisiert wird. Der unmittelbare Kontakt zum Menschen wohl eher nicht. Das ist auch gut so.
IM+io: Sie haben im Oktober mehrere Wochen am Zentrum für Europäische Studien der Harvard Universität verbracht. Wie sieht dort der Blick von außen auf die europäischen und deutschen Digitalisierungsanstrengungen aus?
SG: Dort, wie auch an vielen deutschen und europäischen Forschungseinrichtungen, wird weniger in nationalen oder regionalen Kategorien gedacht. Sie sitzen dort oft in Diskussionen mit Studierenden, von denen die Minderheit Amerikaner sind. Deutsche, Briten, Spanier, Chinesen, Inder, Lateinamerikaner und viele andere mehr arbeiten dort wie selbstverständlich zusammen. Es wird auf internationale Forschung geschaut und auf die industrielle Praxis, und da hat Deutschland nach wie vor einen guten Ruf. Zu Recht!