„Am Anfang hatten alle den Schrecken in den Knochen ...“
Wie Schule den Lockdown gemeistert hat
Im Gespräch mit Sabine Groher
Kurz & Bündig
Am 16. März 2020 gingen in Hessens Schulen die Lichter aus beziehungsweise gar nicht mehr an. Der Corona-Lockdown verlangte von Lehrern und Schülern von jetzt auf gleich neue Formen der Fernbeschulung, und das so digital wie möglich. Über ihre Erfahrungen aus der Praxis haben wir mit Oberstudienrätin Sabine Groher gesprochen.
Mit dem Lockdown im Frühjahr 2020 ist der digitale Notstand an den meisten Schulen in Deutschland mehr als deutlich geworden. Lehrer und Schüler mussten improvisieren, um zumindest so etwas Ähnliches wie Unterricht aufrechtzuerhalten. Sicher sind die Erfahrungen einzelner Lehrer auch von der individuellen Situation geprägt, und doch geben sie einen Einblick in die Herausforderungen. Im Gespräch mit Sabine Groher, Oberstudienrätin am Ulrich-von-Hutten-Gymnasium in Schlüchtern, ging es um die tatsächliche Praxis im gelebten pädagogischen Corona-Alltag.
IM+io: Frau Groher, Sie haben rund 30 Jahre pädagogische Erfahrung als Lehrerin für Französisch und Religion und damit auch den Blick auf den Wandel pädagogischer Formate. Welche Rolle haben digitale Angebote vor der Corona-Krise im Schulalltag gespielt?
SG: Der Normalfall war immer der Präsenzunterricht. Dort haben wir natürlich mit digitalen Medien gearbeitet. In jedem Klassenraum steht ein Laptop und ein Beamer mit Internetzugang, sodass wir auch dort auf Medienangebote zugreifen konnten. Schülern der Oberstufe, die ja alle viel online sind und auch zu Hause Zugang zum Internet haben, habe ich auch gelegentlich Hausaufgaben gestellt, die sie mithilfe von Recherchen in digitalen Medien erledigen sollten. Zudem war auch schon vor Corona an unserer Schule ein Projekt im Aufbau begriffen, nach dem jeder Schüler und jede Schülerin eine schulische E-Mail-Adresse haben sollte, über die er/ sie erreichbar ist. Das wurde dann noch einmal mit großem Nachdruck verfolgt, als sich der Lockdown abzeichnete. Vor diesem 16. März 2020 wurden dann erneut Listen herumgereicht und kontrolliert, ob die Zugangsdaten stimmen, damit alle Schüler und Lehrer über Outlook erreichbar sind. Damit war dann zugleich auch ein Zugang zur Videoplattform Teams gewährleistet.
IM+io: Wie ging es dann ab jenem 16. März weiter?
SG: Am Wochenende vorher verkündeten die Bundesländer nach und nach (inklusive Hessen), dass die Schulen ab Montag geschlossen sein würden. Wir hatten nun die E-Mail-Adressen der Schüler und mussten irgendwie zusehen, wie es weitergeht. Ich habe dann, wie viele andere Lehrer aus dem Kollegium auch, alle Schüler, die ich an diesem Montag im Unterricht gehabt hätte, angeschrieben und ihnen über E-Mail Aufgaben gestellt. Dahinter lag der Gedanke, den Stundenplan abzubilden. Die jüngeren und damit auch schon eher digital ausgebildeten Kollegen sind dann relativ schnell auf Teams gewechselt, aber das war den Schülern vorher nicht erklärt worden, und daher wussten viele nicht, wie das funktioniert. Andere haben es mit Moodle versucht, andere mit One Note. Das gab für die Schüler dann auch eine gewisse Unübersichtlichkeit.
Ich selbst habe immer wieder meine Schüler um Rückmeldung gebeten, ob der von mir praktizierte Kontakt über E-Mail funktioniert und habe gesagt bekommen, das sei sehr übersichtlich, man verstehe die Aufgabenstellung und wisse verlässlich, bis wann was erledigt werden müsse und wo es einzureichen sei. Für mich war das natürlich eine Flut von E-Mail- Eingängen, die ich mir dann in Gruppen sortiert habe, um sie systematisch abzuarbeiten. Ich habe meinen Schülern immer Fristen gesetzt und versucht, jedem Schüler, wenn auch nicht jedes Mal, eine persönliche Rückmeldung zu geben. Beim Feedback habe ich dann auch, wo immer es ging, ein Lösungsblatt dazugegeben.
IM+io: Das funktioniert sicher eher beim Wiederholen von Stoff ...
SG: Ja, das stimmt. Ich habe ziemlich schnell gemerkt, dass die Art von Unterricht, wie ich ihn in der Präsenzform gehalten habe, so nicht funktioniert. Ich musste ja neue Inhalte vermitteln. Wie erkläre ich, zum Beispiel in Französisch, einen neuen Grammatikinhalt? Das kann ich ja nicht so machen, als hätte ich die Schüler tatsächlich vor mir. Also habe ich für mich selber ausprobiert, wie ich schrittweise interaktiv auf einem Arbeitsblatt das Thema aufbauen kann. Ich habe dann immer wieder bei den Schülern Feedback eingeholt und nachgefragt, wie es am besten für sie passt. An meine Arbeitsblätter habe ich zum Beispiel Evaluierungsblätter angehängt, um dieses Feedback einzuholen. So konnte ich die Vorgehensweise zunehmend verfeinern.
IM+io: Und die Schüler sind dem Rhythmus gefolgt?
SG: Am Anfang hat das alles sehr gut funktioniert, weil alle irgendwie den Schrecken in den Knochen hatten und keiner wusste, wie es weitergeht. Das hat im Laufe des Halbjahres dann aus verschiedenen Gründen nachgelassen. Einer liegt darin, dass unser Kultusminister unglücklicherweise früh verkündet hat, dass alles, was in der schulischen Lockdown-Phase geleistet wurde, nicht in die schulischen Noten eingehen darf und dass niemand die Klasse wiederholen muss. Das hat bei vielen Schülern den Stecker gezogen. Und mit zunehmender Dauer, in der wir uns nicht gesehen haben, wurde auch alles etwas unpersönlicher. Ich bilde mir nicht ein, dass jeder Schüler im Präsenzunterricht immer zuhört und jeder immer seine Hausaufgaben macht. Also kann ich per E-Mail auch keine Vollständigkeit verlangen. Aber in vielen Kursen hat dieser E-Mail-Unterricht über weite Strecken gut funktioniert. Bei meiner eigenen Klasse, für die ich ja nochmal eine größere pädagogische Verantwortung habe, bin ich fehlendem Feedback sehr konsequent nachgegangen bis zu dem Punkt, wo ich mit den Eltern Kontakt aufgenommen habe.
IM+io: Haben Sie unterschiedliches Engagement bei verschiedenen Schulfächern wahrgenommen?
SG: Französisch ist ein Hauptfach, da haben sich die Schüler schon reingehängt, weil sie ja auch nicht wussten, wann der Präsenzunterricht wieder losgehen würde, und da wollte niemand den Anschluss verpassen. In Religion war die Differenz zum Präsenzunterricht größer. Zum einen waren viele Lehrerkollegen der Auffassung, dass man Religionsunterricht so nicht durchführen könne, denn dieser lebt in hohem Maße von der Interaktion im Klassenraum. Zum anderen klagten alle über die Vielzahl der Hausaufgaben in den Hauptfächern, sodass man keine zusätzlichen Belastungen schaffen wollte. Ich selbst habe das etwas anders gesehen. Es ist richtig, dass man manche Themen wirklich so nicht behandeln kann, also habe ich Teilbereiche ausgesucht, die zum Beispiel etwas mit der Tagesaktualität zu tun hatten. In einer 10. Klasse habe ich die Schüler einen Erfahrungsbericht darüber schreiben lassen, wie es ihnen und ihrem Umfeld mit der neuen Lock-down-Erfahrung geht. Das ist nicht unmittelbar Religion, aber es bedeutet, das Leben zu bedenken und zu beleuchten. Dazu habe ich dann erfreulich gute Beiträge erhalten. Eine andere Frage war: Was ist Kirche im Lockdown, recherchiert mal in euren Kirchengemeinden und auf der Webseite des Bistums. In einer Oberstufenklasse habe ich darum gebeten, sich ein spezifisches Buch aus der Bibel vorzunehmen und, einem Aufgabenzettel folgend, verschiedene Erkenntnisse zu sammeln. Diese sollten dann in Form eines Referates auf PowerPoint-Folien zusammengestellt werden. Teile der Referate wurden dann auch wirklich gehalten, indem wir zwei MS-Teams-Konferenzen dafür abgehalten haben. Das wurde von den Schülern sehr positiv angenommen.
IM+io: Wo war der Punkt, wo Sie sich tatsächlich mit Konferenzplattformen, in diesem Fall mit Teams, befasst haben?
SG: Ich habe Teams nie für das Hochladen von Aufgaben oder deren Korrekturen verwendet. Nach einem Webinar von Microsoft wusste ich, wie das geht, aber es gab einen Hinweis der Schulleitung, dass es für Hessen bereits ein Schulportal gebe, das zwar im Aufbau begriffen, aber durchaus schon funktionsfähig sei. Es solle kontinuierlich ausgebaut werden und alle Kontakte mit den Schülern sollten künftig über dieses Portal erfolgen. Da die E-Mail-Kommunikation ja funktionierte, wollte ich keinen Teams-Zwischenschritt machen, wenn doch in Kürze das Schulportal zur Kommunikation dienen sollte. Teams mit seinen anderen Tools habe ich dann für Videokonferenzen genutzt. Dafür habe ich mir selbst eine Schritt-für-Schritt-Anleitung geschrieben und die auch den Schülern zur Verfügung gestellt. Das hat gut funktioniert. So konnte ich etwa Videokonferenzen mit meiner Schülerin abhalten, die für das mündliche Abitur in Französisch vorbereitet werden musste und die Sprachpraxis dringend brauchte. Sie hat dann auch eine perfekte mündliche Prüfung hingelegt.
IM+io: Noch vor den Ferien gab es dann wieder eine Phase mit Präsenzunterricht ...
SG: Am 18. Mai kamen nach und nach die Klassen wieder zurück in die Schule. Ein bis zwei Tage in der Woche, sodass maximal ein Drittel am Präsenzunterricht teilnahmen. Das war eine Phase des Hybridunterrichts. Im Präsenzunterricht konnten wir in den kleinen Klassen mit 15 Schülern sehr effizient arbeiten. Aber es gab eben auch immer Phasen, in denen diese Schüler wieder online beschult werden mussten. Allerdings haben dann die Schüler das, was sie im Präsenzunterricht gelernt und an Hausaufgaben bekommen haben, ernster genommen als das, was sie per E-Mail erhielten.
IM+io: Aktuell befinden Sie sich in der zweiten Woche des Unterrichtsjahres 20/21 ...
SG: Alle Schüler sind wieder da, mit normalen Stundenplänen. Es herrscht also – unter Hygie- neauflagen – Normalität. Allerdings sind alle mit Blick auf die Digitalisierung in Alarmstimmung, denn es kann ja immer sein, dass durch Infektionen eine ganze Klasse oder ein Lehrer nicht kommen kann. Deswegen wurde vor den Sommerferien beschlossen, dass wir auf dem Schulportal Hessen, das unsere Plattform für die gesamte schulische Kommunikation werden soll, für bestimmte Jahrgänge und nach und nach für alle das Klassenbuch dort digital führen. Ein digitales Klassenbuch beinhaltet Anwesenheitslisten und auch die Information, was im Unterricht behandelt wurde und was die Hausaufgaben sind. Es können dort auch Arbeitsblätter hinterlegt werden. Ich versuche, meine Schüler jetzt daran zu gewöhnen, dass sie sich das regelmäßig ansehen und kontrollieren, ob sie alles richtig notiert haben. Es wäre bereits möglich, dass die Schüler dort ihre Hausaufgaben hochladen. Das ist bis dahin die Digitalisierung von Analogem, kann aber weitergeführt werden mit digitaler Pädagogik. Ich habe eine Weiterbildung für Moodle gemacht, das Tool ist per Kachel ins Schulportal integriert. So könnte ich zum Beispiel visuelle oder auditive Medien einstellen, Audio-Konferenzen initiieren, mit dem Kurs chatten oder Tests durchführen.
Wie sieht es denn mit bereits vorgefertigtem E-Learning-Content aus?
SG: Noch ist es eher so, dass ich Tutorials, also Erklärvideos, die ich im Netz gefunden habe, meinen Schülern per Link zugänglich mache. Das geht sehr gut bei Grammatikthemen. Auch stehen uns verschiedene Medienportale zur Verfügung, aber dort ist nicht immer das zu finden, was ich brauche. Da ist noch Luft nach oben. Das Schulportal hat eine Kachel „digitale Fortbildung“, auch zum Erstellen von E-Learning-Content, aber dafür braucht man Zeit, und die ist jetzt im normalen Schulrhythmus knapp. Natürlich wäre es hilfreich, Zugang zu mehr auf bereitetem Material zu haben. Andererseits habe ich auch viel im Selbstlernprozess erarbeitet, denn ich musste mir ja in der Lockdown-Phase Gedanken machen, wie ich Inhalte passend umbaue.