„Strategie tut not und ist Chefsache“
Wichtige Treiber für die Hochschule 4.0
Ein Kommentar von Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer
Kurz & Bündig
Die Digitalisierung hat auch die Hochschulen erfasst, doch es besteht Nachholbedarf. Noch gibt es zu wenig strategische Konzepte, wie Hochschulen in Forschung, Lehre und Verwaltung unter Nutzung der Digitalisierung künftig arbeiten wollen. Hochschulen müssen sich strategisch neu positionieren, ihre Angebote und Prozesse verbessern, sagt Prof. Dr. August-Wilhelm Scheer.
Im Juli dieses Jahres stieß ich auf die Zeitungsheadline: „Wenn die Software die Aufsicht führt“. Im Beitrag ging es darum, dass in
Frankreich durch die Corona-Restriktionen an Universitäten Semesterprüfungen in weiten Teilen aus dem Homeoffice heraus abgelegt werden müssen. Die entsprechende Überwachungstechnik via Kamera im Laptop wirft dabei Fragen des Datenschutzes bzw. des Datenmissbrauchs auf. Auch die Frage der Chancengleichheit der Studierenden stand im Fokus, hat doch nicht jeder einen modernen Laptop zu Hause, geschweige denn leistungsstarkes W-LAN. Eine vergleichbare Lage finden wir auch in Deutschland. Diese Themen sind zweifelsfrei wichtig. Dennoch beunruhigt es mich, dass die Diskussion um die Digitalisierung von Hochschulen sich im Sommer ebenso wie heute, am Ende des Jahres, vorrangig um die Themen Hardware, Kommunikationstools, Netzverfügbarkeit und Datenschutz dreht. Dies sind alles wichtige Herausforderungen, aber selbst wenn wir diesen perfekt begegnen könnten, wären wir noch weit entfernt von der echten Hochschule 4.0. Denn diese braucht digitalisierte Prozesse auf allen Ebenen, sie benötigt Strategien, Technologien und E-Learning Contents.
Ja, die Digitalisierung hat unterdessen unstreitig auch die Hochschulen erfasst, insbesondere ihre Lehre. Aber es besteht enormer Nachholbedarf! Zwar gibt es Einzelinitiativen von Hochschullehrern und einige private Hochschulen mit Vorbildcharakter, was aber fehlt, sind schlüssige strategische Konzepte, wie Hochschulen in Forschung, Lehre und Verwaltung unter Nutzung der Digitalisierung künftig arbeiten wollen.
Die technischen Entwicklungen von Internet, Cloud-Computing, Big Data, Smartphones usw. ermöglichen Hochschulen, sich strategisch neu zu positionieren sowie ihre Angebote und Prozesse zu verbessern. Dies ist nicht zuletzt aus Wettbewerbsgründen notwendig: In der Wirtschaft entstehen digitale Corporate Universities, internationale Hochschulen oder auch digitale Start-up-Universitäten, die sich als neue Konkurrenten positionieren.
Wichtig ist nun, dass die wesentlichen organisatorischen und inhaltlichen Treiber der Digitalisierung erkannt und auch offensiv für den digitalen Wandel genutzt werden.
Positiv wirkt, dass neue Technologien die Akzeptanz für Digitalisierung erhöhen. Professionell erstellte multimediale Kurse mit Interaktion, Simulationsmodellen, Lernspielen, E- Books und der benutzerfreundliche Zugang über Apps und Smartphones treffen die Medienansprüche der neuen Studierendengenerationen und sorgen für ein positives Echo.
Die Digitalisierung schafft zudem Orts- und Zeitunabhängigkeit der Lehre. Studierende können von jedem Ort und zu jeder Zeit auf den Lehrstoff ihrer Universitäten zugreifen. Dies schafft Vereinbarkeit von privaten und beruflichen Aktivitäten mit dem Lernen. So können sie etwa während eines Auslandspraktikums weiter Vorlesungen ihrer Heimatuniversität „besuchen“.
Die Digitalisierung fördert die Personalisierung der Lehre. Beim E-Learning lassen sich Lerngeschwindigkeit und Lernformen individuell steuern. Der Lernende kann durch Wiederholungsmöglichkeiten und Nachfragen den Prozess verlangsamen oder durch Überspringen beschleunigen. Bei Lernformen kann er zum Beispiel zwischen Video, Text oder Gaming wählen. Gleichzeitig kann er sich über ein breiteres Angebot an Kursen quasi ein individuelles Studium entsprechend seinen Interessen und Begabungen zusammenstellen. Das Prinzip „fördern statt selektieren“ wird dadurch stärker unterstützt.
Wenn die Strategie stimmt, kann in der Hochschule 4.0 die Hochschullehre zum globalen Dorf werden. Studierende können neben dem Angebot der Heimathochschule auch auf Lerninhalte anderer Hochschulen zugreifen. Kooperationen zwischen Hochschulen ermöglichen die Anerkennung erworbener Leistungsnachweise. Hochschulen können damit ihr An- gebot durch Aufnahme fremder Inhalte ausweiten und gleichzeitig ihre Angebote auch für andere Einrichtungen öffnen.
Durch die Verlagerung von Faktenvermittlung in E-Learning-Systeme entstehen zeitliche Freiräume der Dozenten für persönliche Interaktionen mit den Studierenden. Damit wird dem Argument einer „Entmenschlichung“ der Lehre durch die Digitalisierung der Boden entzogen. Amerikanische Hochschulen erweitern ihre Lehre durch Rollenspiele, Diskussionsforen mit Künstlern und sogar durch Coachings. Der Dozent wird zum Moderator. Das heißt aber auch, dass der Dozent über Fähigkeiten jenseits des Faktenwissens verfügen muss!
Ein weiterer Treiber entsteht dadurch, dass die Digitalisierung ein lebenslanges Lernangebot für Studierende eröffnet. Auch akademischer Lernstoff muss ständig aktualisiert werden. Hochschulen konzentrieren sich ebenfalls noch heute auf die 4 bis 6 Jahre dauernde Erstausbildung, obwohl Studierende während ihres Berufslebens ca. 35 Jahre Lernbedarf haben. Hier gilt es, die Chance zu nutzen, aktualisierte Inhalte elektronisch zu den Lernenden zu transportieren. Dabei können die Inhalte individualisiert werden und auf die jeweilige berufliche Stellung und Situation der Lernenden ausgerichtet werden.
Auch die Welt der Forschung verändert sich durch die Digitalisierung, sie wird (noch) flacher und transparenter. Forscher sind schon heute in ihren internationalen Fach-Communities verbunden. Dieser Trend verstärkt sich durch Systeme wie ResearchGate usw. Ein Forscher kann selbstständig seine Ergebnisse auf Plattformen veröffentlichen, auch in kleineren Einheiten wie Aufsätzen und Vorträgen. Gleichzeitig kann er für Ad-hoc-Anfragen seiner globalen Kollegen zur Verfügung stehen oder Anfragen selbst stellen. Die Zugriffe auf seine Veröffentlichungen werden aktuell ausgewertet, und er erhält Feedback über das Interesse der Community an seinen Ergebnissen und eine Bewertung seiner wissenschaftlichen Wirkung (z. B. H-Index). Insgesamt wird damit die Verbreitung von Forschungsergebnissen beschleunigt. Neue Formen der Bewertung und Begutachtung von Forschungsleistungen werden sich durch digitale Auswertungen entwickeln. Durch Open Data werden Datenbestände öffentlicher Einrichtungen und aus Forschungsprojekten für neue Auswertungen leichter zugänglich.
Große Fortschritte können dadurch erzielt werden, dass sich die Hochschulverwaltung nicht mehr als digitale Insel versteht. Die Systeme für Campusmanagement sowie die Systeme für Finanz- und Rechnungswesen, Personalverwaltung und Facility Management müssen und können eng mit den Produktionssystemen für Lehre und Forschung verknüpft werden. Da jeder Weiterbildungsstudent, der die Angebote des lebenslangen Lernens nutzt, eine Rechnung erhalten wird, müssen Kursmanagement und Finanzsystem verbunden werden. Jeder Dozent sollte dann nicht nur im Personalsystem erfasst sein, seine Daten werden zusätzlich im Kursmanagementsystem benötigt usw. Nur ein inte- griertes IT-System für alle Bereiche erfüllt die notwendigen Anforderungen.
All diese potenziellen Treiber für eine Hochschule 4.0 zeigen ganz deutlich: Strategie tut not und ist Chefsache. Ich bin daher überzeugt dass eine hochschulweite Digitalisierungsstrategie für Lehre, Forschung und Verwaltung erarbeitet werden muss. Nur so kann man die Chancen der Digitalisierung umfänglich nutzen. Zentrales Element ist dabei das Profil, das sich die Hochschule geben will. Das reicht von studentenzentriert über international bis zu weiterbildungszentriert. Steht der Studierende im Mittelpunkt, werden alle Möglichkeiten der Personalisierung des Lernangebots und der persönlichen Betreuung (Coaching) genutzt. Liegt der Fokus auf der internationalen Ausrichtung, werden internationale Lehrangebote genutzt und einmontiert und auch selbst internationale Angebote erstellt. Auch die Forschung wird international ausgerichtet. Geht es vorrangig um Weiterbildung, werden Studenten lebenslang betreut und Kooperationen mit Unternehmen als Content-Lieferanten und Partner für deren interne Weiterbildung aufgebaut.
Universitäten verfügen zu Recht über ein hohes Maß an Autonomie. Wenn eine Hochschule keine Digitalisierungsstrategie verfolgen will, so sollte dies zumindest bewusst und unter Beachtung der damit verbundenen Konsequenzen entschieden werden. Ich mahne die Verantwortlichen, sich bewusst zu machen, dass ein „weiter so“ schon deswegen nicht ohne Folgen bleibt, weil andere die Chancen zum Strategiewechsel und der damit verbundenen Wettbewerbsfähigkeit nutzen werden!