Was ist das Neue am Management 4.0-Paradigma?
Ein Beitrag von: Hans-Gerd Servatius, Universtität Stuttgart
Kurz und bündig:
Im Zuge der Digitalisierung entsteht gegenwärtig ein neues Management-Paradigma, das durch vier innovative Bausteine gekennzeichnet ist. Der erste Baustein ist die gemeinsame Realisierung von digitalen Geschäftsmodellen. Dabei kommt es auf die Kooperation mit IoT-Plattformen an. Agile Strategie- und Innovationsprozesse mit OKRs ermöglichen eine bessere Partizipation. In einer agilen Organisation wandeln sich starre Hierarchien zu flexiblen Netzwerken. Außerdem nutzt der 4.0-Manager das Potenzial der Künstlichen Intelligenz, um Aufgaben und Prozesse neu zu gestalten.
Auch im Management stoßen ältere Paradigmen an ihre Grenzen und werden durch neue ergänzt. Ein solcher Übergang vollzieht sich gegenwärtig bei der Bewältigung des digitalen Wandels, der das traditionelle Management vor große Herausforderungen stellt. Wir beschreiben die bisherigen Stufen des Management und skizzieren wichtige Treiber auf den Weg zu einem Management 4.0. Die spannende Frage ist, was an dem Management 4.0-Paradigma neu ist.
Vier Entwicklungsstufen des Management
Der Begriff Management 4.0 drückt zunächst einmal die Suche nach einem passenden Management für die vierte industrielle Revolution (Industrie 4.0) aus, in der digitale Technologien wie das Internet der Dinge und Künstliche Intelligenz (KI) innovative Produkte, Dienstleitungen, Prozesse und Geschäftsmodelle ermöglichen. Darüber hinaus entfalten diese Technologien eine disruptive Wirkung für traditionell geführte Unternehmen, sie verändern die Arbeitswelt und stellen eine große gesellschaftliche Herausforderung dar [1].
Außerdem suggeriert der Zusatz 4.0, dass es frühere Formen des Management gibt, die sich in eine 4.0-Logik einordnen lassen. Dieser Logik folgend gliedern wir die Entwicklung des Management in die folgenden vier aufeinander aufbauenden Stufen (Abbildung 1):
1. Ein rationalitätsorientiertes, operatives und strategisches Management 1.0
2. ein menschliche Verhaltensweisen stärker berücksichtigendes Management 2.0
3. die Synthese zu einem systemorientierten Management 3.0 sowie
4. ein Management 4.0 zur Bewältigung des digitalen Wandels.
Dabei verstehen wir unter dem Begriff Management-Paradigma eine in Theorie und Praxis vorherrschende Grundauffassung, die sich verändern kann. Ein verändertes Paradigma verspricht eine bessere Bewältigung von neuen Herausforderungen.
Übergänge von einem vorherrschenden Paradigma zu einem anderen sind jeweils durch Management-Innovationen gekennzeichnet, die ihren Ausgangspunkt in der Theorie oder in der Praxis haben können [2]. Gleichzeitig entwickeln sich die vorhandenen Paradigmen häufig weiter. Ein Beispiel ist das vom militärischen Sektor auf die Wirtschaft übertragene Strategiekonzept (Management 1.0), das Henry Mintzberg in verschiedene Schulen gegliedert hat [3].
Management 1.0
Neue Unternehmen wurden immer schon gegründet. Insofern ist Unternehmertum (Entrepreneurship) so alt wie die Wirtschaftsgeschichte. Die „moderne“ Managementlehre ist jedoch erst beim Übergang von der handwerklichen Manufaktur zur industriellen Produktion entstanden. Dabei lag der Fokus auf dem Erzielen von Produktivitätsvorteilen. Hieraus entwickelte sich das operative Management.
Die von Henri Fayol bereits 1916 beschriebene Sequenz von Planung, Organisation und Kontrolle („Command and Control“) bildete die Grundlage für das in den 1960er Jahren an amerikanischen Business Schools entstandene strategische Management [4].Die frühen Strategieschulen, wie die von Michael Porter geprägte Positionierungsschule [5] und auch das operative Management, sind stark rationalitätsorientiert. Dabei soll ein Controlling zur Rationalitätssicherung beitragen. In diesem Primat der Rationalität sehen wir den Kern eines Management 1.0-Paradigmas, das von der Betriebswirtschaftslehre und den Ingenieurwissenschaften erforscht wird.
Management 2.0
Neben dem Management 1.0 ist eine Vielzahl an Führungstheorien entstanden, die sich mit den Zusammenhängen zwischen „Leader“, Geführten, Situation und Führungserfolg beschäftigen. Die Organisationsentwicklung versucht aufzuzeigen, wie es gelingt, Veränderungsprozesse zu gestalten. Gemeinsam ist diesen Ansätzen ebenso wie neueren Marketingkonzepten eine stärkere Berücksichtigung von menschlichen Verhaltensweisen.
Ein solches verhaltensorientiertes Management zielt darauf ab, mit Vision, Orientierung und Motivation Richtung zu geben („Directing“) und mit Werten, Klarheit und Einbeziehung die positive Energie der Beteiligten zu stärken („Engaging“) [6]. Diese Führungsmodelle grenzen sich deutlich von einem Management 1.0 ab. Kern des Management 2.0-Paradigmas ist also die Verhaltensorientierung. Management 2.0 ist gleichbedeutend mit „Leadership“. Die prägende wissenschaftliche Disziplin ist die Organisationspsychologie.
Management 3.0 als Synthese
Management 1.0 und 2.0 haben sich lange relativ unabhängig voneinander entwickelt. Daher entstand in der Praxis der Bedarf nach einer Verknüpfung der Paradigmen. Bei dieser Syntheseleistung wirkten die allgemeine Systemtheorie und die Kybernetik als Impulsgeber. So begründete Hans Ulrich in den 1960er Jahren in St. Gallen ein systemorientiertes Managementkonzept [7].
Ein integratives Denken und Handeln mit dem Ziel, die beiden früheren Paradigmen zu verbinden, prägte auch die Entstehung von speziellen Managementsystemen z.B. für das Thema Qualität. Im Zuge eines verschärften Wettbewerbs zwischen Japan, den USA und Europa entstand hieraus das Lean Management [8].
Die Basis für eine systemorientierte Betrachtung der Innovationstätigkeit von Unternehmen legte Joseph Schumpeter, der als einer der Väter der wirtschaftswissenschaftlichen Evolutionstheorie gilt [9].Hieraus entwickelte sich das Konzept einer evolutionären Führung, das die Emergenz und Selbstorganisation bei Innovationen betont [10]. Die Theorie komplexer evolvierender Systeme strebt an, hierfür einen allgemeinen Bezugsrahmen zu schaffen [11].
Innovation ist ein schöpferischer Prozess. Aus der Erkenntnis, dass Manager dabei von Designern und Softwareentwicklern lernen können, entstanden agile Prozesse und Methoden wie das Design Thinking, Scrum und Lean Startup, die heute die Digitalisierung prägen [12].
Das Management 3.0-Paradigma hat hierfür mit seinen neuen systemorientiert-integrativen und -evolutionären Perspektiven die Grundlagen geschaffen. Eine wichtige Frage ist, wie auch in etablierten Unternehmen eine unternehmerische Führung gelingt [13]. Daher sehen wir in „Entrepreneurial Leadership“ den Kern eines Management 3.0. Angesichts der großen Herausforderungen der Energie- und Mobilitätswende erfordert dies eine bessere Interaktion mit Stakeholdern in Politik und Gesellschaft [14].Den wissenschaftlichen Rahmen liefert die Theorie komplexer Systeme.
Treiber und Entwicklung zu einem Management 4.0
Bevor wir die Frage beantworten, was am Management 4.0-Paradigma neu ist, wollen wir die Treiber skizzieren, die zu dessen Entwicklung beitragen. Diese Treiber fassen wir in den folgenden Thesen zusammen:
1. Eine Plattform-Ökonomie mit digitalen Geschäftsmodellen entfaltet ihre disruptive Wirkung
2. Immer mehr Unternehmen wenden die Objectives and Key Results (OKR-) Methode an
3. Agile Organisationsformen gewinnen an Bedeutung und
4. Künstliche Intelligenz (KI) unterstützt viele Tätigkeiten
Dabei gehen wir davon aus, dass sich diese Treiber im Rahmen einer digitalen Führung wechselseitig verstärken.
Plattform-Ökonomie
Der Erfolg der wertvollsten Unternehmen der Welt und vieler Startups basiert auf digitalen Plattform-Geschäftsmodellen. Für etablierte Unternehmen geht hiervon eine Disruptionsgefahr aus. Gleichzeitig eröffnet die Plattform-Ökonomie den etablierten Akteuren die Chance, selbst zum Plattform-Anbieter zu werden oder mit digitalen Plattformen zu kooperieren [15]. In den letzten Jahren ist die öffentliche Meinung gegenüber den Plattform-Giganten umgeschlagen. Es wird eine strengere Regulierung gefordert und Europa sucht nach einem „dritten Weg“ zwischen der amerikanischen Laissez-faire-Politik und dem chinesischen Modell.
Internet of Things (IoT-) Plattformen sind gegenwärtig ein wichtiger Game Changer für eine Vielzahl von Anwenderbranchen. So setzt Amazon konsequent auf seinen Lautsprecher Echo und die Assistenzsoftware Alexa als trojanisches Pferd für den Markteintritt z.B. in den Smart Home-, Gesundheits- und Versicherungssektor [16]. Dabei bilden IoT-Plattformen die digitale Infrastruktur für die Technologiekette von Sensordaten über Vernetzung, Cloud Computing und Machine Learning bis zu neuen datengestützten Geschäftsmodellen. Auf die Frage, ob Amazon, Apple und Co. Konkurrenten oder Kooperationspartner seien, antwortet Markus Miele, Chef des Gütersloher Familienunternehmens: „Beides“ [17]. Unternehmen, die keine eigene IoT-Plattform aufbauen wollen, benötigen IoT-Partner, aus denen keine Wettbewerber werden sollten. So setzt Volkswagen mit seiner Automotive Cloud für Mobilitätsdienste auf eine Zusammenarbeit mit Microsoft und dessen IoT-Plattform Azure. Bei der Digitalisierung der Produktion kooperiert VW mit Amazon und Siemens. Für Klaus Helmich, Vorstand der Siemens-Sparte Digital Industries, geht es hierbei darum, die Datenpools, die gewonnen werden, durch Edge Computing direkt an der Maschine und in der Cloud auszuwerten [18].
In der Plattform-Ökonomie wurden daher Partner immer wichtiger. Hierin sehen wir eine erste Antwort auf die Frage, was am Management 4.0 neu ist. Die Konkurrenz z.B. mit dem gigantischen IoT-Schwungrad von Amazon erfordert von traditionellen Unternehmen eine Realisierung von digitalen Geschäftsmodellen gemeinsam mit IoT-Plattformpartnern (Business Model Co-Creation).
Objectives and Key Results (OKR-) Methode
Der zweite Treiber setzt an dem 1954 von Peter Drucker beschriebenen Management by Objectives (MbO) an [19], aus dem sich in der Praxis das Führen mit Zielvereinbarungen und Managementsysteme, wie die Unterstützung des Strategieprozesses mit Balanced Scorecards, entwickelt haben. Ein solches Vorgehen stößt im Zeitalter der Digitalisierung an seine Grenzen. Es überrascht daher nicht, dass sich die bei Intel entstandene und durch Google bekannt gewordene Objectives and Key Results (OKR-) Methode wachsender Beliebtheit erfreut [20].
Die OKR-Methode verbindet eine Aussage zu einem bestimmten Ziel mit Aussagen zu messbaren Ergebnissen. Dieser einfach zu verstehende Ansatz fördert die Lernprozesse agiler Teams. Außerdem schafft er Transparenz sowohl bei der vertikalen Koordination entlang der Hierarchie als auch bei der horizontalen Koordination von Projekten. Die Methode hat entscheidend dazu beigetragen, dass Google viele seiner extrem ehrgeizigen Ziele erreichen konnte. Dies setzt allerdings voraus, dass die Führung ein visionäres Denken unterstützt und die Mitarbeiter sich darauf einlassen.
Strategien werden heute immer weniger an der Unternehmensspitze erdacht und mit Hilfe von Leistungsmessgrößen umgesetzt. Sie entstehen in agilen Strategie- und Innovationsprozessen unter Beteiligung von internen Akteuren und Kunden. Agile OKR-Zyklen fördern die Partizipation und bilden die DNA dieser Prozesse. Das Neue im Rahmen eines Management 4.0 ist diese Integration der OKR-Methode in agile Strategie- und Innovationsprozesse.
Agile Organisationsformen
Netzwerkartige Organisationen galten lange als exotische Ausnahmen [21], während die Mehrzahl der Unternehmen an der klassischen Hierarchie festhält und agile Arbeitsformen in neu gegründeten Corporate Digital Units erprobt. Einen anderen Weg sind Tech-Unternehmen wie Spotify gegangen, die agile Strukturen bereits bei ihrer Gründung eingeführt haben und diese skalieren.
An diesem Organisationskonzept orientieren sich immer mehr etablierte Unternehmen wie die niederländische Bankengruppe ING [22]. Die Basis der agilen Organisation bilden Teams (Squads) mit nicht mehr als 9 Personen, die ein Product Owner koordiniert. Diese Teams sind zu Stämmen (Tribes) mit rund 150 Personen zusammengefasst, die einen Tribe Lead und einen agile Coach haben. Die Entwicklung von Wissen und Erfahrung über die Teamgrenzen hinweg erfolgt in Fachgruppen, die Chapters genannt werden. Diese Struktur ist nicht starr, sondern evolviert mit den wechselnden Aufgabenstellungen.
In diesem unternehmensweiten Wandel von Hierarchien zu flexiblen Netzwerken, die nach agilen Prinzipien arbeiten, sehen wir einen weiteren innovativen Baustein innerhalb des Management 4.0-Paradigmas.
KI-unterstützte Tätigkeiten
Das Thema Wissensarbeit im intelligenten Unternehmen hat eine lange Geschichte [23]. Im Zuge des digitalen Wandels werden immer mehr Routinetätigkeiten durch künstliche Intelligenz ersetzt. Umso wichtiger wird die kreative Tätigkeit, die zunehmend an digitalen Arbeitsplätzen stattfindet [24]. Aber auch hier nimmt die Bedeutung einer KI-Unterstützung zu.
Je nach Aufgabentyp ergeben sich unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten von KI-Technologien und organisatorische Implikationen. Das Spektrum reicht von Vorhersagemodellen z.B. im Marketing über die Prozess-Automatisierung mit Robotern bis zur Sprach- und Bilderkennung sowie der Optimierung von Planungsaufgaben [25]. Manager benötigen daher ein gutes Verständnis der Möglichkeiten von KI, um die entsprechenden Veränderungsprozesse zu gestalten.
In einem solchen KI-basierten Redesign von Aufgaben und Prozessen sehen wir die vierte Innovation im Rahmen eines Management 4.0. Die Abbildung fasst diese Bausteine zusammen, die das neue Management-Paradigma kennzeichnen. Dessen prägende wissenschaftliche Disziplin ist das Innovationsmanagement.
Im Rahmen unserer Tätigkeit als Forscher, Berater und Coach begleiten wir gegenwärtig eine Reihe von Unternehmen auf ihrem Weg zu einem Management 4.0. Wie auch bei den vorherigen Paradigmen ist dabei ein wichtiger Erfolgsfaktor die Vorbildrolle der Führung.