Vom Digital Outsider zum Digital Native
Digitale Souveränität braucht eine mutige Politik
Daniel Krezdorn, digital-souveraenitaet.de
Kurz & Bündig
Die Enthüllungen Edward Snowdens vor fast einem Jahrzehnt hätten ein Weckruf für Deutschland sein können. Im Jahr 2021 scheint der Digitalraum für staatliche Institutionen hingegen immer noch „ein Stück weit Neuland“ zu sein. Die lange geltende Laissez-faire-Politik gefährdet die Souveränität des Staates gleich in mehreren Punkten. Dabei geht es neben der Infrastruktur, Sicherheit und politischer Gestaltungsmacht bei dem Thema auch um die Bürger selbst, die den Staat ausmachen. Digitale Souveränität ist daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Algorithmen-gesteuerte Informationsauswahl, die immer weiter zunehmende Marktkonzentration und Macht einiger weniger Konzerne, künstlich geschaffene Lock-ins im Softwarebereich und Weiteres mehr beeinflussen die digitale (und zunehmend auch die analoge bzw. reale) Souveränität von Firmen und Bürgern.
Für jeden Einzelnen als Souverän ist es daher zentral, sein eigenes Nutzungsverhalten kritisch zu hinterfragen und sich mit möglichen Alternativdiensten auseinanderzusetzen. Teil dieses Prozesses ist es, ein Bewusstsein für den Wert der eigenen Daten und die jeweiligen Konsequenzen einer Weitergabe zu schaffen. Die DSGVO bietet dabei den Rechtsrahmen für das Grundrecht auf die eigene Datenhoheit, das allerdings auch wahrgenommen werden muss. Ein solcher Prozess ist kein Selbstläufer; Alternativen müssen recherchiert werden und allzu oft sind diese hinsichtlich des Nutzererlebnisses weniger komfortabel oder eventuell sogar kostenpflichtig. Neben der Bequemlichkeit müssen also gegebenenfalls auch weitere Hürden überwunden werden, was nur gelingt, wenn einem der Zweck des Handelns bewusst ist und als erstrebenswert gilt.
Auch für Firmen ist es geboten, sich aktiv mit alternativen Anwendungen auseinanderzusetzen und diese – wo immer möglich – einzusetzen. Das kann helfen, die IT-Sicherheit zu erhöhen und die Abhängigkeit vom zukünftigen Support eines Anbieters zu reduzieren. Gerade im Open Source Umfeld gehen damit meist auch Kostenersparnisse einher. In beiden Fällen bedarf es eines Zugangs zu Wissen, Zeit und einer existierenden Wahlfreiheit, um überhaupt im Digitalen souverän agieren zu können. Das bedeutet erstens, dass die Entscheidungshoheit (Souveränität) über die Verwendung der Daten vorliegen muss. Zweitens muss eine sichere (souveräne) Entscheidung aufgrund der eigenen Informiertheit überhaupt möglich sein.
Der Politik kommt in diesem Bereich somit eine tragende Gestaltungsrolle zu. So können durch entsprechende Rahmenbedingungen die nötigen Voraussetzungen für Bürger und Firmen geschaffen werden, um freie Entscheidungen im Digitalbereich zu ermöglichen.
Neben der Definition von Anforderungen hinsichtlich der Interoperabilität für staatliche Dienstleistungen/Bürgerdienste gilt es zudem, gezielt europäische Software-Entwicklungen auf Basis von Standardprotokollen und offenem Quellcode zu fördern.
Der erste Computer wurde in Berlin erfunden, das offene Betriebssystem Linux in Finnland, dennoch kommen die großen Player im Digital-Bereich (Stichwort: Big Tech) aus Amerika. Europäische Anbieter spielen bis auf einige Ausnahmen eine untergeordnete Rolle. Zudem arbeitet der Großteil der hiesigen Ämter und Behörden mit proprietären Systemen einiger weniger Anbieter. Der Versuch der Stadt München, durch Umstellung auf ein Linux-System (Projekt „LiMux“) an Souveränität zu gewinnen, scheiterte 2017 unter anderem auch am mangelnden politischen Willen. Im Bereich der Betriebssysteme für Mobiltelefone sieht es nicht anders aus, und das Quasi-Duopol zwei amerikanischer Firmen scheint unveränderbar. Der Staat muss sich dann – wie bei den Corona-Apps geschehen – deren Bedingungen diktieren lassen und ist vom Wohlwollen zur Bereitstellung benötigter Softwareschnittstellen abhängig.
Dabei gibt es zum Beispiel mit „/e/“ und dem Nokia-Nachfolger „SailfishOS“ (Jolla) vielversprechende Alternativsysteme, die allerdings bisher keine breite Unterstützung erfahren. Letzteres konnte nach finanziellen Schwierigkeiten nur durch eine Beteiligung des russischen Telekommunikationsanbieters „Rostelecom“ überleben, der jetzt Teile des Systems für ein eigenes Handybetriebssystem nutzt.
Auch andere Staaten (z.B. Bolivien) versuchen, Alternativen für ihre Verwaltungen und Bevölkerung zu schaffen. Frankreich etwa beschloss schon 2019, die interne Behördenkommunikation auf nationaler Ebene unter Nutzung des offenen Matrix-Protokolls zu organisieren. Dies ermöglicht eine verschlüsselte Kommunikation auf dezentraler Basis. In Deutschland entschied sich die Bundeswehr 2020 ebenfalls für den Einsatz dieses Protokolls in der internen Kommunikation. Auch die vor einigen Monaten getroffene Entscheidung der Gematik, für den Gesundheitsbereich einen Messenger basierend auf diesem Protokoll bereitzustellen, stimmt positiv. Daneben hat die Politik auch im Bereich der kritischen Infrastrukturen Handlungsbedarf erkannt und versucht, mit strikteren Richtlinien zur Vergabe und Unternehmensübernahmen zumindest die böswillige Einmischung anderer Staaten zu erschweren.
Dennoch: Sollen zentrale Bürgerdienste in Zukunft online und mobil angeboten werden, ist es zwingend notwendig, dass der Staat seine Bürger souverän entscheiden lässt, wie und in welchem Umfang sie diese Systeme nutzen möchten. Dazu kann auch gehören, Schnittstellen für freie Programmentwicklungen bereitzustellen und eine dezentral ausgerichtete Architektur anzustreben. Dies ermöglicht die notwendige Interoperabilität und öffnet den Markt, sodass Alternativen entstehen können. Vor dem Hintergrund der immer älter werdenden Bevölkerung ist es aber auch von Nöten zu hinterfragen, was wirklich digital sinnvoller erbracht werden kann, respektive, was analog besser und niederschwelliger funktioniert.
Ein solches Vorgehen wird nicht nur die Akzeptanz solcher Bürgerdienste sowie deren Ausfallsicherheit erhöhen, sondern auch die Abhängigkeit von wenigen Dienstleistern – zumeist aus dem nicht-europäischen Ausland – minimieren. Die Entscheidung, für die Einsicht in die eigene elektronische Gesundheitsakte zunächst ausschließlich eine App anzubieten und die vormals angedachte Automatenlösung zu streichen, ist nicht nur das falsche Signal. Sie unterminiert auch die digitale Souveränität. Einerseits wird durch die verpflichtende Nutzung eines bestimmten Endgeräts ein Großteil der Bevölkerung ausgeschlossen und andererseits ein nicht zu unterschätzendes Sicherheitsrisiko geschaffen.
Auch abseits des staatlich-institutionellen Wirkungsbereichs ist ein beherzteres gesetzgeberisches Vorgehen notwendig, um gewünschte Rahmenbedingungen zu schaffen. Das betrifft etwa eine Anpassung des Wettbewerbsrechts hinsichtlich kostenfreier Online-dienste, um die im Digitalbereich aufgrund von Netzwerkeffekten besonders starke Tendenz zur Monopolbildung zu unterbinden. Die amerikanische Wettbewerbsbehörde FTC arbeitet bereits an einer solchen Novelle.
Zudem können durch eine verpflichtende Nutzung von Standardprotokollen sowie der Pflicht zur Bereitstellung von Schnittstellen die Interoperabilität und Öffnung von Plattformen für fremde Entwicklungen gefördert werden. Ähnlich wie bei anderen Normen zum Schutz der Verbraucher könnten zusätzlich Kriterien definiert werden, die sicherstellen, dass z.B. Mobiltelefonanbieter analog zum PC-Markt eine freie Softwarenutzung ermöglichen müssen oder einen freien App-Marktplatz und Zugang garantieren. Das erhöht nicht nur die Auswahlfreiheit und Datenportabilität für Firmen und Kunden, sondern bietet wiederum auch neuen Marktteilnehmern Chancen.
Für den geschäftlichen Bereich gibt es neben Gaia-X und dem BMWI-Programm Smart Service Welt II bereits einige Projekte. Nur im Verbraucherbereich fehlt es bisher noch an ausreichender Unterstützung. Immerhin versucht die EU, mit dem Digital Markets Act und dem Digital Service Act (DMA bzw. DSA) ein europaweites Regelwerk zur verpflichtenden Öffnung zentraler Plattformen und für einen höheren Verbraucherschutz zu schaffen.
In diesem Zusammenhang gilt es auch zu überlegen, wie mit Datendienstleistungen umgegangen werden soll, die aufgrund hoher irreversibler Investitionskosten (sunk costs) nicht privatwirtschaftlich rentabel und marktkonform erbracht werden. Eine Möglichkeit wäre, den Staat, wie teilweise im Analogbereich auch, mit Bereitstellung und Erhalt der nötigen Infrastruktur gegen eine Nutzungsgebühr zu betrauen. Neben einem öffentlichen Internetsuchindex, auf den jeder Anbieter zugreifen kann, wären etwa auch dezentrale Datenhubs denkbar, über die Bürger ihre Daten gezielt einzelnen Firmen zugänglich machen können.
Zuletzt seien noch die Schulen und Universitäten im propagierten Bildungsland Deutschland erwähnt. Auch hier zeigte die Pandemie überdeutlich, welche Defizite nicht nur in der Hardwareausstattung vorherrschen. Lernen funktioniert heutzutage nicht mehr nur analog. Dennoch ist es nicht damit getan, jedem ein Tablet zu verschaffen. Das Thema digitale Souveränität und die Implikationen einer fehlenden Auseinandersetzung damit werden leider häufig eher stiefmütterlich behandelt und dem Einzelnen überlassen. Das mangelnde Bewusstsein dafür zeigte sich nicht zuletzt in der hastigen Umstellung auf Homeschooling, das in jedem Bundesland anders gehandhabt wurde und trotz Datenschutzbedenken allzu oft mit einem Rückgriff auf teure und proprietäre Systeme endete. Und auch im Unterricht stehen primär (Standard-)Anwendungen und Schulungen darin im Vordergrund. Selten werden Alternativen vorgestellt und anwendungsunabhängige Grundfunktionalitäten vermittelt. Trotzdem sind viele Schüler deutlich aufgeklärter, reflektierter und souveräner im Digitalbereich als die Elterngeneration.
Primäres Ziel der Politik sollte daher nicht nur eine stärkere Berücksichtigung von digitaler Souveränität in all ihren Facetten in Lehrkonzepten sein. Vielmehr müssen allen Menschen – unabhängig von ihrem Alter – Methoden zum kritischen Hinterfragen des Nutzungsverhaltens und mögliche Alternativen an die Hand gegeben werden. Der Erfolg des Wahl-O-Mats als staatlich initiierte Online-Orientierungshilfe zeigt dabei, dass die Bürger solche Angebote dankend annehmen.
Die Pandemie und die zahlreicher werdenden Berichte über die negativen Effekte für die Gesellschaft, insbesondere von Big Tech, zeigen überdeutlichen Handlungsbedarf im Digitalbereich. Mit politischem Gestaltungswillen und finanziellen wie personellen Anstrengungen kann es aber gelingen, Barrieren im Digitalraum abzubauen und die nötige Interoperabilität von Softwaresystemen zu etablieren. Damit kann die Politik die Voraussetzungen für die digitale Souveränität jedes Einzelnen schaffen.
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