Produktionssysteme der Zukunft müssen als hochinteraktive sozio-technische Systeme verstanden werden. Produkte und Produktionsverfahren mit eingebetteter Intelligenz werden durch Internettechnologien vernetzt, können interagieren und revolutionieren die Produktionssteuerung. Dennoch kommt dem Menschen auch in der Produktion der Zukunft eine zentrale Rolle zu. Es werden völlig neue Formen von hybriden Produktionsund Arbeitssystemen in hochflexiblen, dezentral gesteuerten und wandelbaren Wertschöpfungsstrukturen entstehen.
1. Was ist Industrie 4.0?
Momentan ist wieder einmal zu hören, dass sich in Deutschland eine Revolution anbahnt. Und überraschenderweise sind die Revolutionäre diesmal keine Studenten, sondern Industrievertreter und führende Köpfe der deutschen Forschungslandschaft. Dies erklärt auch, dass statt von gesellschaftlichen Umwälzungen von einem Zusammenwachsen intelligenter Produktionstechnik mit eingebetteten Steuerungen und neuen Interaktionsformen die Rede ist. Nach Mechanisierung, Industrialisierung und Automatisierung spricht man in diesem Zusammenhang von der vierten industriellen Revolution (Abbildung 1).
Die Forschungsunion als eines der zentralen innovationspolitischen Beratungsgremien der Bundesregierung im Rahmen der Hightech-Strategie erarbeitet Zukunftsthemen, mit denen Deutschland einen Spitzenplatz bei der Lösung globaler Herausforderungen einnehmen soll. Für sie bedeutet ein erfolgreicher Produktionsstandort zu bleiben, „die vom Internet getriebene 4. Industrielle Revolution mit zu gestalten und autonome, selbststeuernde, wissensbasierte und sensorgestützte Produktionssysteme zu entwickeln, zu vermarkten und zu betreiben.“ [1]
Auslöser und Enabler dieses Paradigmenwechsels in der Produktion ist die flächendeckende Durchdringung von Produkten und Produktionstechnik mit Cyber-Physischen Systemen (CPS). „Cyber-Physical Systems stehen für die Verbindung von physikalischer und informationstechnischer Welt. Sie entstehen durch ein komplexes Zusammenspiel von eingebetteten Systemen, Anwendungssystemen und Infrastrukturen (…), Kommunikationsnetze und ihre Verknüpfungen mit dem Internet auf Basis ihrer Vernetzung und Integration und der Mensch-Technik-Interaktion in Anwendungsprozessen.“ [3] CPS werden verknüpft zu technischen Systemen, die über eine eigene Intelligenz in Form von dezentraler Sensorik und gegebenenfalls Aktorik verfügen und darüber hinaus durch Internettechnologien miteinander verbunden sind. Unter den 50 Milliarden Geräten, die laut Ericsson-Vorstand Hans Vestberg im Jahre 2020 miteinander vernetzt sein werden, wird voraussichtlich bereits ein signifikanter Anteil solcher CPS zu finden sein. [4]
Möglich gemacht wird die Vernetzung dieser dezentralen intelligenten Systeme durch die flächendeckende Verfügbarkeit der technischen Infrastruktur in Form von industriell einsetzbaren (Funk-) Internetverbindungen und bezahlbarer Technik. Logisch werden die Systeme durch die konsequente Anwendung von dezentralen Steuerungsprinzipien wie Multiagentensystemen gekoppelt, die sich am schon lange propagierten „Internet der Dinge“ orientieren. [5] Dies ermöglicht die Integration von realer und virtueller Welt. Produkte, Geräte und Objekte mit eingebetteter Software wachsen zu verteilten, funktionsintegrierten und rückgekoppelten Systemen zusammen.
Die Liste denkbarer Anwendungen ist lang. So könnte sich ein Produktionsauftrag, vom Kunden ausgelöst, selbstständig durch die Wertschöpfungskette steuern. Dabei reserviert er Bearbeitungsschritte, Anlagen und Materialien und kontrolliert die Ausführung automatisch. Er erkennt drohende Verzögerungen der Lieferung, organisiert soweit möglich zusätzlich benötigte Kapazitäten und meldet unvermeidbare Verzögerungen direkt dem entsprechenden Kunden. Die verwendeten Produktionsanlagen tauschen untereinander Zeichnungen aus und organisieren ihre Auftragsreihenfolge genauso wie Wartungs- und Instandhaltungsbedarfe untereinander.
Die Bedeutung für die beteiligten Industrien stellt diese Entwicklung in eine Reihe mit den drei vorausgegangenen industriellen Revolutionen. Die technologische Perfektion der Produktionsanlagen in Kombination mit einer stärkeren Integration der Mitarbeiter, Kunden und Benutzer der Produkte ermöglicht völlig neue Geschäftsmodelle. Produktion nach dem 4.0-Prinzip schafft die Voraussetzungen dafür, dass traditionelle Strukturen abgelöst werden können, die auf zentralen Entscheidungsmechanismen und starren Grenzen einzelner Wertschöpfungsschritte aufbauen. Diese werden ersetzt durch flexibel konfigurierbare Leistungsangebote und interaktive, kooperative Entscheidungsmechanismen.
2. Was hat der Mensch damit (noch) zu tun?
Die Diskussion um die Ausgestaltung von „Industrie 4.0“ hat gerade erst begonnen. Ausgehend vom Grundgedanken des „Internet der Dinge“ geht das Verständnis traditionell von automatisierter Selbststeuerung aus. „Industrie 4.0 bedeutet konsequente Automation“, so Dr. Bettenhausen, Vorsitzender der VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik (GMA). [6] Das Ziel ist dabei der „wunschgemäße, sichere, zuverlässige und effiziente Betrieb von Anlagen“. Bei aller Euphorie über die neuen Möglichkeiten der Automatisierung wird es die menschenlose Produktion jedoch auch in absehbarer Zukunft nicht geben. Die Rolle des Menschen in der Produktion wird sich zwar deutlich verändern, aber weiterhin von zentraler Bedeutung bleiben.
Sowohl die spezifischen Fähigkeiten als auch die Bedürfnisse der beteiligten Menschen müssen eingebunden und berücksichtigt werden. Dem Produktionsarbeiter der Zukunft kommen drei wesentliche Funktionen zu:Der Mensch als Entscheider
Der Paradigmenwechsel von einer zentralen zu einer grundsätzlich dezentralen Steuerung der Produktion, durch netzwerkartige Abstimmungen der einzelnen Objekte untereinander, wird Konflikte erzeugen. Beispiele dafür sind gegenläufige Prioritäten einzelner Aufträge und der Umgang mit knappen Ressourcen sowie Grauzonen automatisierbarer Steuerungslogiken. In diesen Situationen wird dem Menschen weiterhin die Aufgabe zukommen, operativ steuernd einzugreifen. Da diese Eingriffe in einem laufenden, selbststeuernden System hoch zeitkritisch sein werden, sind Möglichkeiten und Hilfsmittel erforderlich, um schnelle Entscheidungen qualifiziert zu treffen. Beispielsweise wird eine ungeregelte, selbstständige Reservierung von Kapazitäten durch jeden Einzelauftrag zu Auslastungsspitzen einzelner Anlagen führen. Durch die Zuweisung von Prioritäten, die Vorhaltung von Anlagenkapazität für Eilaufträge sowie eine stärkere Vernetzung von Alternativkapazitäten kann dieses Problem weitestgehend vermieden werden. Allerdings werden auch zukünftig nur wenige Systeme auf alle Eventualitäten ausgelegt sein. Daher muss die Möglichkeit einer Übersteuerung durch menschliche Eingriffe weiter gegeben sein.
Der Mensch als Sensor
Im Kontext der „Industrie 4.0“ werden Objekte dezentral mit Sensorik ausgestattet und somit in die Lage versetzt, Informationen über ihren Zustand sowie Umfeldinformationen aufzunehmen, zu verarbeiten und in Echtzeit zu kommunizieren. Dennoch bleiben auch zukünftig „sensorische Lücken“ nicht aus. Das liegt schon allein daran, dass, trotz der Einbindung von Prinzipien künstlicher Intelligenz und selbstlernender Systeme, immer noch Bereiche bestehen bleiben, die menschliche Fähigkeiten erfordern, um komplexe Situationen zu bewältigen. Gleiches gilt für Systeminformationen, die bei Auslegung der CPS (noch) nicht berücksichtigt wurden – sei es aufgrund von Änderungen der Umwelt oder zu geringer Eintrittswahrscheinlichkeiten. So wird dem Menschen zukünftig die Rolle zukommen, mögliche Lücken einer durch CPS überwachten Wertschöpfungskette mit Informationen zu schließen.
Der Mensch als Akteur
Im Gegensatz zur Vision der vollautomatisierten Fabrik wird der menschlichen Arbeit auch zukünftig ein hoher Stellenwert zukommen. Dies betrifft insbesondere Hochlohnstandorte wie Deutschland, deren Arbeitsinhalte tendenziell von hoher Komplexität, Kundenindividualität und unregelmäßiger Wiederholbarkeit geprägt sind. Zukünftig wird sich die Produktion noch stärker kundenauftragsorientiert entwickeln. Die Anforderungen an die zeitliche, inhaltliche und räumliche Flexibilität der Mitarbeiter werden signifikant steigen. Eine Produktion nach dem 4.0-Prinzip bedeutet eine weitgehende Aufnahme des Kundentakts. Durch den Einsatz von Mobilgeräten können zum Beispiel Kundenaufträge in Echtzeit Mitarbeitergruppen zugewiesen werden, die ihre Arbeitszeiten untereinander abstimmen. Über die gleichen Medien stehen den Mitarbeitern auf die jeweilige Arbeitsaufgabe abgestimmte Auftragsinformationen und kontextbasierte Anleitungen zur Verfügung. Intelligente, mobile Assistenten unterstützen die Mitarbeiter bei Wechseln der Einsatzorte und Arbeitsumgebungen. Diese vielfältigen Möglichkeiten, die sich aus einer konsequenten Nutzung und Verbindung von mobilen Endgeräten, Echtzeitinformationen und vernetzten Steuerungen mit virtuellen Informationswelten ergeben, führen zu neuen Formen hochflexiblen Arbeitens. Dabei entspricht der Einsatz der Kapazitäten exakt dem Kundenbedarf, wofür alle Akteure ihre Situation austauschen.
Vor dem Hintergrund der geschilderten Rolle des Menschen erscheint die Bezeichnung „Industrie 4.0“ an sich gut gewählt, trägt der Begriff doch das „.0“ der „Mitmach-Web-Generation“ sozialer Netzwerke im Namen und verweist auf die Durchdringung der Industrie mit interaktiver, vernetzter und mobil verfügbarer IT-Unterstützung.
3. Wie sieht die Zukunft der Produktionsarbeit aus?
Trotz aller Automatisierung: Der Mensch wird auch in den Produktionsprozessen der Zukunft weiterhin zentrale Funktionen übernehmen. Auch wenn sich im Jahr 2030 Objekte selbstständig und dezentral durch die Wertschöpfungskette steuern, werden menschliche Tätigkeiten, Sinneswahrnehmungen und Entscheidungen für den Produktionsprozess entscheidend bleiben. Allerdings wird die Produktionsarbeit voraussichtlich anders als heute aussehen. Der Betrieb von Produktionen nach dem 4.0-Prinzip ermöglicht eine echtzeitorientierte Beschäftigungsplanung für die Produktionsarbeiter. Mit Hilfe vernetzter, mobiler Steuerungssysteme lassen sich Arbeits- und Einsatzzeiten in einer neuen Dynamik abstimmen, so dass erstmals eine weitgehende Orientierung von Mitarbeiterkapazitäten am echten Marktbedarf ermöglicht wird. Diese Dynamik schafft eine neue Verträglichkeit zwischen den betrieblichen Erfordernissen von Produktivität, Lieferzeiten und Produktvarianz und den Zielen und Bedürfnissen der Beschäftigten hinsichtlich Vereinbarkeit von Familie und Beruf und zunehmender Gesundheitsorientierung. Es entstehen völlig neue Formen von hybriden Produktions- und Arbeitssystemen in hochflexiblen, dezentral gesteuerten und wandelbaren Wertschöpfungsstrukturen. Echtzeitfähige und mobile Planungs- und Steuerungssysteme reduzieren die heutigen Koordinationsaufwände bei höherer Entscheidungssicherheit. Zudem unterstützen sie Konzepte, die es ermöglichen, zukünftig wieder mehr im urbanen Raum zu produzieren und somit Wohnen, Freizeit und Arbeit zu vereinen als auch Nachhaltigkeit und Stoffkreisläufe zu fördern. Die Mitarbeiter werden verstärkt Mobilgeräte und andere Kommunikationsmöglichkeiten nutzen und besser mit Objekt- und Anlagendaten vernetzt sein. Zusätzlich wird die menschliche Arbeit durch Assistenzsysteme, Virtualisierung und neue Human-Maschine-Interfaces unterstützt und erleichtert. Insbesondere die Entwicklungen im Bereich der Social Media bieten Möglichkeiten für neue Formen der Interaktion, Kommunikation und Zusammenarbeit zwischen Gruppen von Menschen, Maschinen und intelligenten Objekten.
4. Was muss passieren, damit solch ein Szenario Wirklichkeit wird?
Die Abstimmung eines Auftrags mit den benötigten Materialien, Anlagen, Werkzeugen und anderen Hilfsmitteln erfordert eine standardisierte Struktur des Datenaustauschs und der Entscheidungsfindung. Darüber hinaus müssen die Informationen der beteiligten Objekte in Echtzeit vorliegen. CPS und mobile Kommunikationstechnologien sollen dafür sorgen, dass Menschen unmittelbar und flexibel auf anfallende Entscheidungssituationen reagieren können und Mitarbeiter über werkergerechte Interaktionsformen in die Steuerungsverfahren eingebunden werden.
Eine entscheidende Rolle für die Umsetzung von Industrie 4.0 spielt dabei die effiziente Nutzung von Qualifikationen und Kapazitäten der Mitarbeiter. Produktionssysteme der Zukunft müssen als hochinteraktive sozio-technische Systeme verstanden werden. Wissensarbeit wird die Produktion immer mehr durchdringen, besonders im Hochlohnland Deutschland. Damit können die Herausforderungen aus dem demografischen Wandel, der zunehmenden Problematik der Verfügbarkeit von qualifiziertem Personal und den wachsenden Bedürfnissen nach gesunden Arbeitsbedingungen, einer ausgewogenen Work-Life-Balance bzw. Work-Life-Integration sowie dem Arbeiten im urbanen Raum bewältigt werden. Dies erfordert die Vernetzung von CPS mit Human-Systemen und neuen Interaktionsformen. Unterstützend wirken dabei mobile Endgeräte, zum Beispiel in Form von Smartphones, Pad-Computern und neuen Formen der Nutzung von Mobilgeräten. Darüber hinaus sind Qualifizierungsmaßnahmen für die Mitarbeiter und die Schaffung übergreifender Standards unverzichtbar. Dieser gesamte Transformationsprozess auf eine Produktion nach dem 4.0-Prinzip wird nicht von heute auf morgen vonstattengehen. Er bedarf eines vorausschauenden Technologiemanagements, um eine zielgerichtete Transformation der bestehenden Produktionsanlagen zu gewährleisten.
Richtig eingesetzt bringt die Produktionsarbeit der Zukunft Vorteile für alle Beteiligten:
- Dem Kunden: dank einer drastischen Reduktion der Lieferzeiten.
- Den Mitarbeitern: durch die Anpassung starrer Arbeitszeitmodelle an individuelle Präferenzen oder Lebenssituationen.
- Dem Unternehmen: durch die Steigerung seiner internationalen Wettbewerbsfähigkeit.
- Der Gesellschaft: indem der Mitarbeitereinsatz produktiver gemanagt wird, insbesondere in Verknüpfung mit einer sinnvollen Nutzung anfallender „Leerlaufzeiten“.
Noch ist die Vision „Industrie 4.0“ für viele weit entfernt. Genau genommen sind wir aber schon mittendrin in der vierten industriellen Revolution: Aktuelle Fabrikanlagen implementieren schon CPS-Technologien. Nach und nach werden immer mehr Voraussetzungen geschaffen und Schritt für Schritt zur großen Vision verknüpft. Deutschland verfügt über die besten Voraussetzungen die 4. industrielle Revolution entscheidend zu prägen und voranzutreiben. Die deutsche Wirtschaft sollte diese Chance unbedingt nutzen – vor allem für die Menschen, deren Arbeit damit in vielerlei Hinsicht eine neue Qualität erreichen könnte.
LITERATUR
[2] Dr. Schlick, Jochen/ Stephan, Peter: Die vierte industrielle Revolution wird kommen. Link zur Quelle. 11.07.2012.
[3] Geisberger, Eva/Broy, Manfred (Hrsg.): AgendaCPS: integrierte Forschungsagenda Cyber-Physical Systems. Berlin, Heidelberg (u.a.). 2012. Seite 17.
[4] Dr. Schmidt, Holger: Internet der Dinge – Die vierte industrielle Revolution. Link zur Quelle. 11.07.2012.
[5] Bullinger, Hans-Jörg/ten Hompel, Michael (Hrsg.): Internet der Dinge: www.internet-der-dinge.de. Berlin; Heidelberg (u.a.). 2007.
[6] Dr. Bettenhausen, Kurt: Die Aufmerksamkeit für Industrie 4.0 ist richtig und wichtig. Link zur Quelle. 11.07.2012.
Dieter Spath, Sebastian Schlund, Stefan Gerlach, Moritz Hämmerle, Tobias Krause