„Nicht durch Kleben regulieren und vorschreiben, sondern mit Innovationen die Klimaprobleme lösen!“
Ein Kommentar von August-Wilhelm Scheer, Herausgeber IM+io
(Titelbild: © AdobeStock | |279293027| |Valmedia)
Wann haben Sie das letzte Mal ein Produkt gesehen, das mit dem Blauen Engel gekennzeichnet war? Dieses Umweltzeichen wurde vor über 40 Jahren als Qualitätssiegel eingeführt. Es sollte Verbrauchern eine verlässliche Orientierung beim umweltbewussten Einkauf geben. Die gezielte Nachfrage nach umweltschonenden Produkten sollte ökologische Produktinnovationen fördern und Umweltbelastungen reduzieren. Zugrunde lag damals schon die Idee der Kreislaufwirtschaft, denn Langlebigkeit, reduzierter Energieverbrauch und Recyclingfähigkeit waren wichtige Suchkriterien für die Zertifizierung. Irgendwann geriet der blaue Engel in Vergessenheit, ebenso wie der Ursprung des Grünen Punktes, der eine echte Kreislaufwirtschaft durch verpflichtendes Recycling begründen sollte. Wie gewissenhaft die Mülltrennung tatsächlich stattfindet, sei dahingestellt. Die Tatsache, dass nur ein Bruchteil des Abfalls tatsächlich zu neuen Produkten aufbereitet wird, interessierte bis vor Kurzem nur wenige. Gestörte Lieferketten, wachsende und zugleich gefährliche Abhängigkeiten von Rohstofflieferanten und, ganz aktuell, eine Verknappung und Verteuerung vieler Rohstoffe und Produkte durch den Krieg in der Ukraine zwingen nun zum Umdenken.
Mangelwirtschaft, gepaart mit einem deutlichen Bewusstsein bezüglich Umwelt- und Klimagefahren, macht Recycling, den Ansatz des Second Life von Produkten, wieder attraktiv. Wichtig ist aber, dass wir dabei nicht der Gefahr erliegen, alte Ideen zu recyclen. Das wäre ein verführerisches Gift, weil man entsprechende Aktivitäten sehr schnell umsetzen kann. Wir müssen aber weg vom „end of the pipe“-Prinzip, bei dem es nur um Entsorgung oder Verwertung und damit um Schadensbegrenzung geht. Der Blick muss auf den „cradle to cradle“-Zyklus gelenkt werden. Rohstoffe sollen von vorneherein sparsam sowie transparent eingesetzt werden und idealiter so, dass sie hochwertig wiederverwertet werden können. Das geht nur mit innovativen Ansätzen – selbst wenn diese etwas Zeit brauchen, bis sie verlässlich umgesetzt werden können. Dabei wird der Einsatz moderner Technologie – und ganz besonders digitaler Prozesse – eine große Rolle spielen.
Mit den Ansätzen einer neuen Produktpolitik der EU, die im „European Green Deal“ und dem „Circular Economy Action Plan“ umrissen sind, werden aus Brüssel Impulse für innovative Lösungen gesetzt. Als wichtiges Instrument wird das Konzept des digitalen Produktpasses vorgestellt. Dieser soll unter anderem Informationen über Herkunft, Zusammensetzung, Reparatur- und Demontagemöglichkeiten eines Produktes sowie über die Handhabung am Ende seiner Lebensdauer liefern. Die Daten stammen aus allen Phasen des Produktlebenszyklus und sollen für die Optimierung von Design, Herstellung, Nutzung und Entsorgung genutzt werden können. Die Standardisierung der Datenerfassung und -verarbeitung ermöglicht allen Beteiligten in der Wertschöpfungs- und Lieferkette, eine Kreislaufwirtschaft aufzubauen. Ein Anfang dafür ist gemacht – hier geht neben der Bauwirtschaft vor allem die Automobilindustrie voran. Digitale Produktpässe werden von Autoherstellern bereits in groß angelegten Modellprojekten praxisnah erprobt. Dabei ergibt sich eine Win-win-Situation, denn nicht nur Klima und Umwelt werden geschützt, zugleich eröffnet sich die Möglichkeit, Liefer- und Prozessketten zu optimieren. Ich freue mich, dass auch meine eigene Forschungseinrichtung, das August-Wilhelm Scheer Institut für digitale Produkte und Prozesse, an dieser Entwicklung maßgeblich beteiligt ist.
Wichtige Impulse zur Kreislaufwirtschaft kommen aus der Forschung. Als Beispiel sei der neue Saarbrücker Forschungsverbund „DEPART!Saar“ genannt, an dem unter anderem die Universität des Saarlandes und die Saarbrücker Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) beteiligt sind. Hier will man durch sogenannte Elastokalorik, die Luft durch neue Materialien direkt kühlt oder erwärmt, die Kühl- und Klimatechnik revolutionieren. Bei Kühlsystemen sei die Elastokalorik bereits jetzt um den Faktor 10 effizienter, bei Wärmepumpen um den Faktor 4. Ausgangspunkt sind sogenannte superelastische Nickel-Titan-Legierungen, die man bisher nur aus der Biomedizin kannte. Noch müssen die verwendeten Materialien im Rahmen des auf neun Jahre angelegten Forschungsprojektes optimiert werden. Sollte sich die Elastokalorik aber durchsetzen, könnte das einen maßgeblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Anders als bei Seltenen Erden gibt es große Vorkommen an Titan und Nickel, doch die Forscher denken im Sinne der Kreislaufwirtschaft weiter – an eine Innovation, die sich aus der innovativen Ursprungsidee entwickelt hat: Es geht um eine neue Form der Recycling-Industrie, basierend auf der Tatsache, dass die in dem neuen Verfahren eingesetzten Metalle wiederverwertbar sind. Sie können bei Verschleiß eingeschmolzen und neu verwendet werden. So entsteht dann ein abfallfreier vollständiger Recyclingkreislauf.
Diese effiziente und klimafreundliche Technologie wird, wie manche andere, nicht heute und morgen realisierbar sein, aber ihr könnte die Zukunft gehören – eine Zukunft, die nicht nur das Klima schützt, sondern auch neue, sichere Perspektiven für Unternehmen und Arbeitnehmende schaffen kann. Wir brauchen viele solcher Projekte. Diese sind deutlich zielführender als zu kleben, zu regulieren und vorzuschreiben! Wir brauchen Forschungseinrichtungen sowie Unternehmen, die den Mut haben, den Herausforderungen mit ganz neuen Ideen zu begegnen. Die Aufgaben sind komplex, aber ich bin sicher, dass sich der Invest lohnt.