Mit virtuellen Werkstätten zu mehr Inklusion
Wie virtuelle Realität die Ausbildung in der Kfz-Branche revolutioniert
Simon Bender, August-Wilhelm Scheer Institut
Kurz & Bündig
Im Projekt InKraFT werden in der Ausbildung digitale Lernmedien eingesetzt, um Inklusionen im Kfz-Gewerbe zu ermöglichen und das aktuelle Training gezielt zu bereichern. Dies geschieht mittels barrierefreier Virtual Reality Trainings, welche den Auszubildenden über eine adaptive Lernplattform zur Verfügung gestellt werden. Nach Abschluss einer theoretischen Online-Lektion können die vermittelten Inhalte über VR anschließend praktisch und sicher erprobt werden. Wie in der klassischen Ausbildung wird Theorie eng mit praktischer Erfahrung verknüpft und vermittelt somit nachhaltig Wissen.
Nehmen Sie sich einen kurzen Moment Zeit und überlegen Sie sich, was Sie gerade in Ihrem Leben als Ihre größte Herausforderung bezeichnen würden. Was ist es, das Sie vielleicht schon eine Weile lang umsetzen möchten – egal ob privat oder beruflich? Vielleicht kämpfen Sie mit einer Überbelastung bei der Arbeit und versuchen, zur Ruhe zu kommen. Oder Sie möchten sich im Bereich Projektmanagement weiterbilden, wären eigentlich gern Führungskraft und wissen nicht, wie Sie das erreichen können. Oder aber Sie versuchen schon lange, „mal wieder häufiger“ Sport zu treiben?
Das duale Ausbildungssystem ist in Deutschland fest verankert und wird international bewundert. Sogar der einstige US-Präsident Barack Obama pries die kombinierte Ausbildung in Berufsschule und Betrieb einst in einer Rede zur Lage der Nation vor Millionen Zuschauern als vorbildlich an. Auch das Deutsche Handwerk wird in diesem System bereits seit Jahrzehnten ausgebildet und steht für Qualität und Tradition. Dass letzteres auch technische Innovation nicht ausschließt, zeigt das Projekt InKraFT, das aus einem Konsortium von Partnern aus Wissenschaft und Wirtschaft realisiert wurde und das Ziel hat, die Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker durch Virtual-Reality-(VR)-Lerneinheiten anzureichern und somit das individuelle Lernen der Auszubildenden zu fördern.
Dabei wird nicht versucht, die bestehende Ausbildung zu ersetzen, sondern das VR-Training geschickt in die curricularen Strukturen der Berufsschule einzubinden und mit klassischen Lehransätzen zu kombinieren. Als Basis zur Vermittlung von theoretischen Inhalten dient eine Webplattform, die in sogenannten Web Based Trainings (WBTs) die Grundlagen des Ausbildungskurses GK4/15 vermittelt. Dieser Kurs ist Pflichtprogramm für jeden Lehrling im ersten Ausbildungsjahr und vermittelt die Grundlagen für die Instandsetzung von einzelnen Fahrzeugbaugruppen. Der eigentliche Fokus des GK4/15 liegt jedoch in der Vermittlung von praktischem Wissen, d. h. die Azubis versammeln sich in kleinen Gruppen in den Lehrwerkstätten der Berufsschule und demontieren bzw. montieren zum ersten Mal in ihrer Ausbildung ganze Motoren und Bremsanlagen. InKraFT nutzt diesen praktischen Fokus und bringt die Ausbildungsinhalte in die Virtual Reality. Gleichzeitig werden sie mit den WBTs verknüpft, sodass nach einer theoretischen Lerneinheit das zugehörige VR-Training per Knopfdruck gestartet werden kann.
Die virtuelle Umgebung ermöglicht es den Studierenden, im Rahmen der offiziellen Ausbildung praktische Fertigkeiten zu erlernen, und legt viel Wert auf die Authentizität der Lehrinhalte und Arbeitsprozesse. Vor der Integration wurden die praktischen Tätigkeiten und der Ablauf von Prozessen und Handlungen von einem erfahrenen Mechaniker detailliert erfasst und dokumentiert. Anschließend wurde die Abfolge der einzelnen Schritte auf die VR- Umgebung übertragen und in ein übergreifendes didaktisches Konzept eingebettet. Dazu gehören insbeson dere die Prozesse der Demontage und Montage eines Motors und einer Bremsanlage, das Messen und Prüfen der Zylinder und die Durchführung eines Kompressionsdrucktests. Das virtuelle Training der immersiven Lernumgebung bietet den Auszubildenden einen sicheren Raum für ein individuelles Lernen und die Möglichkeit, in ihrem eigenen Tempo die Lehrinhalte und die praktischen Bewegungsabläufe zu verinnerlichen. Da bei den meisten Lehrlingen nur wenig bis kein praktisches Vorwissen vorhanden ist, vermittelt die VR-Anwendung die Arbeitsschritte über sehr kleinteilige Instruktionen, sodass der Nutzer Schritt für Schritt die notwendigen Prozesse erlernen kann. Das Vermitteln dieser Schritte über das Zwei-Sinne-Prinzip (auditiv & visuell) in Verbindung mit dem darauffolgenden Tun hilft dabei, das Wissen dauerhaft zu festigen. Über einen speziellen Prüfungsmodus kann der Nutzer anschließend die Aufgaben auch ohne Hilfestellungen erledigen und sich selbst auf die Probe stellen.
Die Vorteile von Virtual-Reality-Trainings in der Ausbildung hat auch das Berufsbildungszentrum in Iserlohn für sich erkannt und bietet seinen Kfz-Lehrlingen seit neuestem einen speziellen VR-Raum an. Dort läuft die InKraFT- Anwendung parallel zur Ausbildung in der Lehrwerkstatt. Bevor die Azubis an die echten Motoren herandürfen, lernen und üben sie die Schritte in der virtuellen Werkstatt. Das spart Zeit und Ressourcen, steigert deutlich die Motivation der Jugendlichen und fördert gleichzeitig den Lernerfolg. Erste Evaluationsergebnisse belegen die stark erhöhte Motivation der Anwender sowie einen verstärkten Wissenstransfer in die Praxis.
Neben der virtuellen Arbeitsumgebung, in der die Studierenden ihre praktischen Fähigkeiten trainieren können, ist die VR-Anwendung auch mit einem Lernraum ausgestattet, in dem 360-Grad-Videos mit theoretischen Inhalten angesehen werden können. Die Videos wurden von anderen Auszubildenden erstellt und bieten kleine Lern-Nuggets zu verschiedenen Themen des Grundkurses sowie darauf aufbauenden Inhalten mit weiterführenden Themen, die zur Bearbeitung der praktischen Inhalte herangezogen werden können oder vertiefende Kenntnisse vermitteln.
Kennzeichnend für das Projekt InKraFT, mit dem vollständigen Namen „Inklusion in der beruflichen Bildung am konkreten Fall der Kfz-Mechatronik mittels Virtual Reality Technologie“, ist die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in das berufliche Lernen mit dem speziellen Fokus auf das Kfz-Gewerbe. Ziel ist es, hier entweder eine Ausbildung im Kfz-Handwerk zu ermöglichen und Tätigkeiten, die in den bestehenden Ausbildungsstrukturen aufgrund einer körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigung nicht geleistet werden können, durch ein VR-Training zu unterstützen oder langjährigen Mitarbeitern, die nicht mehr in dem Beruf arbeiten können, eine Weiterbeschäftigung zu ermöglichen. Durch die harte körperliche Arbeit ist die Berufsgruppe überdurchschnittlich oft von Krankheiten oder Unfällen betroffen, die eine Berufsunfähigkeit zur Folge haben. Diese Personen scheiden dann in der Regel aus dem Betrieb aus, verfügen allerdings über eine jahrzehntelange Erfahrung mit einem entsprechenden Expertenwissen. An diesem Punkt setzt die in dem Projekt entwickelte Software an und bietet Lösungen für den Einsatz in beiden Szenarien. Zum einen durch das besondere Design der 3D-Umgebung und zum anderen durch die Realisierung eines 360°-Livestreams aus der Werkstatt in den VR- Lernraum für immersive Direktschulungen oder als remote Unterstützung für unerfahrene Azubis durch ehemalige Gesellen oder Meister. Insbesondere in Zeiten von COVID-19 können dadurch ortsunabhängige Lehrund Unterstützungsszenarien realisiert werden, die trotz der Entfernung das Gefühl vermitteln, direkt in der Werkstatt zu stehen.
Die barrierefreie Gestaltung von Virtual- Reality-Anwendungen stellt eine große Herausforderung dar, denn die klassischen Möglichkeiten zur Bedienung und Interaktion mit den 3D- Elementen erfordern in der Regel einen hohen physischen Einsatz, den nicht jede Person leisten kann. Die Erfahrung im Projekt InKraFT hat gezeigt, dass es keine perfekte Lösung gibt, die für alle passt, sondern dass es darauf ankommt, Alternativen anzubieten, mit denen der Anwender die 3D-Anwendung individuell an seine Bedürfnisse anpassen kann. Zwei wesentliche Merkmale jeder VR-Umgebung sind Bewegung und Interaktion. Eine barrierefreie Umsetzung dieser Funktionalitäten muss softwareund hardwareseitig beantwortet werden und hängt auch von der Frage ab, auf welchem Zielsystem die Software laufen soll, da sich insbesondere die aktuellen Hardwaregeräte am Markt deutlich voneinander unterscheiden. Möglichkeiten, um hier eine Individualisierung zu ermöglichen, bieten Zusatzgeräte von Drittanbietern, wie z. B. der Adaptive Controller von Microsoft. Das Gerät bietet ein extra großes Layout mit diversen Buttons für die Eingaben der Nutzer und darüber hinaus zahlreiche Schnittstellen für individualisierbares Zusatzequipment wie einen Joystick oder weitere Knöpfe, die auch an Rollstühlen befestigt werden können, sodass der nötige Bewegungsaufwand reduziert wird.
Doch auch die Anwendung selbst muss auf ein möglichst barrierefreies Design für die Anwender Rücksicht nehmen. Die Aufgaben in einer virtuellen Lernumgebung sind vielseitig und oft sehr komplex. Aus diesem Grund sollten sie in möglichst kleine Schritte unterteilt und immer so dargestellt werden, dass der Benutzer sie mit mindestens zwei seiner Sinne wahrnehmen kann. In InKraFT werden alle Teilschritte vom System vorgelesen, sodass auch Menschen mit Lesebehinderungen noch eine Chance haben, die nächsten notwendigen Schritte zu verstehen. Alle Textinhalte und Audio-Anweisungen sind mehrsprachig umgesetzt, sodass auch Sprachbarrieren vermieden werden können. Führt der Benutzer einen Teilschritt aus, wird dies mit einem positiven akustischen Feedback bestätigt. Erledigt er eine ganze Aufgabe, erhält er eine Auszeichnung zur Steigerung der Motivation und Ausdauer. Das Entfernen und Anbringen der entscheidenden Schrauben erfordert in der Regel auch einen gewissen körperlichen Aufwand, für den Mechaniker mit mehr Berufserfahrung ein „Gefühl“ bekommen. Dies ist in einem virtuellen Raum schwer zu reproduzieren. Da InKraFT als „Outofthe-Box“-Lösung für den Einsatz im Bereich der beruflichen Bildung konzipiert wurde, wurde ein haptisches Feedback nur in Form von Vibrationen umgesetzt und kann so z. B. Widerstände beim Schrauben simulieren. Hier sind sicherlich die Grenzen eines virtuellen Trainings erkennen, insbesondere wenn es um handwerkliche Prozesse mit Anforderungen an feinmotorische Fähigkeiten auf Grundlage von Sinneswahrnehmungen geht.