Kurz & Bündig
Wir leben im Informationszeitalter: Es ist eigentlich kein Geheimnis mehr, wie sich eine gute Führungskraft verhält, wie Stressmanagement funktioniert oder wie wir uns ernähren müssen, damit es unserem Körper gutgeht. Zu jedem Zeitpunkt an fast jedem Ort können wir auf all diese Informationen zugreifen. Würden wir allerdings eine Bilanz ziehen, wie viel der verfügbaren Informationen erfolgreich umgesetzt werden, sähe diese katastrophal aus. Es gibt viele Wege, die Umsetzung zu lernen. Ein bisher sehr wenig beschrittener Weg verläuft über unseren Körper und körperliche Bewegung.
Nehmen Sie sich einen kurzen Moment Zeit und überlegen Sie sich, was Sie gerade in Ihrem Leben als Ihre größte Herausforderung bezeichnen würden. Was ist es, das Sie vielleicht schon eine Weile lang umsetzen möchten – egal ob privat oder beruflich? Vielleicht kämpfen Sie mit einer Überbelastung bei der Arbeit und versuchen, zur Ruhe zu kommen. Oder Sie möchten sich im Bereich Projektmanagement weiterbilden, wären eigentlich gern Führungskraft und wissen nicht, wie Sie das erreichen können. Oder aber Sie versuchen schon lange, „mal wieder häufiger“ Sport zu treiben?
Haben Sie Ihre Herausforderung gefunden? Gut. Ich wette jetzt mit Ihnen. Und zwar wette ich, dass Sie, wenn Sie jetzt eine Stunde lang intensiv online recherchieren, so viele Kurse, Podcasts, Videos, Blogs, Bücher und so weiter finden werden, die Ihnen bei Ihrer Herausforderung helfen können, wie Sie in einem Jahr konsumieren können – selbst wenn Sie sich jeden Tag 24 Stunden lang damit beschäftigen würden. Je nachdem, wie Ihre Herausforderung aussieht, sprechen wir wahrscheinlich eher über zehn oder 20 Jahre für Material und nicht nur über eines. Das ist ein erstaunlicher Aspekt der Zeit, in der wir leben. Mittlerweile verdoppelt sich die Information, die uns zur Verfügung steht, jeden Tag. Im Vergleich zu den Menschen, die vor etwa 2.000 Jahren lebten, haben wir also mehr als genug Antworten auf unsere Fragen. Trotzdem behaupte ich, dass es uns nicht besser gelingt, das Wissen anzuwenden. Das stellt uns vor eine gänzlich andere Herausforderung. Nämlich wie es uns gelingt, im richtigen Moment an die richtige Information zu kommen, mit der wir unsere Herausforde – rung bewältigen können. Und zusätzlich dazu die Information auch wirklich umzusetzen. Darüber hinaus gibt es auch so viele Dinge, die wir eigentlich wüssten – aber wir scheitern dar – an, sie zu implementieren. Der US-amerikanische Zukunftsforscher und Philosoph Alvin Toffler prägte den Satz: “The illiterate of the 21st century will not be those who cannot read and write, but those who cannot learn, unlearn and relearn.” Damit unterstreicht er unsere gegenwärtige Herausforde – rung: Wie integrieren wir immer wieder neue Erkenntnisse in unseren Alltag und in unsere Arbeit? Wie unterscheiden wir hilfreiche Informationen von nutzlosen? Paradoxerweise ist die Lernfähigkeit, von der Toffler spricht, jedem von uns angeboren. Sie wird uns nur in einem Bildungssystem abtrainiert, in dem das Hauptaugenmerk überwiegend auf der reinen Wiedergabe beziehungsweise Reproduktion von Informationen liegt, jedoch soll das hier nicht zentrales Thema sein. Viel wichtiger ist, dass wir diese Fähigkeit jederzeit reaktivieren können. Dies lässt sich be – sonders gut üben, wenn wir uns mit den Inhalten beschäftigen, auf die wir uns als Säuglinge fokus – siert haben: körperliche Bewegung und Wahrnehmung. Bewegung ermöglicht uns den Zugang zu einer Dimension, auf die wir in anderen Bereichen kaum zugreifen können: unser Bewusstsein. Jedoch spielt in unserer stark konsumund ergebnisorientierten Gesellschaft körperliche Bewegung leider eine untergeordnete Rolle. Viele Menschen sehen ihren Körper nur als Transportmittel für den Kopf, irgendwie muss das Gehirn schließlich getragen werden. Ein weiterer großer Teil der Bevölkerung versteht den Körper als Objekt, das als Aushängeschild für „Gesundheit“ gepflegt und trainiert werden muss. Oder der Körper ist das Mittel zum Zweck, um einen Ausgleich für den stressigen Alltag zu finden. Diese Denkweise existiert bei uns spätestens seit der Aufklärung, beziehungsweise seit René Descartes den Dualismus von Körper und Geist vertrat. Doch spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts beginnt sich dieses Bild auch bei uns zu wandeln. Was möglich ist, wenn wir Geist und Körper als eine Einheit begreifen – und uns über körperliche Bewegung mit unserem gesamten Organismus beschäftigen, bringt Moshé Feldenkrais in diesem Satz auf den Punkt: „Wenn Sie wissen, was Sie tun, und noch viel wichtiger, wie Sie dabei von sich Gebrauch machen, werden Sie auch so handeln können, wie Sie sich’s sonst bloß gewünscht hätten.“ Denn durch körperliche Bewegung können wir eine Bewusstheit über unser absichtliches Handeln erlangen, wie durch kaum eine andere Tätigkeit. Und es ist genau diese Bewusstheit über uns, die wir brauchen, um unsere persönlichen Herausforderungen des Alltags zu meistern. Wenn wir einerseits die Bewusstheit für unser Tun entwickeln, fällt es uns andererseits viel leichter, aus der Menge der verfügbaren Informationen diejenigen auszuwählen, die uns weiterhelfen.
Der Handstand als Beispiel für die Umsetzung
Am Beispiel eines Handstands lässt sich dieser Prozess gut veranschaulichen. Dieses Beispiel zeigt, dass das Erlernen des Handstands eigentlich nicht die Absicht, sondern im Prinzip das Nebenprodukt ist. Die eigentliche Absicht besteht darin, eine Bewusstheit über das eigene Handeln zu entwickeln und zu lernen, wie externe Informationen idealerweise in den Lernprozess eingebunden werden. Gehen wir einmal davon aus, dass Sie einen Handstand lernen möchten; aber nicht nur „einfach so“ mal kurz auf zwei Händen stehen, sondern kerzengerade für mindestens 20 oder 30 Sekunden. Dann treten Sie damit in einen „zyklischen Lernprozess“ ein. Dafür existieren unterschiedliche Modelle, aber ich verwende zur Verdeutlichung Ausprobieren, Informieren, Implementieren und Reflektieren als einzelne Schritte. Das Faszinierende an dem zyklischen Lernprozess ist, dass Sie den Kreislauf an jedem der einzelnen Schritte betreten können – und letztlich auch wieder in jede Richtung verlassen können. Ihr Einstieg in den Lernprozess könnte eine neue Information sein, wie zum Beispiel, dass die aktive Schultermobilität ausschlaggebend für einen geraden Handstand ist. Oder Sie könnten in den Lernprozess eintreten, indem Sie aus Spaß ausprobieren, wie es sich anfühlt, auf ihren Händen zu stehen. Es spielt keine Rolle, wie Sie den Lernprozess beginnen, sondern nur, wie Sie fortfahren. Wenn Sie zum Beispiel mit dem Ausprobieren begonnen haben, entstehen dadurch automatisch konkrete Fragen, die sich auf ihre aktuelle Fä- higkeit (oder Unfähigkeit am Anfang) beziehen. Fragen wie „Wo schaue ich hin?“, „Wie platziere ich meine Hände?“ oder „Wie kann ich mein Gewicht halten?“ führen alle zum nächsten Schritt im Zyklus, dem „Informieren“. Bereits hier gibt es einen deutlichen Unterschied, je nachdem, ob Sie zuvor bewusst ausprobiert haben oder einfach nur durch Informationen scrollen. Denn durch das Ausprobieren bekommen die Informationen einen Kontext: Wie ein Puzzlestück, nach dem Sie suchen, sind Sie durch das Ausprobieren in der Lage, eine präzisere Frage zu stellen. Durch das Ausprobieren machen Sie sich also bewusst, wo gerade Ihre größte Baustelle liegt – „wie Sie von sich Gebrauch machen“ (wie Feldenkrais sagen würde). Das schärft Ihren Blick beim „Informieren“ und hilft Ihnen dann beim „Implementieren“. Im Grunde ist Imple – mentieren als nächster Schritt im zyklischen Lernmodell so etwas wie Ausprobieren für Fortgeschrittene. Sie nehmen dann eine ganz spezifische Information auf, wie zum Beispiel „Fingerspitzen nahe an die Handflächen heran, die Hände greifen den Boden“, auf die Sie als Antwort auf eine Frage („Wie kann ich besser Kraft mit den Fingern auf den Boden ausüben, um nicht immer umzufallen?“) gekommen sind. Dann verbleibt in diesem einen Zyklus nur noch das Reflektieren. Wie ist es mir gelungen, die Information umzusetzen? Habe ich die richtige Frage gestellt? Beantwortet die Information meine Frage? Wie gelingt es mir? Warum schaffe ich es nicht? Egal, wie die Antworten auf diese Fragen ausfallen, werden Sie wieder mit dem Ausprobieren fortfahren können, um einen neuen Zyklus zu starten. Wenn Sie das so fortset – zen, werden Sie irgendwann kerzengerade auf ihren beiden Händen stehen können (außer Sie verlieren vorher das Interesse daran …).
Die Verbindung zu Ihrer persönlichen Herausforderung
Angenommen, Sie entwickeln so die Fähigkeit, Informationen in Aktionen umzuwandeln, dann hätten Sie ja noch lange nicht Ihre persönliche Herausforderung gelöst. Nur weil Sie einen Hand – stand können, können Sie ja noch lange nicht Java programmieren, sind keine authentische Führungskraft oder sind Profi im Projektmanagement. Aber Sie haben jetzt das grundlegende Handwerkszeug, das Sie brauchen, um Ihre persönliche Herausforderung zu bewältigen. Sie haben zum Beispiel gelernt, sich selbst so objektiv wie möglich zu beobachten: Wenn Sie beim Handstand wieder und wieder umfallen, können Sie natürlich eine Verschwörung der Schwerkraft gegen sich selbst vermuten. Oder aber Sie finden einen Weg mittels eines Trainingspartners, einer Wand oder eines Videos, um herauszufinden, ob Sie vielleicht einfach schief stehen. Für Ihre persönliche Herausforderung ist diese Erkenntnis essenziell. Sie haben auch gelernt, dass unterschiedliche Prozesse unterschiedlich viel Zeit in Anspruch nehmen. Muskeln bilden und regenerieren sich sehr schnell – während Sehnen, Bänder oder Knochen teilweise Wochen oder Monate brauchen, um sich einer neuartigen Belastung anzupassen. Egal, welche Fähigkeit Sie sich gerade aneignen wollen – Sie werden nicht so hart mit sich selbst ins Gericht gehen, weil Sie feststellen, dass jegliches Lernen ein physischer Prozess ist. Sie haben gelernt, eine „gute Information“ von „Bro Science“ zu unterscheiden. Heutzutage gibt es praktisch für niemanden mehr ein Hin – dernis, Informationen online zur Verfügung zu stellen. Das steigert die Anforderungen für die – jenigen, die sich nach guten Quellen und hilfreichen Informationen umsehen. Durch bewusstes Ausprobieren haben Sie allerdings gelernt, prä – zise Fragen zu stellen. J e genauer Ihre Fragestellung wird, desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass Sie einer Fehlinformation glauben.
Was können Sie konkret tun?
Unsere Herausforderung besteht im Grund darin, wieder zu unserer natürlichen Lernfähigkeit zurückzufinden, denn die Informationen sind eigentlich alle da – wir müssen nur lernen, sie umzusetzen. Wenn Sie dafür den Weg über bewusste, körperliche Bewegung wählen, werden Sie Ihre natürliche Lernfähigkeit reaktivieren können. Dafür eignen sich auch viele andere motorische Herausforderungen, vorausgesetzt, diese beschäftigen Sie länger als ein paar Stunden, und Sie haben die Möglichkeit, sich intensiv damit auseinanderzusetzen. Wenn Ihnen das gelingt und Sie dadurch zu der Erkenntnis gelangen, „wie Sie von sich Gebrauch machen“, dann werden Sie jede Ihrer Herausforderungen bewältigen können.