Einer der ersten Forscher, der sich mit dieser Frage befasste, war in den 70er Jahren der israelisch-amerikanische Psychologe Daniel Kahnemann. Er und sein Kollege Amos Tversky hatten ein Modell menschlicher Entscheidung entwickelt, für das Kahnemann im Jahr 2002 den Wirtschafts-Nobelpreis erhielt. Das Modell besagt, dass Menschen bei Entscheidungen erwartete Verluste stärker gewichten als Gewinne. Vorher wurde entsprechend dem sogenannten Bernoulli-Prinzip angenommen, dass der Entscheider sich mehr an dem Erwartungswert des Nutzens ausrichtet.
Ein Beispiel: Fragt man Menschen, ob sie an einem Spiel teilnehmen wollen, bei dem sie mit identischer Wahrscheinlichkeit entweder 150 Euro gewinnen oder 100 Euro verlieren können, lehnen die meisten ab. Diese Risikoscheu, die als „Verlustaversion“ in die ökonomischen Lehrbücher einging, ist tief im Mensch verankert, zeigen die Forscher.
Seither sind zahlreiche Experimente zu dieser Thematik durchgeführt und neue Konzepte der Präferenzfindung entwickelt worden. Wenn man sich die bisherigen Ergebnisse anschaut, so kann man als Fazit ziehen, dass sich Menschen häufig irrational verhalten und sich von einfachen Tricks verführen lassen. Dan Ariely, Professor am Massachusetts Institute of Technology sagt: „Unsere Vernunft, mit der wir Entscheidungen treffen, kaufen, verhandeln, zwischen mehreren Organisationen wählen, ist keineswegs chaotisch, zufällig oder willkürlich – sie hat System und lässt sich vorhersagen“. Damit sind Menschen steuerbar, was sich unter anderem Marketingabteilungen zunutze machen. So hat es beispielsweise einen Einfluss auf unsere Entscheidungen, in welcher Reihenfolge und mit welchen Worten Alternativen präsentiert werden. Man nennt das Framing. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist die Dessertauswahl in Kantinen. So entscheiden sich Kunden öfter für Obst als Nachspeise, wenn es besser sichtbar und erreichbar platziert wird als Süßigkeiten.
Es gibt heute eine Reihe anerkannter Modelle, die beschreiben, wie sich im Grunde jeder Mensch in die Irrationalität führen lässt. Mit dieser Analyse der menschlichen Schwächen befasst sich die Verhaltensökonomie.
So hat beispielsweise das Wörtchen „gratis“ eine enorm starke Anziehungswirkung. Die Aufmerksamkeit und das Kaufinteresse steigen sofort überproportional. Man nennt dies „Zero-Price-Effect“.
Damit Menschen sich für etwas für sie Positives entscheiden, braucht es lediglich die richtigen Rahmenbedingungen und eine kleine Verstärkung in diese Richtung. Man spricht von sogenannten „Schubsern“. Richard Thaler, Professor an der Universität Chicago, hat darüber sein Buch „Nudge“ geschrieben. „Nudges“ sind sanfte, aber entschiedene Schubser, die den Menschen zu Entscheidungen in Richtung besserer Gesundheit, Wohlstand und Zufriedenheit anregen. Institutionen und Regierungen setzen diese wissenschaftlichen Erkenntnisse bereits ein, um Entscheidungsrahmen zu schaffen, die den Menschen auf den ihrer Meinung nach richtigen Weg bringen.
So lässt sich US-Präsident Barack Obama von Cass Sunstein, einem Harvard-Juristen und Anhänger der Verhaltensökonomie, beraten. Dieser sagt, dass man ohne Gesetze und Verordnungen seine Ziele erreichen kann. Der britische Premier David Cameron hat ein „Behavioural Inside Team“ gegründet. Auch Angela Merkel hat neuerdings einen Beraterstab für Verhaltensökonomie berufen. Drei Experten sollen der Kanzlerin beim „wirksamen Regieren“ helfen. Der Staat nutzt dabei die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie, baut in Gesetze kleine Kniffe ein und bringt Bürger über kleine „Schubser“ dazu, Energie zu sparen, fürs Alter vorzusorgen oder sich gesünder zu ernähren.
Unternehmen können die „Nudge“-Effekte auch zum Wohle ihrer Mitarbeiter einsetzen. Es gibt Firmen, die ihre Mitarbeiter automatisch in eine betriebliche Altersvorsorge aufnehmen. Wer das nicht will, muss aktiv widersprechen. „Wir haben festgestellt, dass solche Standardsetzungen viel effektiver sind, als Menschen über steuerliche Anreize in die private Altersvorsorge zu bekommen.“, sagt Sunstein. Andere Unternehmen stellen Drucker auf, die standardmäßig das Papier beidseitig bedrucken. Wen das stört, der muss die Einstellung selbst ändern.
Mit „Nudging“ entsteht eine neue Form der ökonomisch sanktionierten Bevormundung. Autoversicherer allerdings berechnen ihre Tarife schon lange über eine ständige Vermessung des Verhaltens. Unfallfreie Fahrer werden durch niedrige Tarife belohnt. Kritisch wird es dort, wo sich das Netz zum gesellschaftlichen Steuerungsinstrument entwickelt bzw. wo es zu einer ständigen digitalen Bevormundung kommt und Freiheiten eingeschränkt werden. Dies ist der Fall, wenn Verhalten ständig vermessen wird, die Auswertung in Echtzeit erfolgt und das Verhalten sofort ökonomisch sanktioniert wird.
Als ein Beispiel kann eine Krankenversicherung genannt werden, die einen neuen Tarif anbietet, bei der man mit einer App ständig sein Verhalten misst und an die Versicherung meldet. Diejenigen, die sich „gesünder“ verhalten, also beispielsweise mehr Sport treiben, ausreichend schlafen und nicht rauchen, bekommen Vergünstigungen. Der Versicherte wird dadurch ständig kontrolliert. Dies ist eine kritische Anwendung der Verhaltensökonomie.
Alles, was messbar ist, lässt sich so profilbasiert auswerten. In der direkten Folge wird das Verhalten im Alltag ökonomisiert. Jede Entscheidung bekommt potenziell ein Preisschild, die Entscheidung für einen Fallschirmsprung ebenso wie die Vollbremsung im Auto.
Trotzdem sind die Erkenntnisse der Verhaltensökonomie wertvoll. Sie helfen, das Entscheidungsverhalten von Managern und Konsumenten zu erklären. „Nudges“ sind hilfreich um positives Verhalten zu verstärken, ohne die Freiheit einzuschränken. Kritisch wird ihr Einsatz, wenn sie zu einer ständigen Überwachung, Auswertung und Steuerung des Verhaltens eingesetzt werden.
Rosemarie Clarner