Jahrhundertaufgabe grüner Stahl
Sanieren, Modernisieren, Dekarbonisieren
Jonathan Weber, Stahl-Holding-Saar GmbH & Co. KGaA
(Titelbild: © SHS – Stahl-Holding-Saar GmbH & Co. KGaA)
Kurz und Bündig
Die SHS-Gruppe – und mit ihr die gesamte europäische Stahlindustrie – muss nicht nur die traditionelle Technologie zur Stahlherstellung vollständig ersetzen, sondern gleichzeitig eine vollkommen neue Wertschöpfungskette, basierend auf direkt reduziertem Eisen (DRI), Schrott, grünem Strom und grünem Wasserstoff, aufbauen. Gleichzeitig wird die SHS-Stahl-Holding-Saar ihre gesamte System- und Prozesslandschaft innerhalb kürzester Zeit modernisieren, um schneller und besser auf die extreme Volatilität im Stahlmarkt reagieren zu können.
Die europäische und auch die saarländische Stahlindustrie stehen vor enormen Herausforderungen: Hoher Wettbewerbsdruck insbesondere durch Importe aus Drittländern, eine noch nie dagewesene Volatilität in den Lieferanten- und Absatzmärkten sowie fragile Lieferketten prägen das operative Umfeld. Gleichzeitig sind die Dekarbonisierungsziele für die Industrie durch das Maßnahmenpaket der EU-Kommission „fit for 55“ klar gesetzt und wurden von den Kunden der SHS-Stahl-Holding-Saar (SHS)für ihre Produkte übernommen. Die SHS mit den großen Unternehmen Aktiengesellschaft der Dillinger Hüttenwerke (Dillinger) und Saarstahl AG (Saarstahl) steht damit vor einer Jahrhundertaufgabe.
Die Transformation der saarländischen Stahlindustrie hin zur Produktion von sogenanntem „grünem“ – also CO2-armem – Stahl ist eine große Herausforderung. Um sich für diese Aufgabe zukunftssicher aufzustellen, haben die Unternehmen der SHS-Gruppe ein Transformationsprogramm mit den drei Bausteinen „Sanieren“, „Modernisieren“ und „Dekarbonisieren“ gestartet und zur Führung des Programms ein neues Vorstandsressort gegründet.
Sanieren
Im Baustein „Sanieren“ liegt der Fokus darauf, die Wettbewerbsfähigkeit in allen Unternehmensbereichen weiter auszubauen. Dazu wurde im ersten Schritt für die Kernbereiche von Dillinger und Saarstahl ein großes „Full Potential“-Kostenprogramm initiiert. Schwerpunkte des Programms waren unter anderem die Effizienzsteigerung in technischen und organisatorischen Prozessen sowie die Identifikation unternehmensübergreifender Synergien. Durch zielgerichtete Arbeit und mithilfe eines konsequenten Projektmanagements konnte eine strukturell wirkende jährliche Einsparung im mittleren dreistelligen Millionenbereich wirksam umgesetzt werden. Um diese Effekte nachhaltig zu sichern und weiter auszubauen, wird derzeit gruppenweit eine Systematik für einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) eingeführt. Hierbei ist das Ziel, eine Performance- und Effizienz-Kultur zu etablieren, die Jahr für Jahr die wichtigsten Key Performance Indicators und zentralen Werthebel stetig verbessert. Flankiert wird der kontinuierliche Verbesserungsprozess durch die Einführung des SHS-Lean-Systems, das die bewährten Methoden ganzheitlicher Shopfloor- und Produktionssysteme vereint und als Enabler für die Aktivitäten des KVP dient. Dieser kontinuierliche Prozess führt zu einer stabilen Kostenbasis als Ausgangspunkt für die vor uns liegenden Herausforderungen, gerade im Hinblick auf die investitionsintensiven Aktivitäten zur Dekarbonisierung der Stahlerzeugung.
Modernisieren
Die wichtigste Initiative im Baustein „Modernisieren“ ist die Umsetzung einer umfangreichen IT- und Digitalisierungs-Roadmap. Startpunkt war eine grundlegende Analyse der bestehenden System- und Prozesslandschaft, die gemeinsam mit den Fachbereichen durchgeführt wurde. Das Ergebnis zeigte eine recht fragmentierte Prozesslandkarte mit einem noch ausbaufähigen Standardisierungs-, Harmonisierungs- und Digitalisierungsgrad. Auf dieser Basis wurden Handlungsfelder identifiziert und konkrete Umsetzungsprojekte definiert und diese im Rahmen einer über fünf Jahre laufenden levelübergreifenden Roadmap priorisiert. Diese Roadmap adressiert sechs zentrale Handlungsfelder wie zum Beispiel:
- Standardisierung und Harmonisierung von Prozessen und Systemen als Teil der unternehmensweiten SAP-S4 Migration
- Umsetzung der funktionalen Anforderungen in den Verwaltungsbereichen sowie die Verbesserung der integrierten Planungs- und Steuerungsfähigkeit
- Die Konsolidierung von Systemen im Produktionsumfeld im Zuge der Green Steel-Transformation in Form eines „One MES-Systems“
- Intensivierung des Einsatzes von KI- und Data-Science-Modellen zur Optimierung der betrieblichen Abläufe und Digitalisierung von administrativen Workflows
Neben der Definition der Projekte ist die Organisation der Zusammenarbeit ein zentraler Erfolgsfaktor für die Unternehmen der SHS-Gruppe. Wichtig dabei ist, dass die Projekte von den Mitarbeitenden nicht als reine IT-Projekte, sondern als fachbereichsübergreifende Projekte wahrgenommen werden. Aus diesem Grund sind alle Projektteams mit Experten aus der IT sowie auch den Fachbereichen besetzt. Zur Steuerung des gesamthaften Programms wurden des Weiteren eine starke Projektkoordination sowie ein Program Office etabliert, welches das Monitoring und Berichtswesen, die Budgetkontrolle sowie das laufende Demand Management verantwortet.
Die Modernisierung beginnt hierbei nicht erst bei der Implementierung von Systemen, sondern startet bereits mit der ersten Einbeziehung der Mitarbeitenden in die Planungsprozesse. Denn auch eine perfekt aufgesetzte Kollaborationsplattform in der Cloud bringt nur wenig, wenn die Mitarbeitenden als Anwender – entweder bei der Technik oder aber auch dem Prozesswandel – nicht richtig eingebunden und mitgenommen werden. Ein zentraler Aspekt des Bausteins „Modernisieren“ ist deshalb die Schaffung eines Bewusstseins beziehungsweise eines inhaltlichen Verständnisses für die IT- und Digitalisierungsstrategie bei den involvierten Mitarbeitenden. Dies gelingt insbesondere mit intensiven Schulungsprogrammen, Workshops, Seminaren und Informationsveranstaltungen.
Auf dieser Grundlage – und mit der Rückendeckung der Mitarbeitenden – gelingt der Wandel zur Etablierung einer modernen, effizienten und effektiven System- und Prozesslandschaft in der SHS-Stahl-Holding-Saar.
Dekarbonisieren
Der Baustein „Dekarbonisieren“ umfasst nicht weniger als die quasi vollständige Umstellung der aktuellen Technologie zur Stahlherstellung auf eine CO2-arme Produktionstechnologie, was im Wesentlichen den Aufbau einer komplett neuen Wertschöpfungskette auf Basis von direkt reduziertem Eisen (DRI), Schrott, grünem Strom und grünem Wasserstoff bedeutet.
Die SHS-Stahl-Holding-Saar hat zur Erreichung der europäischen „fit for 55“-Anforderungen, die eine CO2-Reduktion um 50 Prozent bis 2030 vorsehen, eine ambitionierte Dekarbonisierungs-Roadmap definiert. Ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur Realisierung bestand im Jahr 2021 in der Akquisition des französischen Elektrostahlwerks Ascoval (heute Saarstahl Ascoval), mit welchem die SHS als einziges Stahlunternehmen in Europa bereits heute CO2-arme Schienen liefern kann. In einem zweiten Schritt sollen – vorbehaltlich öffentlicher Förderungen – in den kommenden Jahren die bestehenden Hochofen- und Stahlwerksanlagen an den Standorten Dillingen und Völklingen auf die neue Produktionsroute, bestehend aus Direktreduktionsanlage (DRI-Anlage) und Elektrolichtbogenöfen (EAFs), umgestellt werden.
Ganz konkret sollen bis 2027 eine DRI-Anlage mit einer Produktionskapazität von 2,5 Millionen Tonnen am Standort Dillingen sowie insgesamt zwei EAFs mit einer Gesamtkapazität von circa 3,5 Millionen Tonnen Flüssigstahl an den Standorten Dillingen und Völklingen in Betrieb genommen werden, was circa 3,5 Milliarden Euro an Investitionen erfordern wird. Die EAFs sollen von Beginn an mit grünem Strom und die DRI-Anlage zu einem substantiellen Teil mit grünem Wasserstoff betrieben werden – letzteres ist im industriellen Maßstab weltweit bisher noch nicht umgesetzt.
Die erforderlichen Wasserstoffkapazitäten, circa 50-60 Tausend Tonnen pro Jahr bis 2030, sollten dabei mit geeigneten Partnern zunächst lokal aufgebaut und später dann in großen Mengen über einen heute noch nicht realisierten Anschluss an das überregionale Wasserstoffnetz, den so genannten Hydrogen-Backbone, ins Saarland transportiert werden.
Den lokalen Wasserstoffbedarf eingerechnet, geht die SHS – Stahl-Holding-Saar von einem Anstieg ihres erforderlichen Grünstrombedarfs bis 2030 auf circa sechs Terawattstunden pro Jahr aus. Dieser erneuerbare Strom wird bereits heute über so genannte Power Purchase Agreements (PPAs) oder ähnliche Konstrukte beschafft.
Die strom- und wasserstoffbasierte Stahlproduktion wird nur zu höheren Kosten möglich sein. Deswegen ist neben der Förderung der Investitionen, die im Rahmen des europäischen IPCEI-Programms (Important Projects of Common European Interest) beantragt wurde, zumindest für die Hochlaufphase auch eine Förderung des Betriebskostennachteils im Rahmen der sogenannten Klimaschutzverträge notwendig. Nur so lässt sich sicherstellen, dass durch die Umstellung auf eine klimafreundliche Stahlproduktion nicht gleichzeitig eine Abwanderung der europäischen Stahlindustrie in andere Regionen stattfindet – mit negativen Folgen für das Klima, den Industriestandort Europa und schlussendlich das allgemeine Wohlstandsniveau.
Obwohl das Produkt Stahl auch in Zukunft quasi unverändert bleiben wird, muss die SHS-Gruppe und mit ihr die gesamte europäische Stahlindustrie nicht nur die traditionelle Technologie zur Stahlherstellung vollständig ersetzen, sondern gleichzeitig auch eine vollkommen neue Wertschöpfungskette basierend auf DRI, Schrott, grünem Strom und grünem Wasserstoff aufbauen. Parallel wird die SHS-Stahl-Holding-Saar ihre gesamte System- und Prozesslandschaft innerhalb kürzester Zeit modernisieren, um schneller und besser auf die extreme Volatilität im Stahl reagieren zu können und Effizienzpotenziale in den Unternehmensabläufen zu heben. Dies stellt – nach Dekaden inkrementeller Veränderungen – für alle Marktbegleiter eine immense Herausforderung dar. Um diese erfolgreich zu gestalten, ist insbesondere ein enges Zusammenwirken mit allen Stakeholdern, das heißt Mitarbeitenden, Eigentümern, Anlagenbauern, Minenbetreibern, Schrotthändlern und Energieversorgern, erforderlich. Darüber hinaus muss seitens der Politik ein regulatorischer Rahmen aufgebaut werden, der die Dekarbonisierung für die Unternehmen auch wirtschaftlich tragfähig macht.