„Intelligente Netze brauchen mehr Köpfchen statt nur mehr Kupfer“
Im Gespräch mit Hildegard Müller, Innogy-Vorstand für Netz und Infrastruktur
Kurz und bündig:
Die Zukunft der Energieerzeugung ist dezentral und digital – mit über 1,7 Millionen dezentralen Erzeugungsanlagen, die grünen Strom aus Windkraft, Sonnenenergie und Biomasse ins Netz einspeisen. Diese produzieren je nach Wetter mal viel, mal weniger Strom, und gleichzeitig schwankt die Nachfrage – eine enorme Herausforderung für das Stromnetz. Im Energiewendeprojekt Designetz entwickeln 46 Partner gemeinsam Lösungen für das Gesamtenergiesystem der Zukunft, ein System das die originäre Energieerzeugung genauso betrachtet wie den Wärme- und Verkehrssektor.
In der Energiewelt der Zukunft werden Verbraucher zu Prosumern, die Energie sowohl verbrauchen als auch produzieren. Auf der letzten Meile der Versorgung herrscht dann Gegenverkehr: Strom kommt und geht, wird ein- und ausgespeist, es geht nicht mehr nur in eine Richtung, nämlich vom Kraftwerk zum Endkunden. Um die Komplexität des künftigen Energiesystems managen zu können, muss der Energiesektor mit der Informations- und Kommunikationstechnologie verknüpft werden. Darauf setzt das Energiewendeprojekt Designetz mit dem Anspruch, die Blaupause für das Stromnetz der Zukunft zu schaffen.
IM+io: Das Projekt Designetz, das im Januar 2017 gestartet ist und über vier Jahre läuft, will eine Bauanleitung für die Energiewende liefern. Was konkret ist das Ziel?
HM: Im Energiesystem der Zukunft verändern sich Stromerzeugung und –verbrauch grundlegend. Dieser tiefgreifende Wandel deutet sich bereits heute an: Schon jetzt gibt es mehr als 1,7 Millionen dezentrale Erzeugungsanlagen, die grünen Strom aus Windkraft, Sonnenenergie und Biomasse ins Netz einspeisen. Davon sind mehr als 90 Prozent an die Verteilnetze angeschlossen. Dabei schwankt die Einspeisung aus erneuerbaren Energien im Jahresverlauf und je nach Tageszeit und Wetter. Das Stromnetz muss diese Schwankungen ausgleichen. Je mehr Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien an das Verteilnetz angeschlossen werden, umso mehr fallen Stromschwankungen bei wechselnden Wetterverhältnissen ins Gewicht. Gleichzeitig wandelt sich aber auch die Nutzungsseite: Elektromobilität und die Kopplung verschiedener Sektoren werden das Verbrauchsverhalten von Privathaushalten und Unternehmen verändern. Der Sektorenkopplung kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Wir müssen aufhören, die Energiewende als reine Erzeugungswende zu sehen. Vielmehr müssen wir die Energiewende auch in den Wärme- und Verkehrssektor bringen und dabei Strom aus erneuerbaren Energien nutzen, sonst werden wir unsere gesetzten Klimaziele verfehlen. Gleichzeitig kommen auch immer mehr Speichertechnologien zum Einsatz, die zu einer Verschiebung der Energiemengen führen. Auch dies wird Auswirkungen auf das Netz haben. Das Ziel von Designetz ist es, den notwendigen Rahmen für diese Veränderungen zu schaffen und neue Lösungen zu entwickeln. Wir entwickeln die Blaupause für das Gesamtenergiesystem der Zukunft. Gemeinsam wollen wir die erneuerbaren Energien möglichst effizient integrieren und gleichzeitig den Netzausbau auf ein Minimum reduzieren.
IM+io: Schon vor Designetz hat es viele Einzelprojekte gegeben, die die sichere Speicherung undVerteilung von Strom aus unterschiedlichen Quellen zum Gegenstand hatten. Wird jetzt das Rad vollständig neu erfunden?
HM: Unser Ansatz ist, aus den unterschiedlichen Einzellösungen ein funktionierendes Gesamtsystem zu entwickeln. Designetz verbindet die rund 30 innovativen Teilprojekte und transportiert sie virtuell in das Jahr 2035. Jedes einzelne Projekt hat seinen eigenen Forschungsauftrag, dem es eventuell auch schon vorher nachgegangen ist. Bei Designetz geht es darum, die Teilprojekte zusammenzubringen und zu einem System zu koppeln. Dabei geht es vor allem um die Transparenz beim Austausch von Flexibilitäten. Hierbei leistet zum Beispiel unser Konsortialpartner AWSI mit der Entwicklung eines Flexibilitäts-Monitorings einen wichtigen Beitrag. Dabei wollen wir die Herausforderungen der Energiewende möglichst schon auf den unteren Netzebenen lösen, um die notwendigen Ausbaubedarfe in den darüber liegenden Ebenen zu minimieren. So schaffen wir eine möglichst kosteneffiziente Umsetzung der Energiewende und erhalten den Rückhalt in der Bevölkerung. Für diesen Zweck haben wir mithilfe von Telekommunikations- und Informationstechnik sogenannte Datenknoten aufgebaut, an denen die Projekte vor Ort angeschlossen sind. Dadurch ist es möglich, innerhalb einer Region die Flexibilitäten zu nutzen und so schon auf der lokalen Ebene einen Ausgleich von Erzeugung und Verbrauch herzustellen. So schaffen wir ein effizientes Gesamtsystem, bestehend aus vielen innovativen Bausteinen.
IM+io: Welche Rolle spielt moderne Informations- und Kommunikationstechnik bei der Steuerung der Energieflüsse? Was genau muss man sich unter den vielzitierten intelligenten Netzen vorstellen?
HM: Das Energiesystem besteht schon heute nicht mehr aus zentralen Kraftwerken, die den Strom in die Haushalte bringen. Die Zukunft der Energieerzeugung ist dezentral und digital. Die Intelligenz einzelner Technologien und Anlagen nimmt dabei immer mehr zu – und das in einem hohen Tempo. Bei dieser Vielzahl und Komplexität ist eine manuelle Steuerung der Energieflüsse nicht mehr möglich. Es wird in Zukunft nicht die eine Instanz geben, die alle Solaranlagen oder hunderttausende von Elektroautos steuert. Das System wird sich dezentral selbst organisieren müssen. Wir benötigen dazu mehr Automatismen und Intelligenz. Deshalb sind intelligente Netze das Fundament für das Gelingen der Energiewende. Um den Herausforderungen gerecht zu werden, bedarf es mehr Köpfchen statt nur mehr Kupfer. Das Beherrschen der Gegenwart ist das eine, sich fit für zukünftige Szenarien zu machen das andere. Was können Sie tun, um möglichen Lösungen nicht nur zu suchen, sondern auch auf ihre Umsetzbarkeit zu testen? HM: Um die Umsetzbarkeit der Teilprojekte und des Gesamtsystems zu testen, arbeiten wir bei Designetzmit dem sogenannten System Cockpit. Im System Cockpit aggregieren wir sämtliche Daten aus unseren Teilprojekten. Wir können so live und in Echtzeit die Teilprojekte ansteuern und deren Verhalten testen. Auf dieser Basis simulieren wir im System Cockpit die Energielandschaft im Jahr 2035 und schauen, welchen Beitrag die unterschiedlichen Anlagen unter den prognostizierten Bedingungen zur Systemstabilität beitragen können. Das heißt konkret: Wir testen, welche Flexibilitäten sie dem Netz zu welchen Bedingungen zur Verfügung stellen können. So wollen wir konkrete Aussagen treffen, wie die Energiewende mit einem deutlich höheren Anteil erneuerbarer Energien im System funktionieren kann. Das System Cockpit ist dabei aber nicht als Ersatz für die klassische Leitwarte des Netzbetreibers gedacht. Seine Aufgabe besteht aktuell darin, uns wichtige Erkenntnisse technischer, ökonomischer und wissenschaftlicher Art zu liefern.
IM+io: Wie kann aus der Blaupause der Energiewende ein großer praktischer Feldversuch werden?
HM: Im Projekt Designetz testen wir, wie die Energiewende möglich wird. Damit diese aber auch gelingt, bedarf es entsprechender regulatorischer Rahmenbedingungen. Wir haben im Projekt früh drei wesentliche Forderungen formuliert: Subsidaritätsprinzip stärken, Flexibilität ermöglichen und Intelligenz anreizen. In einem dezentralen Stromsystem müssen Erzeugungsanlagen, Verbraucher und Speicher im Verteilnetz mehr Verantwortung für die Stabilität des gesamten Systems übernehmen. Es besteht eine Koordinationsnotwendigkeit zwischen Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern. Der rechtliche Rahmen muss angepasst werden, um die Rollen der Stromnetzbetreiber bei der Steuerung auf den verschiedenen Spannungsebenen nach dem Subsidiaritätsprinzip zu stärken und klar zu definieren. Der Zugriff auf die entstehenden Flexibilitäten soll dabei vorrangig marktbasiert erfolgen. Wichtig dafür sind insbesondere auch angemessene Flexibilitätsanreize, die eine optimale Entscheidung zwischen Investitionen und Flexibilitätsnutzung ermöglichen.
IM+io: Die Erarbeitung und Umsetzung Innovative Netztechnologien und -betriebskonzepte ist zeitaufwändig und hochkomplex. Vor dem Hintergrund der aktuellen Klimaschutzdebatte werden allerdings Szenarien mit deutlich vorgezogenem Ausstieg aus Kraftwerken mit fossilen Brennstoffen immer wahrscheinlicher. Läuft Ihnen die Zeit weg?
HM: Die Bundesregierung hat festgelegt, dass der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung bis zum Jahr 2035 zwischen 55 und 60 Prozent betragen soll. Im Szenario von Designetz gehen wir davon aus, dass zum selben Zeitpunkt bis zu 80 Prozent der Energie aus erneuerbaren Anlagen kommt. Damit liegen wir also schon deutlich über dem Rahmen, den die Politik für diese Zeit vorgibt. Am Netz wird die Energiewende sicherlich nicht scheitern. Selbst eine Beschleunigung des Kohleausstiegs wäre aus Netzsicht zu verkraften.