Digitalisierungs-Navi für Betriebe
Was „4.0“ für die Beschäftigten bedeutet
Gabi Schilling, IG Metall; Inger Korflür, Sustain Consult; Wolfgang Nettelstroth, IG Metall; Volker Wulf, Universität Siegen
Kurz & Bündig
Die Digitalisierung verändert Arbeitswelten. Was das für die Beschäftigten heißt, beschreibt die „Betriebslandkarte Arbeit und Industrie 4.0“. In ihr spiegeln sich die Erkenntnisse der Beschäftigten, ihrer Interessenvertreter und betrieblicher Experten wider. In betrieblichen Workshops werden Potenziale der Digitalisierung und Veränderungen von Tätigkeits- und Kompetenzprofilen erfasst. Gleiches gilt für belastende Stressoren, Wirkungen auf Arbeitsvolumen und Qualifizierungsbedarfe. Die Beschäftigten werden daran beteiligt, die Zukunft ihrer Arbeit zu gestalten.
Welche Qualifizierungen sind für die Industrie 4.0 eigentlich notwendig? Welche Stressoren gibt es, wie wirkt sich die digitale Transformation auf die Beschäftigten aus? Antworten auf diese Fragen soll die „Betriebslandkarte 4.0“ der IG Metall geben. Hier werden Erkenntnisse von Experten, von Arbeitnehmervertretern und den Arbeitnehmern zusammengetragen, Potenziale erfasst und in Workshops bearbeitet – mit dem Ziel, die Innovationen transparent und partizipativ zu gestalten.
Mit der Digitalisierung werden Produktions- und Wertschöpfungsprozesse, Berufsbilder und Arbeitsplätze grundlegend verändert. Gesellschaft und Wirtschaft sind gefordert, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen, um Qualität und Produktivität zu steigern. Wege für eine nachhaltige und sozial verantwortliche Wertschöpfungsorganisation und -gestaltung sind zu entwickeln. Mit diesem Ziel müssen Digitalisierungskonzepte sowie Umsetzungsstrategien erdacht und vollzogen werden, um die Anwendung neuer Technologien, vorhandene Stärken und Strukturen sowie die Bedürfnisse der Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen. Damit sind die Digitalisierung und ihre Gestaltung ein zentrales Arbeitsfeld betrieblicher Interessenvertretungen.
Digitalisierung ist kein gradliniger, einheitlicher Prozess. Er wird in den verschiedenen Bereichen und Abteilungen eines Unternehmens unterschiedlich intensiv vorangetrieben. Noch größer sind die Unterschiede zwischen den Betrieben, selbst in vergleichbaren Branchen. Man kann sagen, dass sich die Veränderungsprozesse durch eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ auszeichnen. Dies liegt vor allem daran, dass es bei der Gestaltung der Digitalisierung um mehr als „nur“ das technisch Machbare geht. Vielmehr verändern sich in einem Prozess voller Wechselwirkungen auch organisatorische Prozesse und Abläufe sowie konkrete Arbeitsinhalte und Qualifikationsanforderungen. Dieselbe Software kann in zwei verschiedenen Abteilungen eines Unternehmens völlig unterschiedliche Konsequenzen und damit Auswirkungen auf die Beschäftigten und ihre Arbeit haben.
Wir beobachten daher, dass die Wege der Technikentwicklung und -einführung, die sich allein auf die Technikgestaltung fokussieren oder sie zu sehr in den Mittelpunkt rücken, ein höheres Risiko von Fehlentwicklungen und damit Fehlinvestitionen bergen. Derartig angelegten Projekten fehlt oft die organisatorische Einbindung des gewählten Digitalisierungsansatzes. Dies führt zu einer mangelnden Beteiligung von Beschäftigten und damit dazu, dass die Beschäftigten nicht das Wissen aus dem konkreten Arbeitsalltag einbringen und so relevantes Prozesswissen bei der Umsetzung fehlt. Dies kann schwerwiegende Folgen haben: Etwa, dass die Beschäftigten im Nachhinein nur schwer für die Technik zu begeistern sind oder der dann erforderliche Schulungsaufwand die Vorteile übersteigt. Eine Gestaltung nach dem Prinzip „Mensch-Organisation-Technik“ ist daher wünschenswert: Über die technischen Entwicklungen hinaus werden die Perspektiven von Organisation und Menschen und die Zusammenhänge zwischen diesen drei Dimensionen von Beginn an integriert betrachtet. Nur so lassen sich die Chancen der Digitalisierung besser nutzen. Diese liegen für Unternehmen in passgenaueren, dadurch oft auch preiswerteren Entwicklungs- oder Einführungsprozessen, da sie durch die frühzeitige Beteiligung von Beschäftigten stimmiger an die Organisation angepasst beziehungsweise Technik und Organisationskonzept parallel entwickelt werden können. Die Einbindung der Beschäftigten führt zu Reflexionsprozessen mit Bezug zu organisatorischen und technischen Fragestellungen (z.B.: Wie könnte der Prozess besser ablaufen? Welche technische Unterstützung ist sinnvoll?). Dies ermöglicht häufig auch parallele Lernprozesse mit Blick auf das, was in dem herkömmlichen Modell nachträglich zu schulen wäre. Vor allem aber kommt es auch zu Aneignungsprozessen und Stolz, die Gesamtlösung mitentwickelt zu haben.
Damit sind Mitgestaltung und Mitbestimmung durch die Beschäftigten, ihre Betriebsräte und gewerkschaftliche Vertrauensleute relevante Erfolgsfaktoren für den Transformationsprozess. Ob Beschäftigte und ihre Interessenvertretungen ihre Gestaltungsmöglichkeiten nutzen und die Betriebsräte zugleich ihrer Schutzfunktionen für die Beschäftigten nachkommen können, hängt also davon ab, ob und wie sie von Beginn an informiert und einbezogen sind. Nur dann erhalten sie die Möglichkeit, Chancen und Risiken realistisch zu bewerten sowie im Dialog mit der Geschäftsleitung Zielbilder zu entwickeln, an denen sich die Gestaltung der Arbeitswelt 4.0 orientieren kann. Auf diese Weise könnte in Zukunft ein erheblich größeres Potenzial für die Förderung von Beschäftigung oder die Verbesserung von Arbeitsbedingungen ausgeschöpft werden.
Vor diesem Hintergrund ist die Beteiligung der Beschäftigten an und in den laufenden Veränderungsprozessen für die erfolgreiche Nutzung digitaler Technologien entscheidend. Hier bilden betriebliche Interessenvertretungen keineswegs nur nach Gesetz und Tarifvertrag, sondern auch nach Nutzen für alle Stakeholder ein wichtiges Scharnier, um die Interessen und Perspektiven der Beschäftigten bei den teils beträchtlichen Veränderungsprozessen früh zu berücksichtigen.
Um den Charakter und die Auswirkungen dieser Veränderungen für Beschäftigte und Betriebsräte anschaulich, begreifbar und bearbeitbar zu machen, wurde „Arbeit 2020“ Mitte 2015 als großes gewerkschaftsübergreifendes Projekt mit breiter politischer Unterstützung aus der damaligen Allianz Wirtschaft und Arbeit auf den Weg gebracht. Das Projekt wird vom MAGS NRW noch bis Ende 2021 gefördert. Ziel ist, Betriebsräte und Beschäftigte an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen in einer „Industrie und Arbeit 4.0“ frühzeitig zu beteiligen.
In Zusammenarbeit mit sustain consult, Dortmund hat die IG Metall im Rahmen des Projektes die Betriebslandkarte Arbeit und Industrie 4.0 entwickelt, die den Stand der Vernetzung und Steuerung durch Technik sowie die Auswirkungen auf Arbeit visualisiert. Die Betriebslandkarte wurde mittlerweile in über 60 Unternehmen verschiedener Größen und Branchen erfolgreich erprobt. Die Nachfrage nach dem Tool – das mittlerweile auch als digitale Anwendung vorliegt – ist groß. So wird die Betriebslandkarte unter anderem durch eine Kooperation mit der IG Metall im Rahmen des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Siegen zugänglich gemacht. Die Mitarbeiter des Kompetenzzentrums unterstützen kleine und mittlere Unternehmen in Südwestfalen und darüber hinaus bei der Digitalisierung und setzen dabei auf einen sozialpartnerschaftlichen Ansatz. Es werden also sowohl die Interessen der Beschäftigten, als auch die der Arbeitgeber und ihrer Vertreter mit einbezogen.
Mit der Betriebslandkarte wird in mehreren ganztägigen Workshops mit Betriebsräten, Beschäftigten und teils Führungskräften aus verschiedenen Unternehmensabteilungen ein überschaubares Abbild davon erarbeitet, wie technische Veränderungen auf die Organisation und die Beschäftigten wirken. Veränderungen von Tätigkeitsbereichen, Kompetenzen und damit auch Qualifikationsanforderungen durch digitale Anwendungen können so zum Gegenstand einer vorausschauenden Betrachtung und Bearbeitung werden: Welche Tätigkeitsbereiche fallen weg? Welche kommen neu hinzu? Wie werden die Beschäftigten durch die Technologien entlastet oder belastet?
Im Unterschied zu zurückliegenden Prozessen der Automatisierung sind die laufenden Veränderungsprozesse in ihren abteilungsübergreifenden Wechselwirkungen für die Beschäftigten und die Betriebsräte schwerer nachzuvollziehen. Digitalisierung „versteckt sich“ häufig in Softwaretools, Assistenzsystemen, robotikgestützten Anwendungen und beeinflusst abteilungsübergreifend Arbeitsabläufe, ohne dass Veränderungen in ihren Auswirkungen gleich sichtbar werden. Diese Intransparenz kann verunsichern, nicht selten mit hemmenden oder blockierenden Wirkungen. Gerade der abteilungsübergreifende Dialog hilft, einen Blick über den Tellerrand zu werfen und erzeugt neue und tiefere Einblicke in die laufenden und zukünftigen Veränderungsprozesse. Das daraus entstehende bessere Verständnis für die Anforderungen von außen (der Kunden, der OEMs, zum Beispiel große Automobilhersteller) sowie aus anderen Abteilungen und Unternehmensbereichen erzeugt Veränderungsbereitschaft und Gestaltungsideen, die für Betriebsräte und Unternehmensleitungen gut aufzugreifen sind. Betriebsräte und Beschäftigte erleben den Dialograhmen als Experimentierraum, um sich aktiv und mit eigenen Vorstellungen zur Gestaltung der zukünftigen Arbeitswelt einzubringen. Die Stärke dieses Prozesses ist eine systematische, strukturierte und beteiligungsorientierte Analyse und Diskussion der komplexen Sachverhalte in einer nachvollziehbaren und den gesamten Betrieb darstellenden Form. Betriebsräte können ihre Kenntnisse über handelnde Personen, Abläufe und die Unternehmensentwicklung und ihre Stärke als Wegbereiter für Beteiligung im Betrieb durch diese Methode in neuer Weise zur Geltung bringen.
Der Ansatz, die Digitalisierung als kontinuierlichen und gestaltbaren Veränderungsprozess zu begreifen, fruchtet. Hervorzuheben ist, dass mit dem durch die Workshops in Gang gesetzten Dialogprozess in der Regel zugleich ein Kulturwandel angestoßen wird – vorrangig mit folgenden Ergebnissen.
- Mehr Transparenz seitens der Unternehmensführungen
- Aufbau eines Vertrauensverhältnisses
- Vermeidung von Fehlinvestitionen durch Nutzung des Erfahrungswissens der Beschäftigten
- Beschäftigte, die sich gefragt fühlen, ihre Fachexpertise und ihre Wahrnehmungen einzubringen
- Betriebsräte, die als Innovationstreiber agieren und als Experten Anerkennung erfahren
- Eine Sozialpartnerschaft, die gerade in Umbruchsituationen stabilisiert wird und ihrerseits Halt gibt
- Transformationsprozesse, die als mitgestaltbar erlebt werden
- Beteiligung, die Beschäftigten Ängste vor Veränderungen nimmt, Veränderungsbereitschaft und Wandlungskompetenz stärkt
Ziel ist es, auf Grundlage einer Standortbestimmung, die auf möglichst vielfältigen Perspektiven und Informationen beruht, relevante Gestaltungsanforderungen zu identifizieren. Damit werden Chancen der Digitalisierung genutzt und Risiken vermieden; denn dieser vorausschauende Dialogprozess wirkt keineswegs nur als Einbahnstraße in Form von Akzeptanzförderung des technisch Machbaren. Er wirkt zugleich als Korrekturschleife zur Erarbeitung des sinnvoll Gestaltbaren. Beides ist Grundlage, um konkrete praktische Maßnahmen im Betrieb anzugehen, mit einer Art Roadmap für erfolgreiche Umsetzungsprozesse. Es hat sich dabei immer wieder gezeigt, dass Eckpunkte hieraus, als gemeinsame Zukunftsvereinbarung zwischen den Sozialpartnern, prozessuale Verlässlichkeit in Zeiten erheblicher Verunsicherungen schafft. Es wird transparent, welche Schritte in welcher Reihenfolge zur Realisierung von Unternehmenszielen und zur Sicherung zukunftssicherer Arbeitsplätze unter Beteiligung der Beschäftigten zu gehen sind.