Wenn nicht jetzt, wann dann?
Der digitale Wandel im Gesundheitswesen erfährt einen enormen Schub
Jan-David Liebe, Roland Trill, Medical School Hamburg
(Titelbild: © AdobeStock | 481199494 | alonesdj)
Kurz und Bündig
Die Digitalisierung kann zu einer qualitativ hochwertigeren und effizienteren Gesundheitsversorgung beitragen. In Deutschland wurden jüngst eine Reihe von Gesetzes- und Förderprogrammen auf den Weg gebracht, die zusammengenommen einen Digitalisierungssprung hin zu einem vernetzten und lernenden Gesundheitssystem ermöglichen. Nun kommt es jedoch auf die richtige Umsetzung an. Digital Health Manager können hier eine wichtige Rolle übernehmen.
Aus Sicht der Bürgerinnen und Bürger braucht es keine visionäre Vorstellungskraft und auch keine umfassende Leidensgeschichte, um die Vorzüge eines digitalisierten Gesundheitswesens zu erahnen. Seien es lange Wartezeiten für einen Facharzttermin, lange Anfahrtswege zur nächsten Hausarztpraxis oder unnötige Doppeluntersuchungen und Medikationsfehler – in kaum einer Branche scheint es so viele Problemstellungen zu geben, die auf eine digitale Lösung warten. Ein Schlüssel für die erfolgreiche Gestaltung des digitalen Wandels sind Digital Health Manager, die einerseits die Prozesse und Problemstellungen der Anwenderinnen und Anwender kennen und andererseits die Potenziale und Herausforderungen digitaler Lösungsansätze verstehen und professionell handhaben.
Tatsächlich sind qualitativ hochwertige und effizient erbrachte Gesundheitsleistungen seit je her auf einen reibungslosen und sicheren Austausch von Daten- und Informationen angewiesen. Dies gilt sowohl für die Kommunikation innerhalb der Einrichtungen als auch für den Austausch zwischen ihnen. Digitale Anwendungen wie elektronische Patientenakten, Patientenportale und telemedizinische Lösungen besitzen das Potenzial, diese professions- und sektorenübergreifende Kommunikation zu unterstützen und somit zu einer vernetzten Versorgung beizutragen. Die Patienten, die hierbei im Fokus stehen, rücken zusehends auch ins Zentrum des Informationsaustausches, indem sie als digitale Souveräne selbstbestimmt über die Erfassung, Speicherung, Verarbeitung und Weitergabe ihrer Daten bestimmen.
Die Digitalisierungspotenziale im Gesundheitswesen erschöpfen sich jedoch nicht in einer optimierten und patientenzentrierten Datenlogistik. Vielmehr sind es die zunehmend (ineinander) wachsenden Datenräume, deren Nutzung durch mehr oder weniger intelligente Verfahren entscheidungsrelevante Informationen und Wissen generieren können. Basierend auf einem digital vernetzten Gesundheitswesen kann so ein lernendes System entstehen, in dem evidenzbasierte Entscheidungen im klinischen und pflegerischen Alltag und in Bezug auf übergeordnete Gestaltungsfragen ermöglicht werden.
Mehrwert oder Selbstzweck?
Ein Blick in die internationale Evidenz
Werden digitale Anwendungen als Interventionen betrachtet, die mit konkreten Outcome-Erwartungen eingeführt werden, können bereits positive Effekte bezüglich der Effektivität, der Effizienz, der Patientensicherheit und -zentriertheit sowie auch hinsichtlich eines gleichberechtigten und zeitnahen Zugangs zu Gesundheitsleistungen nachgewiesen werden.
Indikatoren für Effektivitätsgewinne gehören dabei zu den am häufigsten betrachteten und auch nachgewiesenen Outcomes. Sie beziehen sich auf die Optimierung bestehender Prozesse und Arbeitspraktiken, das heißt Screenings, Präventivdienste, klinische Tests, Verschreibungen, Behandlungen, Überweisungen, Patientenmonitorings und anderen Aktivitäten des Krankheitsmanagements. Darüber hinaus gibt es Evidenz für positive Effekte auf patientenbezogene Outcomes wie beispielsweise in Bezug auf Bluthochdruck, Depressionssymptome, Schmerzintensität und Gewicht.
Auch für Effizienzgewinne gibt es eine breite Evidenzlage. So konnte nachgewiesen werden, dass der Einsatz von elektronischen Patientenakten, entscheidungsunterstützenden Systemen und telemedizinischen Anwendungen zu signifikanten Einsparungen von Betriebskosten führen können und einen effizienten Ressourceneinsatz ermöglichen. Letzterer manifestiert sich zum Beispiel in der Reduzierung von Krankenhausaufenthalten und Notaufnahmen sowie in der optimierten Nutzung diagnostischer Tests und medizinischer Materialien (Labormaterial, Bildgebung, Medikamente et cetera).
Besonders hohe Digitalisierungspotenziale ergeben sich in Bezug auf die Patientensicherheit. So existiert eine breite Studienlage zur IT-gestützten Vermeidung von Diagnosefehlern, unerwünschten Arzneimittelereignissen, geringer Therapie- und Leitlinien-Compliance, unnötigem Antibiotikaeinsatz und Fehlern bei der Patienten- und Anbieteridentifikation. Technologien, die hierfür genutzt werden, reichen von Systemen für Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS-Systeme) über Barcodescanner bis hin zu elektronischen Übergabeakten, mit denen eine fehlerfreie, vollständige und lesbare Weitergabe von Patientendaten ermöglicht wird.
Obwohl der Erkenntnisstand über Effekte auf die Patientenzentriertheit vergleichsweise gering ausgeprägt ist, gibt es auch hier erste Belege für positive Outcomes. Diese zeigen sich einerseits in einem erhöhten Patienten-Empowerment, gemessen an einem stärkeren Bewusstsein für Lebensstilrisiken, einer Befähigung zur Lebensstilveränderung und dem Wissenszuwachs über Krankheitsbilder. Andererseits können digitale Anwendungen wie Selfmanagement-Apps zu einem gesteigertem Patienten-Engagement führen, was sich beispielsweise in einer erhöhten Medikations- beziehungsweise Therapietreue oder auch in verbesserten Rehabilitationserfolgen niederschlägt.
Digitalisierungseffekte auf den rechtzeitigen Zugang zu Versorgungsleistungen (timelines) beziehen sich auf beschleunigte Diagnoseverfahren, auf die zeitnahe Identifikation von Risikofaktoren und auf den schnellen Zugang zu Versorgungsleistungen und klinischen Maßnahmen. Obwohl die Evidenzlage für entsprechende Outcomes ebenfalls vergleichsweise gering ist, konnten erste Studien entsprechende Effekte nachweisen.
Bisher wenig untersucht sind Digitalisierungseffekte auf den gleichberechtigten Zugang zu Versorgungsleistungen. Erste Hinweise zeigen jedoch, dass zum Beispiel Mobile Health-Anwendungen und telemedizinische Lösungen zu mehr Gleichberechtigung bei dem Zugang zu Präventionsleistungen und fachärztlicher Versorgung für Bewohner ländlicher Räume, für Jugendliche und ältere Menschen und für ethnische und andere Minderheiten führen können.
Chancen und Herausforderungen der „Digitalisierungsbooster“ DiGA, KHZG, und Co.
In einem hoch regulierten Markt wie dem Gesundheitswesen ist die Realisierung digitaler Mehrwerte auf eine geeignete gesetzgeberische, infrastrukturelle und finanzielle Rahmengebung angewiesen. Nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie wurden diesbezüglich in kürzester Zeit diverse Fortschritte erzielt. Im Fahrwasser des allgemeinen Trends „digital vor ambulant vor stationär“ kann sich hieraus der lange erwartete und von einigen auch ersehnte digitale Wandel des deutschen Gesundheitswesens ergeben.
So wurde beispielsweise mit dem Digitale Versorgungsgesetz (DVG) der Rahmen zur Förderung innovativer Technologien gesetzt und ein Erlösmodell für das Anbieten telemedizinischer Angebote sowie für die Entwicklung digitaler Gesundheitsanwendungen (DiGA) geschaffen (jüngst ergänzt um digitale Pflegeanwendungen, DiPA). In Verbindung mit den Entwicklungen und Vorgaben zur Telematikinfrastruktur, durch die die Krankenversicherten bereits seit Januar 2021 Anspruch auf eine elektronische Patientenakte (ePA) haben, entwickelt sich inzwischen eine aufstrebende Start-up-Szene, die von ersten Krankenkassen mit Plattform-Modellen adressiert wird und für die zusehends auch vermehrt institutionelle Unterstützungsstrukturen in Form von „Digital Innovation Hubs“ aufgebaut werden.
Vor allem aber das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG), das Ende 2020 in Kraft getreten ist, besitzt das Potenzial für einen wahren „Digitalisierungsbooster“. Gefördert wird unter anderem der Aufbau von Patientenportalen, entscheidungsunterstützenden Systemen und telemedizinischen Anwendungen. Mittel- bis langfristig sollen hierdurch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlastet und die Patientinnen und Patienten hinsichtlich ihrer Souveränität, Sicherheit und der Versorgungsqualität gestärkt werden.
Obwohl die so beschriebenen Entwicklungen eine vielversprechende Ausgangslage für die Digitalisierung des Gesundheitswesens darstellen, ist fraglich, ob die anvisierten und oben beschriebenen positiven Effekte tatsächlich in der Fläche erreicht werden. So kann zwar davon ausgegangen werden, dass der informationstechnologische Ausbau in den kommenden Jahren beträchtlich voranschreitet (das heißt, insofern es den Herstellern und Gesundheitseinrichtungen innerhalb der Fördermaßgaben und der knapp bemessenen Zeitvorgaben überhaupt möglich ist). Ob die neuen digitalen Angebote von den adressierten Zielgruppen jedoch auch nachgefragt und genutzt werden und letztlich Nutzen stiften, ist eine andere Frage.
Die bisherigen Downloadzahlen der bereits erwähnten ePA (unter 3 Prozent der Berechtigten) stimmen zumindest in Bezug auf die Versicherten weniger hoffnungsvoll. Gleichzeitig gibt es im Gesundheitswesen vielfältige Beispiele für erfolglos verlaufende Digitalisierungsprojekte, was immer wieder zu Reaktanz bei den anvisierten Anwendern führt. Unerwartet und unerwünschte Nebenfolgen der Digitalisierung, wie beispielsweise steigende Burnoutraten bei Klinikern im Zusammenhang mit der erhöhten Nutzung von Dokumentationssoftware oder die Entstehung rassistischer Verzerrungen bei ePA-gestützten Entscheidungshilfen, können ebenfalls zu einer ablehnenden Haltung führen.
Worauf es jetzt ankommt:
Strategie, Digitalisierungskultur und professionelles Management
Was muss also geschehen, damit die jüngsten „Digitalisierungsbooster“ in eine qualitative, hochwertige und effiziente Gesundheitsversorgung übersetzt werden? Klar ist, dass sich diese Frage an unterschiedliche Ebenen richtet. Da ist zum einen die politische Ebene, die im Rahmen der anstehenden Digitalstrategie sicherstellen muss, dass die aktuellen Maßnahmen beziehungsweise die hierdurch entstehenden Angebote noch stärker kommunikativ begleitet werden. Hierbei müssen die zu erwartenden Mehrwerte (siehe oben) dargestellt und die – durchaus berechtigten – Sorgen und Ängste der Anwender adressiert werden. Das übergeordnete Ziel einer solchen Kommunikationsstrategie muss es sein, den technischen Rollout mit dem Aufbau einer konstruktiven Digitalisierungskultur zu flankieren.
Gleichzeitig müssen im Rahmen der Strategieentwicklung die unterschiedlichen Perspektiven und Zielkonflikte der vielfältigen Interessengruppen im Gesundheitswesen durch partizipative Beteiligungsformate austariert werden. Nur so können die zum Teil als selbstlähmend in Verdacht stehenden Mechanismen der Selbstverwaltung überwunden werden. Schließlich müssen die politischen Entscheider sicherstellen, dass die Digitalstrategie von einer methodisch rigorosen formativen Evaluation begleitet wird, die nicht allein den strukturellen Ausbau betrachtet, sondern die Nutzung und den Nutzen der Digitalisierung in den Blick nimmt. Ein Ziel dieser Evaluation muss es sein, erfolgreiche Wege zur Schaffung digitaler Mehrwerte zu identifizieren, sodass entsprechende Positivbeispiele nach internationalem Vorbild als Blue Prints ausgearbeitet und im Rahmen der oben angesprochenen Kommunikationsstrategie herangezogen werden können. Ein weiteres Evaluationsziel sollte in der Erfassung unerwünschter und unerwarteter Effekte liegen, sodass bei Bedarf auch politisch frühzeitig gegengesteuert werden kann. Denn eins kann analog zu anderen gesellschaftlichen Herausforderungen auch für die Digitalisierung des Gesundheitswesens festgehalten werden: Es ist eine dynamische politische Gestaltung gefordert, die durch Entscheidungsfähigkeit gekennzeichnet ist und dabei auf einem engmaschigen Monitoring der initiierten Entwicklungen aufbaut.
Spiegelbildlich zur politischen Ebene sind natürlich auch die Akteure im Gesundheitswesen, das heißt die Entscheider und Mitarbeiter der Gesundheitseinrichtungen, die Kostenträger und nicht zuletzt die Bürgerinnen und Bürger, aufgefordert, ihren Teil zur Realisierung der oben beschriebenen Mehrwerte beizutragen. Für die Gesundheitsberufe erfordert dies zuallererst eine stärkere Verankerung des Digitalisierungsthemas in der Aus- Fort- und Weiterbildung. Gleichzeitig müssen weitere Konzepte zum Aufbau der eHealth-Literacy der Bürgerinnen und Bürger erarbeitet und umgesetzt werden.In den Gesundheitseinrichtungen muss Digitalisierung schließlich deutlich stärker priorisiert und als eine der obersten Führungsaufgaben verstanden und gelebt werden. Selbstverständlich gehört auch hierzu die Erarbeitung einer Digitalstrategie. Diese wird zwar immer von regulatorischen Vorgaben diktiert, kann aber – das gehört auch zur Wahrheit dazu – durchaus unterschiedlich wahrgenommen, ausgestaltet und genutzt werden: Als notwendiges Übel oder als Chance. Zur Unterstützung dieser Wandlungsprozesse braucht es Digital Health Manager. Diese verfügen über tiefgehende Kenntnisse der Versorgungsprozesse und über geeignete Methoden zur Identifikation und strukturierten Aufarbeitung von Problemstellungen. Auf der anderen Seite sind Digital Health Manager in der Lage, auch mit kreativen Methodensets, beispielsweise aus dem Bereich des Design Thinking, problemorientiert digitale Lösungen zu entwickeln und sie nachhaltig im Versorgungsalltag umzusetzen. Hierbei kennen sie die vielfältigen Besonderheiten der IT-Adoptionsprozesse im Gesundheitswesen, wozu auch die Erkenntnis gehört, dass Digitalisierung zumeist eher eine komplexe, soziotechnische Intervention als eine Plug & Play Lösung ist.
Die Medical School Hamburg (und die Schwesterhochschule in Berlin) hat es sich zum Ziel gesetzt, genau diese jungen Menschen auszubilden. Der Masterstudiengang Digital Health Management setzt daher auch konsequent auf Interdisziplinarität und Interprofessionalität.